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ASIEN/952: Indien - Regulationsvorwand Religion ... (SB)


Indien - Regulationsvorwand Religion ...


In kaum einem anderen Land stellt die Ausbreitung des Corona-Virus die Behörden vor so große Herausforderungen wie in Indien, dem mit 1,37 Milliarden Menschen bevölkerungsreichsten Staat der Erde. Anfangs wollte Premierminister Narendra Modi von der hindunationalistischen Bharatiya Janatha Party (BJP) von der Ausbreitung der Seuche nichts wissen. Zu wichtig war ihm ein glatter Ablauf des Staatsbesuchs von US-Präsident Donald Trump Ende Februar gewesen. Doch der prunkvolle Empfang des New Yorker Machomanns samt Trophy Wife Melania wurde von einem tagelangen Pogrom in Neu-Delhi überschattet, in dessen Verlauf aufgebrachte Hindufanatiker Dutzende muslimische Mitbürger ermordeten und ganze Straßenzüge in Schutt und Asche legten. Den Anlaß zu der grausamen Gewaltorgie lieferte eine friedliche Protestaktion, mit der eine Gruppe Frauen gegen das im Dezember vom indischen Parlament auf Betreiben der BJP verabschiedete Staatsbürgerschaftsgesetz, das Indiens muslimische Minderheit von rund 200 Millionen Menschen eindeutig benachteiligt, demonstriert hatte.

Am 24. März leistete sich Modi eine folgenschwere Entscheidung, als er ohne jede Vorwarnung eine dreiwöchige Ausgangssperre einschließlich der Stillegung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe für ganz Indien verhängte. Hauptleidtragende der Maßnahme waren die zahlreichen Tagelöhner in den Slums der indischen Großstädte. Wie sollten sie sich und ihre Familien durchbringen? Neu-Delhi hatte im Vorfeld keine Hilfsmaßnahmen vorbereitet. Schwer betroffen war auch das millionenfache Heer der Wanderarbeiter, die von einem Tag auf den anderen nicht nur die Arbeitsstelle, sondern häufig auch die damit verbundene Unterkunft verloren. Da Indiens Busse und Bahnen nicht mehr fahren, machten sich Millionen von Wanderarbeitern, zum Teil von Frau und Kindern begleitet, zu Fuß über die Autobahnen auf dem Weg in ihre Heimatdörfer und wurden dabei häufig von den Ordnungskräften mit Schlagstock, Tränengas und Gummigeschoß angegriffen.

Modis Machtdemonstration hat zur Eindämmung der Epidemie nichts beigetragen. Im Gegenteil hat sie mittels des von ihr verursachten Chaos vermutlich die Verbreitung der Lungenkrankheit befeuert. Sinnvolle Maßnahmen, wie die von der WHO empfohlenen Massentests, um die Infizierten zu identifizieren und die Übertragungsrate zu verlangsamen, lassen in Indien auf sich warten. Wie desolat das indische Gesundheitssystem ist, zeigt der Fall des nördlichen Bundesstaats Uttar Pradesh. Dort traten am 1. April 19.000 Ärzte, Krankenschwestern, Krankenwagenfahrer und Pfleger in den Streik, weil sie seit zwei Monaten ihr Gehalt nicht bekommen und die Krankenhäuser unter einem chronischen Mangel an Schutzkleidung und -masken leiden. In Uttar Pradesh haben die Behörden - auch die der Bundesregierung - Mitte März eine große, neuntägige Feier zu Ehren des Hindugotts Rama, an der Hunderttausende Pilger aus allen Teilen Indiens teilnahmen, stattfinden lassen.

Unfähig oder nicht willens, eine Massenepidemie, von der man weiß, daß sie mit Abstand mehr ärmere als wohlhabende Menschen töten wird, wirksam zu bekämpfen, hat die Modi-Regierung den Obersten Gerichtshof Indiens angerufen, um neue Medienregeln erlassen zu dürfen. Der Vorwand ist dasselbe Schreckgespenst, das derzeit in fast allen anderen Ländern mit grellen Farben an die Wand gemalt wird, nämlich die "Fake News". Die neuen Regeln sehen im Falle ihrer Einführung vor, daß alle indischen Nachrichtenredaktionen künftig sämtliche Berichte und Meldungen über Covid-19 vor der Veröffentlichung von einer staatlichen Zensurstelle genehmigen lassen müssen. Damit wollen Modi und die BJP vor allem die öffentliche Kritik am eigenen Krisenmanagement unterdrücken.

Um zusätzlich von Pleiten, Pech und Pannen im Umgang mit dem Corona-Virus abzulenken, lastet die BJP den Muslimen einseitig an, sich nicht ausreichend in den großen patriotischen Kampf gegen die Seuche einzubringen. Am 31. März hat die Polizei das fünfstöckige Hauptquartier der islamischen Missionarsbewegung Tablighi Jamaat in Neu-Delhi gewaltsam geschlossen. Dort sollen sich Hunderte von Gläubigen mit dem Corona-Virus infiziert haben, von denen mindesten sieben an den Folgen der Lungenkrankheit gestorben sind. Tatsächlich muß sich die Führung der rund 100 Jahre alten Organisation vorwerfen lassen, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein. Über ein viertägiges internationales Treffen von mehr als 16.000 Anhängern der Tablighi Jamaat Ende Februar, Anfang März in Kuala Lumpur soll sich Covid-19 in ganz Südostasien verbreitet haben. Teilnehmer der Veranstaltung haben nachweislich die Krankheit nach Bangladesch, Brunei, Indonesien, Kambodscha und Thailand eingeschleppt und dort andere Menschen infiziert. Doch die Entstehung des Covid-19-Hotspots in der Tablighi-Jamaat-Zentrale in Neu-Delhi ist auch auf die eingangs erwähnten religiösen Unruhen Ende Februar in der indischen Hauptstadt zurückzuführen. Die Wohltätigkeitsvereinigung hatte ihre Pforten für viele muslimischen Familien, die vor dem rasenden Hindumob auf der Flucht und deren Wohnungen niedergebrannt waren, geöffnet und ihnen Schutz gewährt. So kam es zu der Überfüllung und in der Folge der Seuchenverbreitung.

Am 1. April hat die Modi-Regierung zudem ein neues Niederlassungsgesetz für die Sonderverwaltungszone Jammu und Kaschmir erlassen, deren Autonomiestatus sie im August aufhob und gleichzeitig dort den Ausnahmezustand verhängte. In Jammu und Kaschmir leben 13 Millionen Menschen, von denen 70 Prozent dem muslimischen Glauben angehören. In Kaschmir glauben die meisten Menschen, daß Neu-Delhi so viele Hindus wie möglich zur Niederlassung in Jammu und Kaschmir veranlassen will, um auf dem demographischen Weg langfristig das Streben der einheimischen Bevölkerung nach Unabhängigkeit bzw. der Vereinigung mit Pakistan ein für allemal zu beenden. Die Kaschmiris unterstellen Modi und der BJP, sie so behandeln zu wollen, wie Israel es mit den Palästinensern tut. Der Verdacht liegt auf der Hand. Tatsächlich betrachten sich Indien und Israel gegenseitig als enge Partner im Kampf gegen den "islamistischen Terrorismus". Und seit Modi in Neu-Delhi regiert, ist Indien zum größten Abnehmer israelischer Rüstungsgüter geworden.

7. April 2020


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