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ASIEN/736: Al Kaida greift pakistanischen Marinestützpunkt an (SB)


Al Kaida greift pakistanischen Marinestützpunkt an

Der Kampf um die Zukunft Pakistans nimmt an Härte zu


Mit dem Überfall auf das angebliche Versteck Osama Bin Ladens im pakistanischen Abbottabad kurz nach Mitternacht am 2. Mai Ortszeit, bei dem US-Elitesoldaten den Gründer des Al-Kaida-"Netzwerkes" erschossen haben wollen, ist der sogenannte "Antiterrorkrieg" Washingtons in eine neue und gefährlichere Phase eingetreten. Die Tatsache, daß auf die offizielle Liquidierung des mutmaßlichen Auftraggebers der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 keine Deeskalation des globalen Kampfes gegen den "Terror", sondern genau das Gegenteil erfolgte, spricht für die Vermutung, daß es hier niemals nur um Vergeltung für 9/11 gegangen ist, auch wenn man der verunsicherten Öffentlichkeit Amerikas das Gegenteil suggeriert. Jahrelang haben sich die USA damit begnügt, mutmaßliche Stellungen der Taliban und der Al Kaida im Grenzgebiet zu Afghanistan mit Raketen, die von CIA-Drohnen aus abgefeuert werden, zu beschießen. Der offiziell erste Kampfeinsatz amerikanischer Bodenstreitkräfte auf dem Staatsterritorium Pakistans läßt eine qualitative und quantitative Ausweitung des "Antiterrorkrieges" befürchten.

In einem Interview mit dem US-Fernsehnachrichtensender MSNBC warnte am 18. Mai der texanische Kongreßabgeordnete und republikanische Präsidentschaftskandidat Ron Paul vor einer umfassenden Militärintervention in Pakistan, die über diejenige in Afghanistan hinausginge. Paul, der sich im Kongreß schon länger als Kritiker der seines Erachtens verfehlten, weil überexpansiven Außen- und Sicherheitspolitik Washingtons hervortut, hat der Regierung Barack Obamas vorgeworfen, einen Bürgerkrieg in Pakistan ausgelöst zu haben, indem sie Islamabad zu militärischen Maßnahmen gegen diejenigen in der nordwestlichen Grenzregion massiv drängte, die den Kampf ihrer paschtunischen Stammesverwandten in Afghanistan gegen die ausländische NATO-Präsenz unterstützen. "Ich halte das ganze für eine Katastrophe, und ich glaube, wir werden nach Pakistan reingehen. Ich denke, das wird die nächste Besatzung sein, und es jagt mir Angst ein. Ich halte es für sinnlos. ... Es wird vermutlich nicht sehr erfolgreich sein", so Paul.

Die Befürchtungen des 73jährigen ehemaligen Geburtshelfers aus Texas sind nicht von der Hand zu weisen. Seit dem denkwürdigen Vorfall in Abbottabad, dessen tatsächlicher Verlauf vollkommen unklar ist, weil er der Geheimhaltung unterliegt - die Leiche Bin Ladens zum Beispiel, behaupten die Amerikaner, einfach so ins Meer gekippt zu haben, was natürlich niemand überprüfen kann -, werfen wutschäumende Politiker und Militärs der USA den Verbündeten in Pakistan offen vor, sie spielten mit Washington ein doppeltes Spiel, gewährten "Terroristen" Unterschlupf und hielten ihre Verbindungen zu den Dschihadisten von den Taliban, der Al Kaida, dem Hakkani-Netzwerk, dem Hisb-i-Islamisi Gulbuddin Hektmatyars, und wie sie alle heißen, aufrecht. In einem Interview mit der BBC, das am 22. Mai und damit am Vorabend von Obamas Europareise ausgestrahlt wurde, hat der US-Präsident das Ausheben des Bin-Laden-Verstecks in Abbottabad als einen "Weckruf" für die politische und militärische Führung Pakistans bezeichnet und von Islamabad und Rawalpindi verstärkte Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten und Streitkräften Amerikas verlangt, sonst würde sich das Land "einer erheblichen Destabilisierung" ausgesetzt sehen.

