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ASIEN/622: Südwasiristan - Angebliche Entscheidungsschlacht (SB)


Angebliche Entscheidungsschlacht um Südwasiristan

Obama-Regierung setzt den Aktionismus der Bush-Administration fort


Nach tagelangen Luftangriffen, welche den Bodentruppen den Weg erleichtern sollten, rollte in der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober die lange erwartete Großoffensive der pakistanischen Streitkräfte gegen die Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) in ihrem schwer einnehmbaren, weil sehr gebirgigen Rückzugsgebiet Südwasiristan an. Insgesamt 60.000 Soldaten nehmen an der Operation teil - 30.000 im aktiven Einsatz und 30.000 in Reserve. Ihnen stehen schätzungsweise 10.000 Angehörige der pakistanischen Taliban und mit ihnen verbündete Stammeskrieger sowie rund eintausend ausländische Kämpfer gegenüber. Vor den schweren Kämpfen sind mehr als hunderttausend Menschen auf der Flucht. Nichtsdestotrotz stellt sich das, was als große Entscheidungsschlacht um Südwasiristan verkauft wird, in erster Linie als Kräftemessen dar.

Als Operationsziel hat die pakistanische Regierung ausgegeben, die arabischen und usbekischen Kämpfer in Südwasiristan zu töten oder ein für allemal zu vertreiben und die TTP soweit zu schwächen, daß diese nicht mehr dazu fähig sind, im ganzen Land Bombenanschläge und Überfälle durchzuführen. Nach dem Tod ihres Anführers Baitullah Mehsud durch einen Drohnenangriff der CIA am 5. August war es einige Wochen lang still um die TTP geworden. Am 4. Oktober präsentierten diese auf einer Pressekonferenz vor ausgesuchten Journalisten Hakimullah Mehsud als ihren neuen Chef und kündigten schwere Vergeltung für das Attentat auf Baitullah an. In den darauffolgenden Tagen kam es zu einer Reihe spektakulärer Aktionen - darunter einem Überfall mit Geiselnahme im Hauptquartier der pakistanischen Streitkräfte in Rawalpindi und einem koordinierten Angriff auf drei Polizeizentren in Lahore, der Hauptstadt der Provinz Punjab -, die mehr als 150 Menschen das Leben kosteten. Der Erfolg dieser Aktionen läßt erkennen, daß die TTP auf die Unterstützung und Sympathie nicht nur bei den Paschtunen in den an Afghanistan grenzenden Stammesgebieten, sondern bei nicht unerheblichen Teilen der Sicherheitskräfte und der Bevölkerung im restlichen Pakistan zählen können.

Tatsache ist, daß die meisten Pakistaner den Krieg der afghanischen Taliban gegen die NATO-Streitkräfte im Nachbarland als legitimen Unabhängigkeitskampf gegen ausländische Invasoren gutheißen und nicht einsehen, warum Islamabad denjenigen, die auf pakistanischer Seite diesen Kampf unterstützen, das Leben schwermachen sollte. Die meisten Pakistaner betrachten die CIA-Drohenangriffe, welche Taliban-Zielen in Pakistan gelten, jedoch auch viele Zivilisten töten, als illegal. Dies erklärt zum Beispiel den bemerkenswerten Umstand, daß der zweimalige Regierungschef und heutige Oppositionsführer Nawaz Sharif aus vorgeschobenen "Gesundheitsgründen" nicht zu jenem Treffen erschienen ist, auf dem am 16. Oktober im Büro sowie in Anwesenheit von Premierminister Yousuf Raza Gilani Generalstabschef Parvez Kayani sämtliche Vorsitzenden der im Bundesparlament zu Islamabad vertretenen Parteien über Umfang und Ziel der beginnenden Südwasiristan-Operation unterrichtete. Unter Berufung auf "informierte Quellen" hieß es in der pakistanischen Tageszeitung The News International (Jang) am 18. Oktober, der Chef der Pakistanischen Moslem-Liga (Nawaz) habe den Eindruck nicht erwecken wollen, daß er "persönlich und direkt den vollen Einsatz des Militärs gegen die Taliban" in Südwasiristan "gutheiße".

Das Nicht-Erscheinen des populärsten Politikers Pakistans bei einer so wichtigen Zusammenkunft bestätigt die These, daß die Regierung um Präsident Ali Asif Zardari in den Augen der eigenen Landsleute als Handlangerin der USA gilt. Viele Pakistaner und nicht wenige Mitglieder des Sicherheitsapparats halten den Schmusekurs Zardaris gegenüber Washingtons für falsch, denn während Pakistan in den "Antiterrorkrieg" immer mehr hineinschlittert, bekommt der Todfeind Indien von den USA eine Art Sonderbehandlung. Offensichtlich mißgönnen die Amerikaner Islamabad den Besitz der "islamischen" Atombombe und sehen andererseits nicht nur über die jahrelangen Proliferationsumtriebe der Inder hinweg, sondern belohnen diese mit der Lieferung ziviler Nukleartechnologie und modernster Rüstungsgüter.

