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ASIEN/766: Furioser Auftakt der "Frühlingsoffensive" der Taliban (SB)


Furioser Auftakt der "Frühlingsoffensive" der Taliban

Aufständische lehnen ausländische Militärpräsenz weiterhin ab



Der Auftakt der diesjährigen "Frühlingsoffensive" der Taliban in Afghanistan hat in seiner Heftigkeit viele Fragen bezüglich der Pläne der NATO aufgeworfen. Am 15. April starteten die Aufständischen in Kabul den schwersten Angriff seit dem Einmarsch ausländischer Truppen Ende 2001 und griffen fast zeitgleich afghanische Regierungsgebäude und Militäreinrichtungen in den drei östlichen Provinzen Jalalabad, Logar und Paktia an. Die Kämpfe gingen über mehrere Stunden. In Kabul konnte der letzte Angreifer, offenbar das Mitglied eines Himmelfahrtskommandos, erst am 16. April ausgeschaltet und der Alarmzustand, der das öffentliche Leben in der afghanischen Hauptstadt 17‍ ‍Stunden lang lahmgelegt hatte, aufgehoben werden. Insgesamt kamen nach offiziellen Angaben bei der koordinierten Aktion 36 Aufständische, elf Angehörige der afghanischen Armee und Polizei sowie vier Zivilisten ums Leben.

Ohne Hilfe aus dem afghanischen Sicherheitsapparat hätten die Taliban-Kämpfer vermutlich nicht in das Diplomatenviertel Kabuls eindringen können, um dort die Botschaften der USA, Deutschlands und Großbritanniens mit Kugeln und Granaten unter Beschuß zu nehmen. Das gleiche gilt für den parallel ablaufenden Angriff auf das Parlament im Westen der Stadt sowie auf das NATO-Hauptquartier im Osten. Darüber hinaus war der Einsatz westlicher Kampfhubschrauber erforderlich, um den Angriff der Taliban zu beenden. Beide Umstände lassen Zweifel aufkommen hinsichtlich der Realisierbarkeit des erklärten NATO-Ziels, bis 2014 die Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan an die einheimischen Sicherheitskräfte abzugeben.

Die Tatsache, daß afghanische Polizisten und Soldaten in dem ganzen Tohuwabohu eigenständig 35 Menschen, die in einem von fünf Taliban-Kämpfern besetzten Gebäude als Geiseln genommen worden waren, unversehrt befreien, die Ermordung von Vizepräsident Karim Khalili verhindern und seine vier Attentäter festnehmen konnten, ist zwar ein kleiner Erfolg, aber insgesamt nur ein schwacher Trost. Daß bei der ganzen Aktion kein westlicher Diplomat, Soldat oder Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ums Leben gekommen ist, spricht für den Festungscharakter der ausländischen Einrichtungen in Kabul, der wiederum auf die generelle Ablehnung der westlichen Militärpräsenz in Afghanistan schließen läßt.

Am 8. April, exakt eine Woche vor Beginn der "Frühlingsoffensive" der Taliban, hatten der afghanische Verteidigungsminister Abdul Rahim Wardak und der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Afghanistan, General John Allen, ein Abkommen über die neuen Einsatzregeln für die Durchführung nächtlicher Razzien unterzeichnet. Demnach müssen solche Operationen stets unter der Leitung afghanischer Stellen erfolgen und von afghanischen Polizisten und Soldaten durchgeführt werden. Die Spezialstreitkräfte der USA geben den afghanischen Kameraden, die in die Häuser eindringen und verdächtige Personen festnehmen, lediglich Rückendeckung. Nach einer kurzen Befragung der Verhafteten durch Offiziere der US-Armee oder Agenten der CIA gehen die mutmaßlichen "Terroristen" in die Obhut der afghanischen Justizbehörden über.

