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ASIEN/657: Cheonan-Vorfall - Nordkorea droht mit "totalem Krieg" (SB)


Cheonan-Vorfall - Nordkorea droht mit "totalem Krieg"

Südkoreanischer Untersuchungsbericht sorgt für Spannungen


In Ostasien schlägt der Untergang der südkoreanischen Korvette Cheonan, die am 26. März im Gelben Meer sank und 46 Matrosen mit in den Tod riß, tsunamihohe Wellen. In dem mit Spannung erwarteten, am 21. Mai veröffentlichten Untersuchungsbericht des südkoreanischen Verteidigungsministeriums wird als Ursache für das Unglück die Explosion eines nordkoreanischen Torpedos genannt. Die Nordkoreaner bestreiten ihrerseits jedwede Verwicklung in den Vorfall und haben mit einem "totalen Krieg" gedroht, sollte Südkorea als Vergeltung zu militärischen Maßnahmen greifen. Am 38. Breitengrad, der bekanntlich als gefährlichste Grenze der Welt gilt, herrscht Alarmzustand. So nahe ist man seit langem einem erneuten Ausbruch des 1953 nicht formell beendet, sondern lediglich durch einen Waffenstillstand unterbrochenen Koreakriegs nicht gewesen.

Der Tod der 46 Matrosen stellt die höchsten Verluste, welche die südkoreanischen Streitkräfte seit 57 Jahren zu beklagen haben, dar. Über die Umstände des Untergangs des 1200 Bruttoregistertonnen schweren Schiffs kursierten von Anfang an diverse Gerüchte, die von der katastrophal verlaufenen Bergungsarbeit und Informationspolitik der südkoreanischen Behörden angefacht wurden. Recht schnell sah sich daher die Regierung in Seoul durch die Klagen der Angehörigen der vermißten bzw. getöteten Matrosen in einer sehr ungünstigen Situation. Die Opferangehörigen, die sich in den ersten Stunden und Tagen nach der Katastrophe in den Medien zu Wort meldeten, wiesen auf Wartungsmängel beim Schiff selbst sowie auf widersprüchliche Angaben über seine Position, als es sank, hin. Es gab zum Beispiel die Spekulation, die Cheonan wäre infolge einer Kollision mit einem U-Boot der USA gesunken. Schließlich führten zum Zeitpunkt der Havarie die amerikanischen und südkoreanischen Streitkräfte in der Nähe der Seegrenze zu Nordkorea unter dem Titel Key Resolve/Foal Eagle umfangreiche Kriegsspiele durch. An dem Seemanöver nahmen mehrere hochmoderne Aegis-Lenkwaffenzerstörer der US-Marine und das südkoreanische Kriegsschiff Sejong der Große teil. Es gibt die Vermutung, daß auch U-Boote beider Marinen ebenfalls mit von der Partie waren.

Als nach der Bergung des Bugs der Cheonan am 24. April für alle Welt zu sehen war, daß das Schiff nicht einfach mit einem Loch im Rumpf gesunken, sondern auseinandergebrochen war, ergriff die südkoreanische Regierung die Flucht nach vorn und setzte die These von einem Angriff mit einem nordkoreanischen Torpedo als wahrscheinlichste Ursache in die Welt. Der Untersuchungsbericht des Verteidigungsministeriums in Seoul lieferte für diese These nachträglich die Begründung. Anhand der Untersuchung der inzwischen geborgenen Rumpfteile kommt man zu dem Schluß, daß die Korvette "infolge einer Druckwelle und einer Gasblase, die von der Explosion eines Torpedos unter Wasser produziert worden war, auseinandergerissen und versenkt wurde".

Der fragliche Torpedo soll aus Nordkorea stammen. Fünf Tage vor der Veröffentlichung des Berichts sollen am Meeresboden in der Nähe des Unglücksorts Teile eines Torpedopropellers gefunden worden sein, der eine nordkoreanische Seriennummer trug. Der nordkoreanische Torpedotyp, von dem der Propeller stammen soll, ähnelt einem, den die südkoreanischen Streitkräfte 2003 geborgen haben sollen. Auch die am Rumpf gefundenen Sprengstoffspuren sollen identisch sein mit jenem Explosivstoff, den besagter nordkoreanischer Torpedo enthielt. Diese Informationen sowie Geheimdiensterkenntnisse über ungewöhnliche Bewegungen nordkoreanischer U-Boote in den Tagen vor und nach dem Unglück bringt man in folgenden Sätzen zusammen:

Das Beweismaterial führt auf überwältigende Weise zu der Schlußfolgerung, daß der Torpedo von einem nordkoreanischen U-Boot abgefeuert wurde. ... Es gibt keine andere plausible Erklärung.