In Pakistan hatte die US-Militäroperation in Abbottabad, über die das pakistanische Militär angeblich erst im Nachhinein informiert wurde, Empörung ausgelöst. Bei einer Rede am 9. Mai vor dem Parlament in Islamabad hat Premierminister Syed Yousuf Gilani darauf aufmerksam gemacht, daß Pakistan in den letzten zehn Jahren die Hauptlast des amerikanischen "Antiterrorkrieges" trage, habe 5000 Soldaten - mehr als die Amerikaner in Afghanistan - und 30.000 Zivilisten verloren und zudem mehr Al-Kaida-"Terroristen", darunter den 9/11-Chefplaner Khalid Sheikh Mohammed, als jedes andere Land auf der Welt gefangengenommen.

In Anschluß an die Rede Gilanis haben die Abgeordneten des pakistanischen Parlaments am 14. Mai einstimmig eine Resolution verabschiedet, in der sie ein Ende der Drohnenangriffe der CIA im Grenzgebiet zu Afghanistan und ein energisches Vorgehen gegen jedwede Verletzung der Souveränität ihres Landes verlangten. Die US-Regierung hat jedoch zu erkennen gegeben, daß sie nicht gewillt ist, auf die Drohnenangriffe zu verzichten. Im bereits erwähnten BBC-Interview hat Obama sich vorbehalten, auch ohne vorherige Inkenntnissetzung der Regierung in Islamabad erneut US-Spezialstreitkräfte nach Pakistan hineinzuschicken, sollte von dort aus eine akute Bedrohung für die Sicherheit amerikanischer Bürger ausgehen.

Bekanntlich machen sich die Amerikaner seit Jahren Sorgen, die pakistanischen Atomwaffen könnten in die Hände entweder von den Taliban oder von "islamistisch" eingestellten, pakistanischen Militärs gelangen, während die Pakistaner ihrerseits glauben, Washington habe den Status Pakistans als Nuklearmacht niemals akzeptiert und suche zielstrebig nach einem Vorwand, um das Land um seine militärischen Nuklearkapazitäten zu bringen. Angeblich verfügt das in Florida beheimatete Joint Special Operations Command (JSOC) bereits über fertige Pläne, um im Ernstfall unter Einsatz von Spezialstreitkräften das pakistanische Atomwaffenarsenal unschädlich zu machen. Da das JSOC unter der Leitung von dem CIA-Chef Leon Panetta den Überfall in Abbottabad durchführte, hat dieses Ereignis das gegenseitige Mißtrauen gefährlich ansteigen lassen. Während im Kongreß und in politischen Sendungen im US-Fernsehen die Frage heiß diskutiert wird, ob Pakistans Sicherheitsapparat noch über den Weg zu trauen sei, hat Premierminister Gilani bei besagter Rede eine unmißverständliche Drohung für den Fall ausgesprochen, daß irgend jemand auf die Idee kommen sollte zu versuchen Pakistan seinen "strategischen Aktivposten", gemeint sind die Kernwaffen, zu entreißen. Sollte so etwas geschehen, behalte sich die Atommacht Pakistan "das Recht vor, mit voller Härte zurückzuschlagen", so der Regierungschef.

Die dauernden Vorbehalte und Unterstellungen aus Washington, denen man sich in Islamabad in letzter Zeit ausgesetzt sieht, scheinen die Pakistaner angesichts der bevorzugten Behandlung Indiens durch die USA regelrecht in die Arme Chinas zu treiben. Am 27. April, wenige Tage vor dem Attentat auf Bin Laden, berichtete das Wall Street Journal, Gilani habe elf Tage davor bei einem Besuch in Kabul gegenüber Präsident Hamid Karsai angeregt, Pakistan und Afghanistan sollten mit Hilfe des Nachbarlands China für eine Beilegung des Krieges beiderseits der Durand-Linie sorgen und damit die Amerikaner und ihre NATO-Verbündeten zu einem Rückzug aus der Region zwingen. In US-Politkreisen soll die Nachricht mit Mißfallen aufgenommen worden sein. Es gibt Spekulationen, daß die Operation von Abbottabad in erster Linie dazu dienen sollte, die Pakistaner wieder auf US-Kurs zu bringen.