In Pakistan verübelt man Obama, daß er seinen recht vernünftigen Ansatz aus dem letztjährigen Wahlkampf um die US-Präsidentschaft, dem Phänomen des militanten Islams am Hindukusch durch ein intensiveres Engagement Washingtons bei der Suche nach einer Lösung des ewigen Zankapfels Kaschmir beizukommen, nach dem Einzug ins Weiße Haus auf Druck Neu-Delhis ganz schnell fallengelassen hat. Statt dessen gab es die Af-Pak-Strategie, personifiziert durch den Sondergesandten Richard Holbrooke, mit der Pakistan die Schuld für das Scheitern der NATO-Besatzung in Afghanistan zugeschoben bekommen hat. Nicht umsonst hat vor wenigen Tagen Hakimullah Mehsud angeboten, keine Anschläge mehr in Pakistan durchzuführen, sondern den Dschihad statt dessen wieder in den indischen Teil Kaschmirs zu tragen, sollte sich Islamabad endlich aus der Umarmung Washingtons befreien. Doch dazu wird es nicht so schnell kommen. Auf Druck Washingtons findet die aktuelle Strafexpedition in Südwasiristan überhaupt statt. Am 19. Oktober trafen John Kerry, demokratischer Parteikollege Obamas und Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des US-Senats, und der CENTCOM-Oberbefehlshaber General David Petraeus in Islamabad ein, um sich von Premierminister Gilani und Generalstabschef Kayani über den Stand der Dinge informieren zu lassen.

Von der angelaufenen Offensive ist keinerlei Entscheidungschlacht, sondern lediglich trauriges Kriegstheater zu erwarten. Medienberichten zufolge hat die pakistanische Armee im Vorfeld der Operation Stillhalteabkommen mit den meisten wichtigen Taliban-Kommandeuren in Nord- und Südwasiristan, darunter Mullah Nasir, Hafiz Gul Bahadur und Moulvi Sadik Nur, dessen Männer in den südafghanischen Provinzen Khost und Paktika höchst aktiv sind, geschlossen. Also dürften sich die von Islamabad und Washington in Aussicht gestellten, positiven Auswirkungen des ganzen Blutvergießens in Südwasiristan auf die Lage in Afghanistan als Fata Morgana erweisen, zumal die vor einiger Zeit vom NATO-Oberbefehlshaber General Stanley McChrystal angeordnete Räumung mehrerer kleinerer Militärposten in der Nähe der Grenze zu Pakistan vielen Taliban-Kämpfern die Gelegenheit gegeben haben soll, sich rechtzeitig vor der Offensive ins nördliche Nachbarland abzusetzen.

Am 20. Oktober berichtete Syed Saleem Shahzad in der Asia Times Online, daß ein nicht geringer Teil der TTP-Kämpfer die Region bereits letzte Woche zusammen mit den ersten Kriegsflüchtlingen verlassen hat und daß Hakimullah Mehsud nur eine eiserne Garde von rund 1000 Todeswilligen zurückgelassen hat, die den pakistanischen Streitkräften einfach einen hohen Blutzoll abverlangen sollen, während die entkommenen Kämpfer den Guerillakrieg gegen die Zentralregierung in Islamabad anderweitig fortsetzen. Der Plan des neuen TTP-Chefs scheint aufzugehen. Am 20. Oktober brachten zwei Selbstmordattentäter in der Islamischen Universität Islamabad (ISI) sich selbst und vier Studenten ums Leben, während in Südwasiristan die Taliban-Kämpfer die am Tag davor von der Armee eingenommene Stadt Kotkai zurückeroberten.

Jahrelang hatte die Regierung von George W. Bush den damaligen pakistanischen Präsidenten General Pervez Musharraf gedrängt, den "terroristischen Sumpf" in Süd- und Nordwasiristan trockenzulegen. Dagegen hatte sich Musharraf deshalb gesträubt, weil er als Militär wußte, daß das in den pakistanischen Stammesgebieten, wo der paschtunische Ehrenkodex herrscht und die meisten Männer bewaffnet herumlaufen, schlicht nicht möglich ist. Vermutlich wissen dies die Herren Zardari, Gilani, Kayani, Obama, Holbrooke, McChrystal, Petraeus und Kerry auch. Man braucht nur einen Blick auf Bajaur oder das Swat- Tal zu werfen, wo die pakistanische Armee seit dem letzten Jahr mit brutalster Gewalt gegen die dortigen militanten Moslems vorgegangen ist, Verwüstung angerichtet hat und bis heute immer noch nicht richtig Herr der Lage ist.

Also hat man es in Südwasiristan mit einer Art blindem Aktionismus zu tun, der keine Probleme löst und statt dessen die Konflikte in der Region weiter verschärft. Aus dem wenigen, was Journalisten über die Lage in Südwasiristan erfahren, geht hervor, daß Luftwaffe und Artillerie fast wahllos bombardieren, viele Wohnhäuser zerstören und nicht wenige Zivilisten töten. Derzeit bricht am Hindukusch der Winter an. Viele der fast 200.000 Menschen, die vor den Kämpfen in Südwasiristan geflohen sind, werden ihn in Zelten in Flüchtingslagern verbringen müssen, und nicht wenige kleine Kinder werden deshalb sterben. In einem am 18. Oktober veröffentlichten Bericht hat Syed Shoaib Hasan, Korrespondent der BBC, der sich in der Stadt Dera Ismail Khan in der an Südwasiristan angrenzenden Nordwestfrontierprovinz (NWFP) aufhält, wo viele Flüchtlinge vorerst gestrandet sind, einen Journalistenkollegen aus der Region mit folgender Prophezeiung zitiert: "Die Armee kann so viele Militante töten, wie sie will. Die Regierung hat bereits jetzt die Saat für eine neue und noch mächtigere Welle, die sie ersetzen wird, gelegt."

21. Oktober 2009