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ASIEN/740: Anschlag in Kabul konterkariert Fahrplan des Übergangs (SB)


Propaganda der Besatzungsmächte verschleiert Realität des Krieges


Die westlichen Besatzungsmächte sehen sich in Afghanistan in einen Guerillakrieg verwickelt, den ausländische Streitkräfte erfahrungsgemäß nicht gewinnen können. Allein die Übergabe der Waffengewalt an ein einheimisches Kollaborationsregime, das die eigene Bevölkerung massiv unterdrückt, könnte den bewaffneten Widerstand unter Umständen in Schach halten oder sogar in die Knie zwingen. Davon kann jedoch im Krieg am Hindukusch nicht die Rede sein, da der Einfluß der Marionettenregierung Präsident Hamid Karsais kaum über die Hauptstadt Kabul hinausreicht. Je mehr Entbehrung, Erniedrigung und Opfer die Präsenz fremder Truppen der Bevölkerung abverlangt, desto unvermeidlicher greift der Wunsch um sich, die Okkupationsarmee loszuwerden. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Propaganda der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, der Truppenabzug gehe Hand in Hand mit der Übergabe der Sicherheitsaufgaben an die einheimische Armee und Polizei, als Kampagne der Verschleierung insbesondere an der kriegsmüden Heimatfront der beteiligten NATO-Staaten.

Der aktuelle Anschlag auf das Luxushotel "Intercontinental" in Kabul hätte die Sprachregelung der Besatzer nicht deutlicher konterkarieren können. Am Freitag beginnt die erste Phase des Truppenabzugs und der damit verbundenen Übergabe erster Provinzen in die Obhut der afghanischen Sicherheitskräfte. Erst vor wenigen Tagen hatten sich Afghanistanbeauftragte mehrerer Staaten, darunter der Deutsche Michael Steiner und der US-Amerikaner Marc Grossman, in der Hauptstadt aufgehalten. Am heutigen Mittwoch sollte eine große Konferenz zur Übergabe der Provinzen beginnen, deren Teilnehmer überwiegend im "Intercontinental" untergebracht waren. [1] Die Angreifer setzten mithin ein unübersehbares Zeichen, wie es um die Sicherheit in Kabul, noch dazu an einem derart sensiblen Ort wie diesem Tagungshotel, wie auch um die vielbeschworene Übergangsphase und die angeblich eingeleiteten Friedensgespräche tatsächlich bestellt ist.

Die Aufständischen haben mit ihrem Anschlag das Pilotprojekt der Übergabe aufs Korn genommen, da die Hauptstadt schon seit drei Jahren formal unter der Sicherheitsverantwortung der Regierung Karsai steht. Allerdings verblieb die Internationale Schutztruppe (ISAF) mit ihren militärischen Einrichtungen vor Ort, die niemand ernsthaft annehmen konnte, daß die afghanischen Sicherheitskräfte handlungsfähig sind. Wenngleich der neue ISAF-Sprecher, Bundeswehrgeneral Carsten Jacobsen, die Rolle der afghanischen Sicherheitskräfte während des Angriffs lobte und die eigene als "unterstützend" herunterspielte, spricht doch alles dafür, daß die Afghanen ihren eigenen Zuständigkeitsbereich keineswegs im Griff haben.

Seit einem Anschlag im November 2003, als eine Bombe die Lobby in Schutt und Asche legte, galt das "Intercontinental" als vergleichsweise gut gesichert. Angesichts seiner Höhenlage ist das Hotel ohnehin ein relativ leicht abzuschirmender Komplex. Die neun Angreifer mit Sprengwesten und Schußwaffen mußten in ihrem Fahrzeug zunächst einen Kontrollposten passieren, um dann einen halben Kilometer weiter abermals einen schwerbewachten Eingang durchqueren. Nun ist die Rede von einer "Sicherheitslücke", die möglicherweise durch Renovierungsarbeiten entstanden sei.

