Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

ASIEN/670: Zustand der afghanischen Sicherheitskräfte offenbar desolat (SB)


Umlastung des Besatzungsregimes auf einheimische Schultern mißlungen


Der längste Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten konfrontiert die stärkste Militärmacht der Welt samt ihren Verbündeten mit der fundamentalen Widerspruchslage jedes Kampfs ausländischer Besatzungsstreitkräfte gegen einheimische Insurgenten. Gemäß der Doktrin, daß man nicht gegen eine feindliche Nation, sondern vielmehr eine Fraktion derselben streite, die den Bestand der betreffenden Gesellschaft im favorisierten Entwicklungssinn gefährde, sieht man sich zu einer propagandistischen und militärischen Differenzierung gezwungen, die sich schlechterdings nicht dauerhaft durchtragen läßt. Feindliche Kämpfer von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden, ist in einem Guerillakrieg insofern nicht möglich, als der bewaffnete Widerstand in beträchtlichen Teilen eben dieser Bevölkerung angehört. Der ideologische Kunstgriff, man bekämpfe in Afghanistan mit Al Kaida eine Fraktion ausländischer Provenienz, hat längst ausgedient.

Die Umkehrung der Prinzipien des Guerillakriegs in Gestalt der Counterinsurgency zielt auf die Isolation widerständischer Kräfte von der Zivilbevölkerung ab, was erfahrungsgemäß in massive Repression mündet, deren Ziel die Einschüchterung und gewaltsame Verhinderung jeder Unterstützung der Aufstandsbewegung ist. Das fördert jedoch zwangsläufig den Widerstand in der Bevölkerung, die sich in wachsenden Teilen dem Kampf gegen das verhaßte Besatzungsregime anschließt. Eine mögliche Folge ist der weitgehend wahllose Krieg mit der geballten Wucht überlegener Waffentechnologie, der diesen Prozeß nur noch beschleunigt und endgültig unumkehrbar macht, wie das beispielsweise in Vietnam der Fall war.

Erlegen sich die Besatzungsstreitkräfte jedoch eine gewisse Zurückhaltung in der Wahl ihrer Mittel auf, wie das mit der Reduzierung von Luftangriffen und des Einsatzes schwerer Waffen angestrebt wird, schwindet die militärische Überlegenheit dramatisch, da die westlichen Soldaten den taktischen Vorteilen der im eigenen Land kämpfenden Gegner nicht gewachsen sind. Dies führt unvermeidlich zu stagnierenden Erfolgen und insbesondere steigenden Verlusten, die wiederum an der Heimatfront die Kriegsmüdigkeit beschleunigen und damit den Feldzug auszuhebeln drohen. Da man das Engagement am Hindukusch ideologisch als Kampf für Demokratie, Freiheit und Fortschritt der Afghanen ausgewiesen hat, bricht dieses Konstrukt selbst in den Augen bürgerlicher Befürworter über kurz oder lang zusammen, wenn es zu Massakern an afghanischen Zivilisten und massenhaften Verlusten an eigenen Soldaten kommt.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann aus Sicht der Besatzungsmächte allenfalls in einem Übertrag der Zwangsmittel auf einheimische Kräfte bestehen, wozu eine Marionettenregierung wie die in Kabul allein nicht ausreicht, solange dieser die erforderliche militärische und polizeiliche Schlagkraft fehlt. Insofern stellt sich der Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte als unverzichtbarer Schritt zur Einleitung des Abzugs der Kampftruppen dar, der für die USA und ihre Bündnispartner mit Blick auf deren Einsatz an anderen Kriegsschauplätzen notwendig ist. Wenngleich man keineswegs vorhat, Afghanistan in absehbarer Zeit zu verlassen, soll die angestrebte Dauerpräsenz von den bereits errichteten oder geplanten großen Stützpunkten aus bewerkstelligt werden.

Die Ausbildung und Aufstockung der afghanischen Sicherheitskräfte erweist sich indessen als Achillesferse dieses strategischen Entwurfs, dessen prekärer Charakter nur noch unter Aufbietung aberwitziger Verschleierungsmanöver getarnt werden kann. Berücksichtigt man, daß die sukzessive Übergabe an einheimische Militär- und Polizeikräfte seit mehr als acht Kriegsjahren auf der Tagesordnung steht, drängt sich natürlich die Frage auf, welche Fortschritte auf diesem Gebiet inzwischen erzielt worden sind.

