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ASIEN/943: Afghanistan - geopolitischer Schwenk der USA ... (SB)


Afghanistan - geopolitischer Schwenk der USA ...


Nach einem dreijährigen Gerichtsprozeß und mehreren Klagen unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz hat am 9. Dezember die Washington Post die sogenannten Afghanistan Papers veröffentlichen können. Hinter jenem Begriff, der sich bewußt an die 1971 von Daniel Ellsberg enthüllten Pentagon Papers über die verkorkste US-Militärintervention in Vietnam und Indochina anlehnt, verbirgt sich eine mehrjährige Studie des 2008 geschaffenen Amts des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) im US-Verteidigungsministerium. Im Rahmen der 2014 begonnenen, mehr als 2000seitige Studie namens Lessons Learnt wurden Interviews mit mehr als 600 Militärs und Regierungsbeamten vornehmlich aus den USA, aber auch aus den verbündeten NATO-Staaten sowie Afghanistan selbst durchgeführt, um die wichtigsten Lehren aus dem laufenden Krieg am Hindukusch zu ziehen.

Auffälligstes Fazit der Befragungen: seit dem gelungenen Sturz der Taliban zur Jahreswende 2001/2002 führt die westliche Interventionsstreitmacht am Hindukusch einen Krieg quasi allein des Krieges willen. Für die Politiker in Washington und die Kommandeure vor Ort ist es stets wichtiger gewesen, das eigene Gesicht zu bewahren und das Märchen von der Unbesiegbarkeit der Supermacht USA aufrechtzuerhalten, als öffentlich zuzugeben, man habe keine Ahnung, was man in Afghanistan überhaupt tue. Bedenkt man den Umstand, daß der Krieg in Afghanistan dem amerikanischen Steuerzahler bis heute mehr als eine Billion Dollar gekostet hat, daß die USA 133 Milliarden Dollar mehr für einen völlig gescheiterten "Wiederaufbau" des bitterarmen Landes als für den Marshall-Plan in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ausgegeben haben und daß der Konflikt mit den Taliban Zehntausende Afghanen und 2.400 US-Soldaten das Leben gekostet, weitere Hundertausende zu Krüppeln oder Traumaopfern gemacht hat, dann klingen die Worte des SIGAR-Chefs John Sopko - "Das amerikanische Volk wurde durchweg belogen" - wie der reinste Hohn.

Man darf nicht vergessen, daß der Krieg in Afghanistan vollkommen vermeidbar gewesen wäre. Nach dem schrecklichen Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 haben die Taliban angeboten, ihren Gast, den mutmaßlichen 9/11-Drahtzieher Osama Bin Laden, an eine neutrale Gerichtsbarkeit nach der Vorlage entsprechender Hinweise auf seine Verwicklung in die Ermordung von fast 3000 Menschen auszuliefern. Doch dies genügte der Administration von George W. Bush nicht, die demonstrativ militärische Vergeltung im großen Stil ausüben zu müssen meinte. Deshalb fielen US-Streitkräfte im Oktober 2001 in Afghanistan und eineinhalb Jahre später in den Irak ein. Bereits vor dem angloamerikanischen Einmarsch in den Irak im März 2003 wußten Millionen von Menschen weltweit, daß die Kriegsbegründung Washingtons - eine heimliche Zusammenarbeit zwischen Osama Bin Ladens Al Kaida und der Regierung Saddam Hussein in Bagdad im Bereich Massenvernichtungswaffen - erstunken und erlogen war.

Die Afghanistan Papers liefern den Beweis, daß es spätestens nach der Flucht Osama Bin Ladens aus Afghanistan keinen ernstzunehmenden Grund für den Verbleib der NATO-Streitkräfte am Hindukusch gab und daß die Verantwortlichen in Berlin, London, Paris und Washington dies auch wußten. Deswegen änderte sich dauern die Begründung - mal ging es um die Verteidigung des Westens am Hindukusch, mal um die Frauenrechte, mal um die humanitäre Hilfe, mal um den Wiederaufbau. In den Afghanistan Papers liest man, wie bereits nach wenigen Monaten der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld über das Fehlen sinnvoller Erfolgskriterien klagt. Etwa zur gleichen Zeit, im Frühjahr 2002, verspricht Bush jun., die USA würden in Afghanistan auf gar keinen Fall in einen "Kriegsmorast" wie einst in Vietnam versinken. Doch genau das ist passiert.