Acht oder neun Angreifer verteilten sich schießend über das Hotel, mindestens zwei der Männer sprengten sich selbst in die Luft. Die Kämpfe dauerten mehr als fünf Stunden und endeten erst, als die afghanischen Behörden einen Kampfhubschrauber der ISAF anforderten, der auf dem Dach verschanzte Angreifer unter Feuer nahm. Ein letzter Angreifer brachte seinen Sprengstoff zur Explosion, als die Sicherheitskräfte das Gebäude abschließend zur Kontrolle durchkämmen. Neben den Angreifern starben in dieser Nacht offiziellen Angaben zufolge zwei Polizisten und neun Zivilisten, bei denen es sich um afghanische Angestellte des Hotels sowie einen türkischen und einen spanischen Staatsbürger handelt. [2] Trotz des Anschlags soll die zweitägige Konferenz zur schrittweisen Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Behörden wie geplant stattfinden. Sie wird in einem Regierungsgebäude im Zentrum Kabuls unter zusätzlich verschärften Vorkehrungen abgehalten. [3]

Daß sich die Lage in der Hauptstadt in letzter Zeit etwas beruhigt zu haben schien, lag offenbar nicht zuletzt an den massiv verschärften Kontrollen, der einen normalen Alltag vor allem für Ausländer kaum noch möglich machten. Viele internationale Organisationen und Botschaften meiden die bekannten Hotels und bringen ihre Mitarbeiter und Gäste in diskreteren Herbergen unter, die unauffälliger und leichter abzusichern sind. Dennoch kam es zum spektakulären Angriff auf ein kleines Gasthaus, bei dem mehrere als Polizisten verkleidete Angreifer fünf UN-Mitarbeiter töteten. Dieser Zwischenfall führte dazu, daß die Vereinten Nationen etwa 600 ihrer örtlichen Mitarbeiter in Nachbarstaaten Afghanistans verlegten.

Die Darstellung der US-Militärs und der ISAF, man habe im Süden des Landes bedeutende Geländegewinne erzielt und verwickle den stark geschwächten Gegner im Osten in Rückzugsgefechte, hält die Fiktion eines Krieges gegen einen landesfremden Feind aufrecht, den man aus Afghanistan vertreiben könne. Die Doktrin, es gelte "die Taliban" zu besiegen, um das Land zu befreien, ist der Rechtfertigung von Angriffskrieg und Besatzungsregime geschuldet, die sich gegen die afghanische Bevölkerung richten. Wenn die Aufständischen, die man in einem Landesteil entscheidend geschlagen zu haben glaubt, daraufhin in einem anderen stärker in Erscheinung treten, ist das zum einen auf die Strategie des Widerstands zurückzuführen, frontale Auseinandersetzungen mit überlegenen Kräften zu vermeiden und flexibel zu operieren. Zum anderen rekrutiert sich der Aufstand gegen die Besatzungsmächte zu einem erheblichen Teil aus der einheimischen Bevölkerung, weshalb er weder entscheidend zu schwächen, noch aus dem Land zu verdrängen ist.

Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilte den Angriff in Kabul, sprach sich aber dennoch dafür aus, den Fahrplan zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung einzuhalten. Daß sich Kriege nach Fahrplänen vom Zaun brechen und wieder beenden lassen, gehört zu den zeitgenössischen Mythen einer Herrschaftssicherung, die sich den legalistischen Mantel eines weltweiten Kreuzzugs im Namen westlicher Werte umhängt. Die Absichten der Besatzungsmächte und der Verlauf der Kämpfe in Afghanistan lassen sich mit solchen Propagandakonstrukten nicht zur Deckung bringen.

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/artikel/C31325/anschlag-auf-intercontinental-in-kabul-ein-schlag-gegen-das-uebergabe-pilotprojekt-30451122.html

[2] http://www.welt.deh/politik/ausland/article13458384/Terror-Nacht-zerstoert-Kabuls-Hoffnung-auf-Frieden.html

[3] http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE75S0GL20110629

29. Juni 2011