Der dieser Tage veröffentlichte Bericht eines für diesen Aspekt zuständigen Generalinspekteurs der US-Streitkräfte zeichnet ein düsteres Bild. Wie es darin heißt, weise das Verfahren, mit dem seit fünf Jahren die Einsatzbereitschaft der afghanischen Armee und Polizeikräfte ermittelt wird, gravierende Mängel auf. Daher existiere keine zuverlässige Methode, etwaige Fortschritte zu bemessen. Angesicht der gewaltigen Summe von 27 Milliarden Dollar, die seit 2002 für die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte aufgewendet wurden, ist das in der Tat eine Hiobsbotschaft. [1]

Der 50 Seiten umfassende Report bemängelt unter anderem, daß selbst die als bestausgebildet eingestuften afghanischen Einheiten nicht in der Lage seien, eigenständig zu operieren, und die Bewertung der Sicherheitskräfte in vielen Fällen deren Stand übertrieben hoch ansiedle. Drogenmißbrauch, Korruption, Analphabetismus und Zermürbung seien weit verbreitet, und außerdem gelten einige Landesteile als so gefährlich, daß man dort die Einsatzbereitschaft überhaupt nicht überprüfen konnte. Zwar habe es eine Polizeieinheit in der nördlichen Provinz Baghlan gegeben, die ab August 2008 allein auf sich gestellt operieren konnte. Militärkreise hätten jedoch im Februar eingeräumt, daß diese Einheit inzwischen kaum noch funktionsfähig sei, während ihr unmittelbares Umfeld von Aufständischen überrannt werde.

Arnold Fields, der das vom US-Kongreß eingesetzte Büro des Sondergeneralinspekteurs für den Aufbau in Afghanistan leitet, zog daraus das Resümee, daß schlichtweg kein verläßliches Prüfverfahren zur Verfügung stehe. Hochrangige US-Kommandeure in Afghanistan, die bereits im Frühjahr vorab einen Auszug aus dem Bericht erhalten hatten, veränderten daraufhin angeblich ihre Vorgehensweise. Die verantwortliche Autorin des Berichts, Emily Rachman, hält jedoch den gegenwärtigen Zeitpunkt für zu früh, um mögliche positive Auswirkungen mit Sicherheit feststellen zu können.

Generalleutnant William B. Caldwell IV, der für die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte verantwortlich ist, stellt die Ergebnisse des Berichts in Frage, die seines Erachtens überholt und ungenau sind. Wie er in einem Schreiben vom 10. Juni erklärt, das dem Bericht beigefügt wurde, beruhe dieser auf sechs Monate alten Daten und erkenne die Fortschritte nicht an, welche die Führung der nationalen Sicherheitskräfte bei der Ausräumung von Hindernissen für das Wachstum und die Professionalisierung von Armee und Polizei gemacht hätten. Nimmt man Caldwell beim Wort, so wagt selbst er nicht zu behaupten, daß es überprüfbare Fortschritte gibt. Zudem ist dem Report ein Schreiben des zweithöchsten US-Kommandeurs in Afghanistan, Generalleutnant David M. Rodriguez, beigefügt, der den Report als "korrekt" bezeichnet und versichert, man arbeite bereits daran, seine Empfehlungen umzusetzen und konsistentere, systematischere und strengere Evaluationen zu entwickeln.

Auf einen schlichten Begriff gebracht, kann derzeit also niemand sagen, wie es um den Stand der afghanischen Sicherheitskräfte bestellt ist. Um so erstaunlicher mutet daher die offizielle Erklärung des Pentagon an, wonach die Aufstockung der Armee, die bis Oktober 2010 134.000 Soldaten umfassen soll, ebenso voll im Plan liegt wie jene der Polizei, die in derselben Frist auf 109.000 Mann ausgebaut werden soll. Dem widersprechen Berichte, wonach sich viele Afghanen nur deshalb den Sicherheitskräften anschließen, weil sie sich und ihre Familie angesichts der dramatisch gestiegen Armut im Land nicht anders ernähren können, diese Tätigkeit jedoch nur kurzfristig ausüben. Zudem tragen sie im Unterschied zu den wesentlich besser geschützten Besatzungssoldaten die Hauptlast gegnerischer Angriffe.