Alle Beteiligten wußten um den Schlamassel, doch durfte dies niemand offen zugeben. Statt dessen wurde eine Erfolgsmeldung nach der anderen herausgegeben. Erhöhte Aktivitäten seitens der Taliban wurden gleich als Beleg für deren vermeintliche Verzweiflung ausgelegt. Als Barack Obama 2009 Bush als Präsident folgte, wurde der Kriegskritiker praktisch gezwungen, eine gigantische Truppenaufstockung durchzuführen, die trotz aller gegenteiligen Behauptungen des "Zen-Kriegers" Stanley McChrystal und der vermeintlichen Aufstandskoryphäe David Petraeus zu keinem Erfolg führte, sondern statt dessen die Taliban stärker machen sollte. 2010 nach dem gelungenen Liquidierung Osama Bin Ladens in Pakistan hätten die USA die Segel in Afghanistan streichen können, doch wollte niemand das Land zu einem "terroristischen Rückzugsort" verkommen lassen. Seltsam, daß sich nur kurze Zeit danach die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) dort etablieren konnte.

Aus den Afghanistan Papers geht ganz klar hervor, wie sehr und im welchen Ausmaß die offiziellen Erkenntnisse über die tatsächliche Faktenlage in Afghanistan verzerrt und beschönigend in der Öffentlichkeit wiedergegeben wurde. Im Lessons-Learnt-Bericht von SIGAR stößt der Leser über andauernde Klagen seitens amerikanischer Diplomaten und Militärs über die Korruptheit der Afghanen, vom einfachen Soldaten bis in die höchsten Ämter - eine Korruption, welche die ausländischen Interventionisten mit ihren "Hilfsgeldern" in Milliardenhöhe offenbar zu immer neuen Blüten getrieben haben. In den Afghanistan Papers kehrt General a. D. Michael Flynn, der mehrere Einsätze in Afghanistan gesehen hat und später zum Leiter der Defence Intelligence Agency (DIA) wurde, den Spieß um und stellt unverblümt fest, die verlogene Informationspolitik der amerikanischen Kriegsbeteiligten sei mindestens so korrupt oder sogar korrupter als der Diebstahl der Afghanen, denn sie halte einen aussichtslosen Krieg am Leben. 2014 wurde Flynn nicht zuletzt wegen seiner offenen Kritik an der Verantwortung Washingtons für die Entstehung eines IS-Kalifats beiderseits der irakisch-syrischen Grenze von der Obama-Regierung frühzeitig pensioniert.

2017 wurde Flynn Nationaler Sicherheitsberater Donald Trumps und unterstützte zunächst die Bemühungen des New Yorker Baumagnaten, den schnellstmöglichsten Abzug der US-Streitkräfte zu realisieren. Nach nur wenigen Wochen im Weißen Haus wurde Flynn unter fadenscheinigen Gründen - wegen eines umstrittenen Telefonats mit dem russischen Botschafter in Washington - aus dem Amt gedrängt. Seit vergangenem Jahr führt Trumps Afghanistan-Sonderbeauftragter Zalmay Khalilzad im katarischen Doha Verhandlungen mit den Taliban. Angeblich liegt bereits der Entwurf eines Friedensvertrags vor, der jedoch von der Regierung in Kabul noch abgesegnet werden müßte.

Vor diesem Hintergrund ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Afghanistan Papers bemerkenswert - nämlich just zu einem Zeitpunkt, zu dem sie wegen der alles andere verdrängenden Berichterstattung der US-Konzernmedien über das Amtsenthebungsverfahren der Demokraten im Repräsentantenhaus gegen Präsident Trump nicht allzuviel Aufsehen erregen werden. Die Amerikaner wollen - unverrichteter Dinge oder nicht - aus Afghanistan raus, ohne sich ihre Niederlage eingestehen zu müssen. Hierfür bieten die Afghanistan Papers den perfekten Anlaß. Wie US-Verteidigungsminister Mark Esper am 7. Dezember vor erlauchtem Publikum auf dem Reagan National Defense Forum im kalifornischen Simi Valley erklärte, wollen die USA ihre "Streitkräfte neu positionieren" und überall dort, wo es möglich ist, nicht nur in Afghanistan, Truppen abziehen, um sie in Stellung gegenüber China und Rußland zu bringen. Zentralasien sei nicht das "vordringlichste Kriegsschauplatz", sondern der indo-pazifische Raum, so Esper.

11. Dezember 2019


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