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ASIEN/606: Kriegsverluste in Afghanistan schießen in die Höhe (SB)



Kriegsverluste in Afghanistan schießen in die Höhe

Obamas Eskalationsstrategie zum Scheitern verurteilt

In Afghanistan eskaliert zusehends der Krieg zwischen den NATO-Streitkräften und der neuen afghanischen Polizei und Armee auf der einen Seite und den Taliban und den mit ihnen verbündeten aufständischen Gruppen auf der anderen. Der Juli 2009 steht jetzt schon für die Streitkräfte der USA und ihrer Alliierten als der verlustreichste Monat des Krieges, seit sie im Oktober 2001 in Afghanistan einmarschiert sind, fest. Bis zum 15. Juli waren bereits 46 ausländische Soldaten - so viele wie in den jeweils beiden bisher verlustreichsten Monaten im Juni und August 2008 - gefallen. Der Grund ist die großangelegte Offensive, welche die NATO und ihre afghanischen Verbündeten seit Anfang Juli in der südlichen Provinz Helmand, einer Hochburg der Taliban, durchführen.

Am 10. Juli gab das Verteidigungsministerium in London den Verlust von acht Soldaten in Afghanistan bekannt. Das ist für einen Tag der höchste Verlust, den die britischen Streitkräfte seit Beginn des Krieges zu verzeichnen haben. Parallel dazu hat die Zahl der Soldaten, welche die Briten in Afghanistan verloren haben, erstmals die des Iraks - 185 zu 180 - übertroffen. Weil ein Großteil der Verluste bei den Briten auf Minen und Sprengfallen zurückgehen, welche die Taliban am Straßenrand legen, ist in Großbritannien ein heftiger Streit zwischen der Generalität und der politischen Führung ausgebrochen. Das Militär wirft der sozialdemokratischen Regierung um Premierminister Gordon Brown vor, der Armee nicht genügend Hubschrauber zur Verfügung zu stellen. Die jüngsten Verluste und der politische Streit um die richtige Ausrüstung der Truppe und die Finanzierbarkeit der Afghanistan-Mission hat in der britischen Öffentlichkeit die seit Jahren laufende Debatte um Sinn und Zweck des ganzen westlichen Befriedungsvorhabens am Hindukusch zusätzlich entfacht - zugunsten der Befürworter eines Rückzugs wohlgemerkt.

In den USA findet dieselbe Debatte zwar auch, aber nur auf einer sehr niedrigen Stufe, statt und zwar deshalb, weil der neue Präsident Barack Obama den Krieg in Afghanistan zu einem seiner wichtigsten politischen Anliegen erklärt hat und dabei ist, die Anzahl der amerikanischen Soldaten dort von mehr als 30.000 Mann auf fast 70.000 zu verdoppeln. Darüber hinaus hat Obama mit Stanley McCrystal einen neuen Oberkommandierenden nach Afghanistan entsandt, der von den Spezialstreitkräften kommt und dem nach jahrelangem Einsatz im Irak der Ruf als Verfechter wenig zimperlicher Methoden der Aufstandsbekämpfung vorauseilt. Nach außen hin tritt McChrystal dafür ein, daß die US-Streitkräfte größere Vorsicht walten lassen sollen, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu minimieren, sowie dafür, daß für den Erfolg der Afghanistan-Mission der Wiederaufbau und die Zusammenarbeit mit den einfachen Menschen mindestens so wichtig wie die Niederschlagung der Taliban sind. Ungeachtet aller Absichtserklärungen General McChrystals werden weiterhin mit trauriger Regelmäßigkeit Zivilisten durch Bomben- und Raketenangriffe der US-Luftwaffe getötet.

In einem ausführlichen und sehr empfehlensswerten Artikel, der am 14. Juli auf der Counterpunch-Website unter der Überschrift "Float Like a Butterfly, Sting Like a Bee - The Taliban Rope-a-Dope" erschienen ist, hat der frühere Pentagon-Analytiker Franklin Spinney die Kriegsstrategie von Obama, Verteidigungsminister Robert Gates, Generalstabschef Admiral Michael Mullen, dem CENTCOM-Oberbommandierenden General David Petraeus und McChrystal analysiert, sie mit den früheren Aufstandsbekämpfungsbemühungen der Franzosen in Algerien, der Amerikaner in Vietnam und der Sowjets in Afghanistan verglichen und ist zu dem Schluß gekommen, daß der Kampf der NATO gegen die Taliban und Konsorten zum Scheitern verurteilt ist. Selbst wenn die NATO den materiellen Aufwand erbringen könnte, um Afghanistan militärisch zu befrieden - was die Stationierung von mehreren hunderttausend Soldaten erforderlich machen würde -, wäre dies aus strategischer Sicht ein Eigentor, weil es die einheimische Bevölkerung nur noch mehr gegen die fremde Präsenz aufbringen würde.

Über kurz oder lang, glaubt Spinney, wird sich die schwerbewaffnete NATO nicht gegen die Guerilla-Taktiken und die Zermürbungstrategie der Taliban durchsetzen können. Ihm zufolge ist die Straßenmine die perfekte Waffe gegen die NATO, weil sie jede Fahrt - selbst wenn nichts passiert - für die Soldaten zur schweren Nervenbelastung macht. Hinzu kommt, daß jeder gelungene Anschlag die Kosten der Logistik und des Sicherheitsaufwands in die Höhe schießen läßt. Laut Spinney wird selbst der Versuch, den Transport von Soldaten und Kriegsmaterial soweit wie möglich mit Hubschraubern durchzuführen, die entscheidende Wende nicht herbeiführen, und er erinnert daran, daß die US-Streitkräfte im Vietnamkrieg mehr als 5000 Hubschrauber durch Gewehrbeschuß des Vietkongs beim Start oder Landeanflug verloren. Dazu schreibt er: "... indem die NATO den Nachschub der Truppen auf anfällige Hubschraubern und Senkrechtstarter-Propellerflugzeugen vom Typ V-22 konzentriert, geht sie das Risiko noch größerer Verluste ein, sobald die Taliban lernen, wie man diese unterstützenden Flugzeuge beim Anflug auf ihre Landeplätze abschießt, was sie mit Sicherheit tun werden."

Wie richtig Spinney mit seiner Einschätzung liegt, zeigen einige Meldungen der letzten Tagen aus dem Kriegsgebiet. Am 14. Juli starben sechs Ukrainern, die für die westlichen Koalitionsstreitkräfte arbeiteten, in der Provinz Helmand, als ihr russischer Hubschrauber, der einer Firma aus Moldawien gehörte, abgeschossen wurde. Am 18. Juli kamen zwei Angehörige der US-Luftwaffe ums Leben, als diese über Zentralafghanistan einen Kampfjet vom Typ F-15E, ihr erstes Flugzeug seit Beginn des Krieges, durch Absturz verlor. Am 19. Juli verloren sechzehn Zivilisten - allem Anschein nach Mitarbeiter irgendwelcher Auftragsfirmen des NATO-Militärs - ihr Leben, als ihr Hubschrauber, ein russischer Mi-8, kurz nach dem Start von einen Stützpunkt in der Nähe der Stadt Kandahar abstürzte. In den beiden letzten Fällen behauptet die NATO, daß Feindeinwirkung keine Rolle spielte.

20. Juli 2009