Wenn es nach dem Willen Washingtons geht, sollen auf dem NATO-Gipfel in der zweiten Mai-Hälfte in Chicago Präsident Barack Obama und sein afghanischer Amtskollege Hamid Karsai ein neues Abkommen über die "strategische Partnerschaft" beider Länder paraphieren. Presseberichten zufolge sieht das Abkommen den Verbleib mehrerer Tausend amerikanischer Soldaten und die Stationierung von Kampfjets, Bombenflugzeugen und Aufklärungsmaschinen der USA in Afghanistan weit über den vermeintlichen Abzugstermin 2014 vor. Nicht zufällig erklärte Obamas Sondergesandter für Afghanistan und Pakistan, Marc Grossman, am 10.‍ ‍April bei einer Rede im U. S. Institute of Peace in Washington D. C., mit der Unterzeichnung des Abkommens würden "die Leute einsehen müssen, daß es bis auf weiteres eine amerikanische Präsenz in Afghanistan geben" werde. "Also werden sich die Afghanen, die Taliban, die Region, einschließlich des Irans, die Frage stellen müssen: 'Nun, wie reagiere ich darauf?'", so Grossman.

In einem Artikel, der am 14. April bei der Asia Times Online unter der Überschrift "Karzai ain't walking into the sunset" veröffentlicht wurde, hat der langjährige indische Diplomat M. K. Bhadrakumar Grossman "Triumphalismus" vorgeworfen. Der Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen. Seit der ehemalige US-Botschafter in Ankara, der während der Regierung Bill Clintons in den USA eine führende Rolle bei der Zerschlagung Jugoslawiens spielte, Ende 2010 nach dem plötzlichen Tod von Richard Holbrooke dessen Aufgaben als Af-Pak-Koordinator übernommen hat, befinden sich die Beziehungen zwischen Washington und Islamabad im Sturzflug. Weil sich Pentagon und Weißes Haus beharrlich weigern, sich für den Tod von 24 pakistanischen Soldaten zu entschuldigen, die Ende November 2011 beim "irrtümlichen" Beschuß zweier Grenzposten durch die US-Luftwaffe getötet wurden, ist der von Islamabad ausgesetzte Transport von Nachschub für die NATO-Streitkräfte in Afghanistan von der Hafenstadt Karatschi auf dem Landweg über das Territorium Pakistans immer noch nicht wieder aufgenommen worden. Eine rasche Beilegung des Streits, für die das pakistanische Bundesparlament vor wenigen Tagen die Einstellung der CIA-Angriffe auf Ziele in Grenznähe zu Afghanistan zur Bedingung machte, ist nicht in Sicht.

Es dürfte kein Zufall sein, daß es parallel zur koordinierten Taliban-Operation am 15. April in Kabul, Jalalabad, Logar und Paktia auf der anderen Seite der Durand-Linie im Bezirk Bannu zum größten Gefängnisausbruch in der Geschichte Pakistans gekommen ist. Dutzende schwerbewaffnete Mitglieder der pakistanischen Taliban haben zuerst die Tore des Zentralgefängnisses von Bannu mit Panzerfäusten zerstört, um anschließend in den Komplex einzudringen und 384 von 944 Insassen zu befreien. Bei den Befreiten handelte es sich zumeist um Islamisten. Unter ihnen befand sich der ehemalige pakistanische Luftwaffenoffizier Adnan Rashid, der wegen seiner Beteiligung an einem vereitelten Attentatsversuch 2003 auf den damaligen pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf hinter Gittern saß.

Ende 2009, als die US-Generalität ihren neuen und militärisch völlig unerfahrenen Oberbefehlshaber Obama zu einer kräftigen Aufstockung der US-Truppenstärke in Afghanistan überredete, tat sie dies mit dem Versprechen, innerhalb von zwei Jahren die Taliban "an den Verhandlungstisch" zu bombardieren. Heute jedoch ist Washington weiter denn je vom ambitionierten Ziel, die Männer um Mullah Muhammed Omar zur Einsicht in die Notwendigkeit einer dauerhaften amerikanischen Militärpräsenz am Hindukusch zu zwingen, entfernt. Das haben die Taliban mit dem spektakulären Beginn ihrer diesjährigen "Frühlingsoffensive" mehr als deutlich gemacht.

17.‍ ‍April 2012