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ASIEN/904: Afghanistan - verspielte Gelegenheit ... (SB)


Afghanistan - verspielte Gelegenheit ...


In Afghanistan droht der Kollaps nicht nur der Regierung, sondern auch der öffentlichen Ordnung bzw. dessen, was unter den Bedingungen eines vierzigjährigen Dauerkrieges diesen Namen trägt. Gerade in den letzten Wochen haben die Taliban mit mehreren spektakulären Offensiven den afghanischen Streitkräften so zugesetzt, daß deren Kampfmoral erschüttert ist. Vereinzelt räumen Armeeeinheiten ihre Stützpunkte. Es hat den Eindruck, als sehen viele Soldaten keinen Sinn mehr darin, für die Administration von Präsident Ashraf Ghani ihr Leben zu riskieren. Wie die US-Streitkräfte am Hindukusch den afghanischen Kameraden den Rücken stärken und sie an der endgültigen Kapitulation hindern wollen, ist nicht ganz klar.

Mitte August haben rund 1000 Taliban-Kämpfer die Stadt Ghazni, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, die auf der wichtigen Verbindungsstraße zwischen Kabul im Norden und Kandahar im Süden liegt, gestürmt, erobert und mehrere Tage lang besetzt gehalten, bevor sie dem Bomben- und Raketenhagel der US-Luftwaffe wichen und sich wieder zurückzogen. In Ghazni haben die Taliban also zum ersten Mal, seit zur Jahreswende 2001/2002 amerikanische und britische Streitkräfte dem Islamischen Emirat Afghanistan ein Ende setzten, eine Provinzhauptstadt zurückerobert - und sei es nur vorübergehend. Bei der Aktion kamen mehr als 113 Soldaten ums Leben. Weitere rund 150 wurden verletzt. Über die Anzahl der Verluste auf seiten der Taliban herrscht Ungewißheit.

Die schwere militärische Niederlage, welche den afghanischen Streitkräften Mitte August zugefügt wurde, beschränkte sich nicht allein auf den Fall Ghaznis. Die Großoperation dort wurde gleichzeitig von drei weiteren Offensiven in anderen Landesteilen begleitet, um ganz offensichtlich die afghanische Armee logistisch und organisatorisch zu überfordern. Während also die Kämpfe in Ghazni tobten, überrannten die Taliban im westlich gelegenen Bezirk Adschristan einen abgelegenen Armeestützpunkt. Dort sollen zwischen 40 und 100 Elitesoldaten ums Leben gekommen sein. Lediglich 22 Überlebenden ist mit einem mehrtägigen Fußmarsch die Flucht über die Berge nach Kabul gelungen. In der New York Times vom 13. August bezeichnete eine nicht namentlich genannte Quelle beim US-Militär in Afghanistan die Zerstörung des Stützpunktes von Adschristan als "Katastrophe".

In der nordwestlichen Provinz Faryab im Bezirk Ghormach fiel in derselben Zeit ein weiterer Militärstützpunkt, welchen die Taliban seit Wochen belagert hatten. Bei den schweren Kämpfen starben mindestens die Hälfte der 100 dort stationierten Soldaten. Zu guter Letzt haben die Taliban in der nordöstlichen Provinz Baghlan einen kleinen Stützpunkt angegriffen und eingenommen. Hier kamen sieben Polizisten und neun Soldaten ums Leben. Drei weitere Angehörige der Sicherheitskräfte wurden von den Taliban gefangengenommen. Besonders die Verluste am Stützpunkt in Faryab hat die Regierung in Kabul in Mißkredit gebracht. In den afghanischen Medien wurde ihr vorgeworfen, statt die belagerten, bedrängten Soldaten in "Chinese Camp" mit Nachschub und Munition per Luft zu versorgen, hätte sie die Militärhubschrauber zur Rettung von 200 Kämpfern der IS, die im afghanischen Norden von den Taliban ausradiert zu werden drohten, eingesetzt.

Der Eindruck des absoluten Chaos in Afghanistan wurde am 22. August unterstrichen. Bei der Live-Übertragung des Auftritts von Ghani, als dieser vom Garten des Präsidentenpalastes aus in einer Grußbotschaft den Taliban eine einseitige Feuerpause anbot, war für alle Anwesenden und Fernsehzuschauer der Lärm von 17 Mörsergranaten, die in anderen Teilen Kabuls explodierten, unüberhörbar. Für den Mörserangriff übernahm später der IS die Verantwortung. Über die hochpeinliche Vorstellung soll Ghani dermaßen verärgert gewesen sein, daß er am 25. August den Rücktritt vom Nationalen Sicherheitsberater Hanif Atmar, Verteidigungsminister Tarik Bahrami, Innenminister Wais Barmak und Geheimdienstchef Masum Stanekzai forderte - nur um sie ein Tag später nicht anzunehmen. Statt dessen bat er die vier Herren, ihren Pflichten "zur Besserung der Sicherheitslage" weiter nachzukommen.

Am 28. August meldete die afghanische Nachrichtenagentur Tolo News die kampflose Räumung mehrerer Stützpunkte in Faryab. In der Meldung mit der Überschrift "Army Soldiers Desert Bases Without Any Fight: Officials" ist von "Fahnenflucht" die Rede. Während das Verteidigungsministerium in Kabul den Rückzug als Teil einer länger geplanten Umstrukturierung verstanden haben wollte, klang die Aussage des Gouverneurs von Faryab, Nakibullah Fajek, anders. "Die Kampfmoral der Soldaten ist angeschlagen. Die Taliban kamen aus dem Bezirk Darzab mit hoher Kampfmoral. Sie haben Propagandakampagnen gestartet, und wir haben kampflos Gebiete verloren", so Fajek.

Am 4. September sollte eine große internationale Friedenskonferenz in Moskau stattfinden. Zur Teilnahme an der Veranstaltung hatte die russische Regierung zwölf Staaten wie auch die Taliban eingeladen. Doch während die Taliban und die meisten anderen auf der Liste dem Kreml ihr Kommen zugesichert hatten, winkten die USA und die Regierung Afghanistans ab. Die negative Haltung Washingtons hängt sowohl mit dem desolaten Stand der amerikanisch-russischen Beziehungen als auch mit dem Wunsch, einer Einflußnahme Moskaus in Afghanistan keinen Auftrieb zu verleihen, zusammen. Schließlich haben sich vor kurzem offizielle Vertreter der USA und der Taliban in Doha erstmals zu Vorgesprächen über mögliche Friedensverhandlungen getroffen, die offenbar ergebnislos zu Ende gingen. Die Regierung Ashraf Ghanis hat ihr Nein zu der Einladung nach Moskau damit begründet, daß Kabul und die Taliban zuerst in bilaterale Verhandlungen treten müßten, erst danach wären multilaterale Diskussionen sinnvoll. Auf Bitte Ghanis hat am 28. August der russische Außenminister Sergej Lawrow die geplante Friedenskonferenz verschoben. Sie soll zu einem Zeitpunkt stattfinden, an dem die Teilnahme der Vertreter Kabuls garantiert werden kann, so Lawrow. So wie sich die Dinge in Afghanistan entwickeln, sollte sich die Ghani-Administration hiermit vielleicht nicht allzuviel Zeit lassen.

31. August 2018


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