Für die NATO ist dieser Monat der verlustreichste im neunjährigen Krieg, da 95 Soldaten und damit mehr als doppelt so viele wie vor Jahresfrist getötet worden sind. Den afghanischen Einheiten soll es noch schlimmer ergangen sein, wobei ihre Opferzahl wie in westlichen Berichten üblich gar nicht erst genannt wird. In der sprachakrobatischen Verklausulierung der Lage heißt es, diese habe sich in mehreren Provinzen verschlechtert, die bislang als problematisch, aber nicht regelrecht gewalttätig eingestuft worden waren. Als der afghanische Innenminister Munir Mangal im Parlament vor kurzem eine Lagebericht abgab, bediente er sich der Sprachregelung, daß nur acht Distrikte unter der Kontrolle der Taliban, jedoch 114 andere unter "hoher Bedrohung" stünden. [2] Während sich der erste Teil seiner Aussage aus Sicht der Besatzer noch positiv anhört, besagt der zweite, daß rund 30 Prozent des Landes weitgehend von Kräften des Widerstands beherrscht werden.

General David Petraeus, der als Nachfolger Stanley McChrystals in der Funktion des US-Oberbefehlshabers im Afghanistankrieg das Licht am Endes des Tunnels hervorzaubern soll, hat den Segen des zuständigen Streitkräfteausschusses im US-Senat erhalten, womit seiner Ernennung de facto nichts mehr im Weg steht. Petraeus wird die Strategie seines Vorgängers im wesentlichen fortsetzen, zumal sie ohnehin in weiten Teilen auf seinen eigenen Ideen beruht. Der aktuelle Plan sieht eine Aufstockung der Truppen vor, um die Sicherheitslage zu verbessern, während gleichzeitig der Waffeneinsatz beschränkt wird, um die Unterstützung der Bevölkerung vor Ort zu gewinnen. [3]

Der darin enthaltene Widerspruch wird mit der Behauptung vernebelt, Petraeus habe in seiner Zeit als Oberbefehlshaber der US-Truppen und ihrer Verbündeten im Irak in den Jahren 2007 und 2008 mit diesem Ansatz die Wende herbeigeführt. Diese Standarderklärung unterschlägt die besondere Situation im Zweistromland, wo die Besatzer große Fraktionen des Widerstands wie auch der Bevölkerung gegeneinander in Stellung bringen konnten, wie auch die massive Bestechung verschiedener Gruppierungen, die anhaltende Präsenz umfangreicher US-Truppen samt einem doppelt so großen Söldnerkontingent und nicht zuletzt die verheerende Lebens- und Sicherheitslage der Bevölkerung. Wollte man den Irak allen Ernstes als Beispiel für eine erfolgreiche Befriedung und Übergabe der Kontrolle an einheimische Akteure bezeichnen, so ist Afghanistan ein derart bitteres Schicksal nicht zu wünschen.

Indessen spricht gegenwärtig wenig dafür, daß es am Hindukusch so weit kommen wird. Der designierte Kommandeur der ausländischen Truppen in Afghanistan hat aufkeimenden Hoffnungen auf einen raschen Erfolg bereits vorab einen Dämpfer verpaßt. Wie General David Petraeus bei der Anhörung im Senat erklärte, würden nach seiner Einschätzung die schweren Kämpfe andauern und in den nächsten Monaten sogar an Intensität zunehmen. In gleichem Maße, wie die US-amerikanischen und anderen ausländischen Truppen Rückzugsgebiete der Taliban angriffen und deren Bewegungsfreiheit einschränkten, reagiere der Gegner. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei dürftig, und die Taliban seien zuversichtlich, die USA und ihre Verbündeten besiegen zu können. [4] Vor diesem Hintergrund muß man die Erklärung, man kenne den aktuellen Zustand der afghanischen Sicherheitskräfte nicht, wohl eher als Schutzbehauptung interpretieren, die das mißlungene Manöver der Umlastung des Regimes auf einheimische Schultern verschleiern soll.

Anmerkungen:

[1] Report Criticizes U.S. System for Evaluating Afghan Forces (29.06.10)
New York Times

[2] Quest to Neutralize Afghan Militants Is Showing Glimpses of Success, NATO Says (29.06.10)
New York Times

[3] Alte Strategie - neuer Oberbefehlshaber: Obama setzt auf US- General Petraeus (30.06.10)
http://www.stern.de/politik/ausland/alte-strategie-neuer-oberbefehlshaber-obama-setzt-auf-us-general-petraeus-1578450.html

[4] Petraeus dämpft Hoffnung auf raschen Afghanistan-Sieg (30.06.10)
http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE65T02520100630

30. Juni 2010