Wäre das der Zweck gewesen, dann scheint es nicht richtig funktioniert zu haben. Dies wurde beim viertägigen Besuch, den Gilani und der pakistanische Verteidigungsminister Chaudhry Ahmad Mukhtar vom 17. bis zum 20. Mai in der Volksrepublik absolvierten, deutlich. Der Premierminister hat China am letzten Tag des Besuchs auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Amtskollegen Wen Jiabao als verläßlichsten und aufrichtigsten Partner Pakistans bezeichnet. Das Lob kommt nicht von ungefähr. Wie die Times of India, die britische Zeitschrift New Statesman und die pakistanische Zeitung Dawn berichten, soll der chinesische Außenminister Dai Bingguo im Rahmen des strategischen Dialogs zwischen der Volksrepublik und den Vereinigten Staaten, der am 9. und 10. Mai in Washington stattfand, der US-Chefdiplomatin Hillary Clinton "in unmißverständlichen Worten" erklärt haben, daß von Peking "jedweder Angriff auf Pakistan als Angriff auf China" aufgefaßt werde.

Zu der spektakulären Sicherheitsgarantie Chinas für Pakistan kommt, daß beim Besuch Gilanis und Mukhtars in der Volksrepublik die strategische Partnerschaft zwischen beiden Staaten eine merkliche Vertiefung erfahren hat. Es wurde beschlossen, die Produktion des chinesischen Kampfjets JF-17 in Pakistan dermaßen anzukurbeln, daß noch vor Ende dieses Jahres 50 Stück in den Dienst der pakistanischen Luftwaffe gestellt werden können. Darüber hinaus sollen die Pakistaner die Chinesen gebeten haben, den Betrieb des von ihnen zwischen 2002 und 2007 für rund 250 Millionen Dollar gebauten Tiefseehafens Gwajar in Belutschistan, von der derzeit damit befaßten, singapurischen Firma zu übernehmen, weil diese die in ihr gesetzten Erwartungen nicht erfüllt habe. Mit den Chinesen am Ruder sollte Gwajar zu einem der wichtigsten Handelsdrehkreuze Süd- und Zentralasiens werden. Über Straße und Schiene soll eine Landverbindung zwischen dem Arabischen Meer und dem Westen Chinas entstehen, welche die von der US-Marine kontrollierte Meeresroute durch das Südchinesische Meer, die Straße von Malakka und den Indischen Ozean mehr oder weniger überflüssig macht. Doch nicht nur das. Wie Verteidigungsminister Mukhtar am 23. Mai im Wall Street Journal zitiert wurde, hat Islamabad Peking auch angeboten, in Gwajar einen Stützpunkt der Volksmarine einzurichten.

Eine solche Installation der Chinesen kurz vor der Straße von Hormus und dem Persischen Golf würde die Containment-Strategie der USA und Indiens gegenüber China durchkreuzen. Wie der Zufall es will, kam es, kaum wurden die jüngsten Pläne Islamabads und Pekings zum Ausbau und zur Aufwertung Gwajars bekannt, auf dem Fliegerhorst Mehran der pakistanischen Marine nahe der Großstadt Karachi zu einem schweren Anschlag. Sechs Männer kletterten in der Nacht des 22. April über den Geländezaun und gingen als erstes zu den Hangarn, wo sie zwei von den USA Pakistan erst 2009 zu Verfügung gestellte Spionageflugzeugen vom Typ P-3C Orion mittels Panzerfäusten zerstörten. Bei dem anschließenden Feuergefecht, das ganze 18 Stunden dauerte, kamen zehn Militärangehörige ums Leben, während 20 weitere verletzt wurden. Von den sechs "Terroristen" starben vier im Kugelhagel bzw. bei Bombenexplosionen. Zwei sollen entkommen sein. Auch dieser Vorfall hat dazu beigetragen, die Frage nach der Sicherheit der pakistanischen Atomwaffen aufkommen zu lassen, befindet sich doch ein Teil von ihnen angeblich nur 24 Kilometer von Mehran entfernt auf dem Luftwaffenstützpunkt Nasroor.

