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ASIEN/838: Taliban in Afghanistan weiter auf dem Vormarsch (SB)


Taliban in Afghanistan weiter auf dem Vormarsch

Kein Ende des fast 15 Jahre andauernden Afghanistankriegs in Sicht


Mit der Liquidierung von Taliban-Chef Mullah Aktar Muhammad Mansur am 21. Mai im pakistanischen Belutschistan per CIA-Drohnenangriff haben die USA eine seit 2014 zusammen mit Afghanistan, Pakistan und der Volksrepublik China laufende Initiative zur Beendigung des Krieges am Hindukusch einseitig aufgekündigt. Am 10. Juni hat das Weiße Haus die Einsatzregeln in Afghanistan gelockert und den US-Militärkommandeuren dort die Erlaubnis erteilt, sich nicht mehr auf Terroristenjagd sowie Ausbildung und Beratung der afghanischen Streitkräfte beschränken zu müssen, sondern nach eigenem Ermessen mit Bodentruppen oder Luftstreitkräften der USA in die laufenden Kämpfe einzugreifen. Zu diesem Zweck hat Präsident Barack Obama am 6. Juli, unmittelbar vor seinem Flug zum NATO-Gipfel in Warschau, die laufende Reduzierung der US-Militärpräsenz in Afghanistan gestoppt. Bis Ende von Obamas zweiter Amtszeit im Januar werden 8400 US-Soldaten in Afghanistan stationiert bleiben, die mit 6000 Kameraden aus den anderen NATO-Staaten zusammenarbeiten werden. Über eine weitere Aufstockung der amerikanischen Truppen in Afghanistan soll Obamas Nachfolger entscheiden, der aller Voraussicht nach Kriegsfalke Hillary Clinton sein wird.

Infolge von Washingtons Kursumschwung fliegt die US-Luftwaffe nach Angaben des Pentagons inzwischen deutlich mehr Luftangriffe gegen Stellungen der Taliban sowie der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS), der spätestens seit 2015 in Afghanistan Fuß zu fassen versucht. Die Taliban zeigen sich jedoch wenig beeindruckt von der Tötung Mullah Mansurs und dem erstarkten Kampfeswillen des Gegners. Die Lage in Afghanistan bleibt aus Sicht der NATO weiterhin "prekär". Die Taliban kontrollieren soviel Territorium wie seit dem Sturz ihrer Regierung in Kabul Ende 2001 nicht mehr. Und es kommen immer mehr Dörfer, Bezirke und Städte hinzu. Seit Wochen läuft in Helmand eine große Taliban-Offensive. Diese südöstliche Provinz droht in ihrer Gesamtheit an die früheren Anhänger des 2013 verstorbenen Taliban-Gründers Mullah Mohammad Omar zu fallen.

Nach größeren Geländegewinnen haben die Taliban Laschkar Gah, die Hauptstadt Helmands, praktisch umzingelt. Tausende Zivilisten sind vor den schweren Kämpfen auf der Flucht. Die Regierung in Kabul hat zusätzliche Truppen nach Laschkar Gah geschickt, um die Stadt zu halten. In einem Bericht, der am 12. August beim Londoner Guardian erschienen ist, gab Korrespondent Sune Engel Rasmussen zwei Gründe für die jüngsten Erfolge der Taliban in Helmand an: erstens würden die Gotteskrieger eine neue Kommandotruppe aus mehreren hundert Elitekämpfern einsetzen; zweitens seien Gruppen afghanischer Soldaten "in der Hitze des Gefechts" zu den Taliban übergelaufen. Hinzu kommt, daß die auf Papier angegebene Truppenstärke der afghanischen Streitkräfte in Helmand mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. 40 Prozent der Soldaten existieren nicht. Dasselbe Phänomen - aufgeblähte Truppenregister, damit korrupte Beamten den Sold nicht vorhandener Militärangehörige einkassieren können - trug bekanntlich vor zwei Jahren zum Fall Mossuls, der zweitgrößten irakischen Stadt, an den IS bei.

Wie vor diesem Hintergrund die NATO den Krieg in Afghanistan gewinnen will, bleibt schleierhaft. Die USA sind nicht einmal in der Lage, für die Sicherheit derjenigen Afghanen, die mit ihnen kooperieren, zu sorgen. Am 10. August berichtete die New York Times unter der Überschrift "'They Will Kill US': Afghan Translators Plead for Delayed U. S. Visas" vom Schicksal mehrerer tausend afghanischer Dolmetscher, denen gegenüber das Versprechen, in die USA mit ihren Familien ausreisen zu dürfen, nicht eingehalten wird und die nun um ihr Leben bangen. In dem Bericht wurde der 29jährige Mohammad Nasim Hashimyar, der früher den US-Spezialstreitkräften als Dolmetscher zur Seite gestanden hat und sich nun aus Angst vor einem Attentat durch die Taliban nicht mehr aus seinem Haus traut, mit den Worten zitiert: "Ich wünsche, ich hätte niemals für sie gearbeitet. Ich habe mein Leben zerstört."

Die Präsenz westlicher Truppen in Afghanistan, welche die Taliban kategorisch ablehnen, sorgt dafür, daß das Land niemals zur Ruhe kommen wird. Inzwischen kommt für die NATO zur militärischen Krise in Afghanistan eine politische hinzu. Am 11. August hat Abdullah Abdullah, quasi der Regierungschef Afghanistans, Präsident Ashraf Ghani als seines Amtes unfähig bezeichnet. Damit ist der politische Kompromiß, mit dem 2014 US-Außenminister John Kerry den wochenlangen Streit um den Ausgang der afghanischen Präsidentenwahl zwischen Ghani und Abdullah beigelegt hatte, hinfällig. Wenn man bedenkt, daß eine dauerhafte Verbesserung der Verhältnisse in Afghanistan nur politisch und nicht militärisch zu erreichen ist, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die USA und ihre NATO-Partner kein ernsthaftes Interesse an einer Beendigung des inzwischen fast 15 Jahre währenden Konfliktes haben. Eher sieht es so aus, als würden Afghanistan und seine Bevölkerung auf dem Altar geopolitischer Allmachtsfantasien - allen voran der Wunsch der USA nach Eindämmung Rußlands und Chinas - einfach geopfert.

13. August 2016


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