Die formelle Bezichtigung Nordkoreas durch Südkorea hat international zu großen Spannungen geführt. Die südkoreanische Regierung will die Sache vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bringen und dort eine Verurteilung des kommunistischen Bruderstaats im Norden erwirken. In diesem Zusammenhang wird China, der engste Verbündete Nordkoreas, von den USA unter massiven Druck gesetzt, sein Veto als ständiges Ratsmitglied nicht gegen die Resolution einzulegen. Währenddessen werden in der Presse hinsichtlich der Gründe, warum Nordkorea den Angriff durchgeführt habe, eifrig Theorien ausgebrütet. Die große Frage scheint zu sein, ob Kim Jong-il den Befehl gegeben hat oder nicht. Wollte die Regierung in Pjöngjang mit dem Angriff die Muskeln spielen lassen, um Zugeständnisse von Südkorea und den USA zu erzwingen, oder haben irgendwelche Militärs ohne das Wissen Kims den Angriff durchgeführt, um sich für die Beschießung eines nordkoreanischen Patrouillenboots im letzten November durch südkoreanische Schiffe zu rächen? Letztere Möglichkeit wird als Indiz ausgelegt, daß der erkrankte Kim eventuell sein "Regime" nicht mehr so fest im Griff hat.

Die Regierung in Pjöngjang hat die im Untersuchungsbericht enthaltenen Hinweise auf die nordkoreanische Verantwortung für den Tod von 48 der 104 Besatzungsmitglieder der Cheonan als "Fälschungen" abgetan und ihrerseits angeboten, ein Expertenteam nach Seoul zu schicken, um das Beweismaterial zu untersuchen. Offenbar ist das Vertrauen der Nordkoreaner in die Arbeit der Untersuchungskommission nicht besonders groß, stammten doch deren militärische und zivile Mitglieder entweder aus Südkorea oder den USA oder aus Staaten, die mit Amerika formell verbündet sind, wie Australien und Großbritannien, oder aus Schweden, dessen Elite derzeit eifrig auf einen NATO-Beitritt ihres Landes hinarbeitet.

Entgegen der allgemeinen Akzeptanz, mit der das Ergebnis der Untersuchung in den westlichen Medien aufgenommen wurde, gibt es gute Gründe für Zweifel an der These von der nordkoreanischen Urheberschaft für die Versenkung der Cheonan. Wie Professor Hazel Smith, Nordkorea-Expertin der Cranfield University, am 21. Mai in der britischen Tageszeitung Guardian zu bedenken gab, hätte Pjöngjang von einer Provokation in dieser Dimension nichts außer Nachteile. Darüber hinaus passe ein solches Hasardeurstück nicht zum vorsichtigem Verhalten der Nordkoreaner, so Smith. Die Tatsache, daß die chinesische Führung Kim Jong-il Anfang des Monates in Peking empfangen hat, deutet darauf hin, daß auch die Verantwortlichen in der Volksrepublik nicht von einer Beteiligung Nordkoreas am Untergang der Cheonan ausgehen. Wahrscheinlicher ist, daß es während des bereits erwähnten Seemanövers zu einem verheerenden Unglück gekommen ist, bei dem die Cheonan entweder fälschlicherweise von einem amerikanischen oder südkoreanischen Torpedo versenkt wurde. Es fällt leichter, sich vorzustellen, daß nach einem solchen tödlichen Mißgeschick die konservative südkoreanische Regierung von Präsident Lee Myung-bak bemüht wäre, Nordkorea zu bezichtigen, um den absehbaren politischen Schaden von sich abzuwenden, die Allianz mit den USA zu verteidigen und bei den Kommunalwahlen im Juni von den Wählern nicht hart bestraft zu werden, als daß die Nordkoreaner völlig aus dem Nichts heraus eine solche massive Verletzung des Waffenstillstands begingen.

21. Mai 2010