Wenngleich sich telefonisch irgend jemand im Namen der pakistanischen Taliban zu dem Anschlag bekannte und ihn zur Vergeltung für die extralegale Hinrichtung Bin Ladens deklarierte, gibt es viele Pakistaner, die dahinter die Geheimdienste der USA und Indiens vermuten. Der Verdacht ist nicht so abwegig, wie es im ersten Moment erscheint. Tatsächlich deuten alle Angaben darauf hin, daß die Angreifer eine hohe militärische Ausbildung genossen und die Lage in Mehran bestens ausgekundschaftet hatten. Der Hinweis von Innenminister Rehman Malik auf den Film "Krieg der Sterne" hat in Pakistan für einige Irritationen gesorgt, ist jedoch verständlich, wenn man daraus entnimmt, daß die Angreifer wie die imperialen Sturmtruppen Darth Vaders schwer ausgerüstet waren und eventuell kugelsichere Westen trugen. Offenbar hatte man es hier weniger mit irgendwelchen paschtunischen Stammeskriegern in ihrer üblichen Tracht als mit Söldertypen zu tun.

In Verbindung mit der Affäre um den Amerikaner Raymond Davis, der am 27. Januar zwei Pakistaner auf offener Straße in Lahore erschoß, wurde bekannt, daß in den letzten Jahren schätzungsweise mehr als 1000 CIA-Agenten oder Mitarbeiter irgendwelcher US-Söldnerdienste nach Pakistan gekommen sind. In Pakistan kursieren Gerüchte, wonach diese Personen nicht nur Begleitschutz für US-Diplomaten und NATO-Nachschubkonvois stellen, sondern auch die terroristische Szene ausforschen und Leute zu gewalttätigen Handlungen animieren, um Pakistan zu destabilisieren. Bis heute hat es keine Erklärung gegeben, weshalb Davis, der auf massiven Druck Washingtons hin im März freigelassen wurde, seine beiden Beschatter vom pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) einfach erschoß und warum nach der Verhaftung die Polizei auf seinem Mobiltelefon Bilder von Militärinstallationen, Moscheen und religiösen Schulen sowie die Telefonnummer von bekannten "Islamisten" im Grenzgebiet zu Afghanistan fand.

Derzeit berichtet die westliche Presse genüßlich über den großen "Terrorprozeß" in Chicago, wo David Headley, der Chefplaner der Anschläge von 2008 in Mumbai, die 166 Menschen das Leben kosteten, der ganzen Welt von der Verantwortung des ISI für diesen gräßlichen Vorfall erzählt. Als Beweis dafür, daß Headley und seine Mittäter tatsächlich im Auftrag des ISI den Großanschlag in der indischen Metropole durchgeführt haben, hat man bisher lediglich die Aussage des pakistanisch-amerikanischen Drogendealers, der nachweislich jahrelang als Agent für die US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA unterwegs war und eventuell auch noch für die CIA tätig gewesen ist. Jedenfalls soll die CIA schon länger von der Zusammenarbeit zwischen Headley und der Lashkar-e-Taiba (L-e-T) gewußt haben. Dies berichtete am 16. Dezember 2009 die Times of India unter Verweis auf indische Geheimdienstkreisen.

Headley wäre auch nicht der erste Amerikaner, der sich auf dem Subkontinent "terroristisch" betätigt hätte. Es sei an den Fall des Kenneth Haywood erinnert, der einst als Computerprogrammierer in Mumbai arbeitete und von dessen Rechner laut Polizei die Bekenner-E-Mail für eine Reihe von blutigen Bombenanschlägen 2008 in der indischen Stadt Ahmedabad ausging. Die Explosionen dort gehörten zu einer Anzahl von Anschlägen, die von Hindu-Chauvinisten und Vertretern des indischen Militärgeheimdienstes verübt wurden und als das Werk irgendwelcher Moslemextremisten erscheinen sollten. Zwei Tage, bevor Haywood von der Polizei des Bundesstaats Maharashtra vernommen werden sollte, verließ er mit Frau und zwei Kindern per Passagiermaschine Indien - und das, obwohl gegen ihn als "Terrorverdächtiger" ein Ausreiseverbot vorlag.

14. Mai 2011