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ASIEN/839: Im indischen Kaschmir tobt wieder der Aufstand (SB)


Im indischen Kaschmir tobt wieder der Aufstand

In Kaschmir setzt Neu-Delhi auf Unterdrückung und sonst gar nichts


Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, deren Interesse an außenpolitischen Themen von den Medien durch den US- Präsidentschaftswahlkampf Hillary Clinton gegen Donald Trump, den gescheiterten Putsch in der Türkei und dessen Folgen, den verheerenden Krieg in Syrien sowie die Sommerolympiade in Rio weitgehend gedeckt wird, befindet sich die Bevölkerung im indischen Teil Kaschmirs erneut im Aufstand gegen die Zentralregierung in Neu-Delhi. Diese hat über die Unruheprovinz den Ausnahmezustand verhängt und die dort stationierten 500.000 Soldaten in Alarmbereitschaft versetzt. Seit Beginn der Proteste Anfang Juli sind mindestens 66 Zivilisten durch Armee und Polizei getötet worden. Die Vorgänge in Kaschmir sind nicht nur wegen des großen Unrechts von Brisanz, das die mehrheitlich muslimische Bevölkerung dort seit Jahrzehnten erfährt, sondern auch, weil der Konflikt am Fuße der Himalaya von einem Moment auf den nächsten in einen Atomkrieg zwischen den Dauerrivalen Indien und Pakistan münden kann, dessen Auswirkungen auf das globale Wetter katastrophal wäre.

Der Kaschmir-Konflikt geht auf die Teilung Britisch-Indiens in eine muslimisch dominierte Islamische Republik Pakistan und eine hinduistisch geprägte Republik Indien im Jahr 1947 zurück. Wäre es nach dem Willen der Bevölkerung Kaschmirs gegangen, hätte man das damalige Fürstentum Jammu und Kaschmir beim Abzug der Briten Pakistan zugeschlagen. Doch der damalige Maharadscha Hari Singh, ein Sikh, entschied sich selbstherrlich für den Anschluß an Indien. Nach Bekanntwerden des umstrittenen Beschlusses versuchten die neuen Streitkräfte Indiens und Pakistans, soviel von Jammu und Kaschmir zu besetzen, wie sie konnten. Wo die beiden Armeen aufeinandertrafen, verläuft die sogenannte Line of Control (LoC), die bis heute de facto als Staatsgrenze gilt.

1948 haben die Vereinten Nationen die Durchführung einer Volksbefragung über die Staatszugehörigkeit Jammu und Kaschmirs angeregt - in dem südlich von Kaschmir liegenden Jammu stellen die Hindus die Mehrheit. Dies hat die Regierung in Neu-Delhi verweigert und statt dessen den südöstlich der LoC liegenden, größten Teil von Kaschmir zusammen mit Jammu in die indische Bundesrepublik integriert. Nordwestlich der LoC gehört die Autonomieregion "Asad Kaschmir" oder "freies Kaschmir" zu Pakistan. Dreimal - 1965, 1971 und 1999 - haben Indien und Pakistan Krieg um Kaschmir geführt, ohne daß es zu einer nennenswerten Veränderung des Verlaufs der LoC gekommen ist.

Seit 1989 liefern sich muslimische Aufständische, die angeblich vom pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence Directorate unterstützt werden, mit den indischen Sicherheitskräften in Jammu und Kaschmir einen "Konflikt niedriger Intensität", der bereits zweimal - nach Selbstmordanschlägen im Dezember 2001 auf das Parlament in Neu-Delhi und im November 2008 auf mehrere Prachtgebäude in Mumbai - die Streitkräfte Indiens und Pakistans an den Rand eines Nuklearkrieges gebracht hat. Entgegen dem von Islamabad erzeugten Eindruck wollen die meisten Menschen in Kaschmir jedoch einen eigenständigen Staat und keinen Anschluß an Pakistan; im südlicher gelegenen Jammu will die Mehrheit bei Indien bleiben. Anschläge und Überfälle der Separatisten in Jammu und Kaschmir und vor allem die Repressalien und Vergeltungsaktionen der indischen Ordnungskräfte haben im Verlauf der letzten rund 35 Jahre etwa 68.000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, das Leben gekostet.

Immer wieder flammen die Proteste in Kaschmir auf und immer wieder gibt es Bemühungen seitens Islamabads und Neu-Delhis um eine Beilegung ihres Dauerstreits in der Region. 2007 scheiterte am Widerstand der Regierung von Premierminister Manmohan Singh von der indischen Kongreßpartei eine Initiative von Pakistans damaligem Staatschef General a. D. Pervez Musharraf, welche die Schaffung einer Autonomieregion Kaschmir unter gemeinsamer indisch-pakistanischer Verwaltung und den Abzug Zehntausender Sicherheitskräfte als Paradigmenwechsel in den pakistanisch-indischen Beziehungen und ersten Schritt hin zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums beider Staaten vorsah. Seit 2014 regiert in Indien unter der Leitung von Premierminister Narendra Modi die hindunationalistische Bharatiya Janata Partei (BJP), die zu keinerlei Zugeständnissen in der Kaschmir-Frage bereit ist. Nodi selbst gilt als Hinduchauvinist, trug er doch als Premierminister der Provinz Gujarat für die schweren Ausschreitungen, die dort im Februar 2002 254 Hindus und 790 Muslimen das Leben kosteten, einen Großteil der Verantwortung.

Auslöser der jüngsten Unruhen in Kaschmir war die Bekanntgabe des Todes des charismatischen, erst 22jährigen Rebellenführers Burhan Wani von der Gruppe Hisbul Mudschaheddin, der bei einem Feuergefecht mit der indischen Armee am 8. Juli starb. Seither ist das normale Alltagsleben angesichts täglicher Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten lahmgelegt. Es herrscht eine nächtliche Ausgangssperre, viele Schulen und Geschäfte sind geschlossen. Die Sicherheitskräfte haben mehr als 1400 Demonstranten verhaftet. Wie es ihnen in Gewahrsam ergeht, möchte man vielleicht lieber nicht erfahren. Ein 30jähriger Lehrer, Schabir Ahmed Moonga, der am 16. August bei einer nächtlichen Razzia im Dorf Khrew im südlichen Bezirk Pulwana festgenommen wurde, war zwei Tage später tot. Die Behörden haben die Leiche seiner Familie ohne Angabe der Todesursache übergeben. Die Umstände des Ablebens von Moonga werden noch untersucht.

Die indischen Behörden lassen inzwischen die sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Snapchat erheblich zensieren, um eine Verbreitung von Informationen über die Vorgänge in Kaschmir einzuschränken. Nichtsdestotrotz sind Millionen von Menschen in Pakistan über die Lage in der Nachbarregion empört. Bei einer großen Solidaritätskundgebung am 20. Juli im Zentrum der pakistanischen Hauptstadt Islamabad hat Hafis Said, der berüchtigte Anführer der "Terrororganisation" Laschkar-e-Taiba (LeT), den Aufständischen in Kaschmir größtmögliche Unterstützung in Aussicht gestellt.

20. August 2016


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