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EUROTREFF/009: Lissabon- und NATO-Gegner treffen sich in Shannon (SB)


Lissabon- und NATO-Gegner treffen sich in Shannon

Bericht von der Konferenz "War, NATO and the Lisbon Treaty"


Seit dem Auftakt des "globalen Antiterrorkrieges" im Herbst 2001 laufen Irlands Friedensaktivisten gegen die Verwendung des zivilen Flughafens Shannon an der irischen Atlantikküste durch das US-Militär zum Transport von Soldaten und Rüstungsmaterial Sturm. Die faktische Integration Shannons ins weltumspannende Basenimperium des Pentagons erfüllt die Kriegsgegner auf der grünen Insel mit ebenso viel Sorge wie die schleichende Verwandlung der EU in eine militärische Supermacht, weswegen sie derzeit ihre ganzen Energien in die Kampagne gegen die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags stecken. Die zweite Volksabstimmung in Irland über den EU-Reformvertrag findet in wenigen Wochen am 2. Oktober statt. Aus diesem Anlaß wie auch wegen des Zusammenhangs zwischen der Militarisierung Europas und des Ausbaus der NATO zur globalen, sich selbst mandatierenden Ordnungsinstanz hatten das Irish Anti-War Movement (IAWM) und die Peace And Neutrality Alliance (PANA) zu der Konferenz "War, NATO and the Lisbon Treaty" am 5. September im Park Inn Hotel am Flughafen Shannon eingeladen.

Zwei aktuelle Meldungen sorgten für Zuversicht bei den rund 80 aus allen Teilen Irlands wie auch aus dem Ausland kommenden Teilnehmern der Konferenz, daß der Kampf gegen den Militarismus nicht nur nicht hoffnungslos, sondern auch dringend geboten ist. Erstens hat am 4. September die Irish Times eine Umfrage veröffentlicht, derzufolge der Prozentsatz derjenigen, die für Lissabon stimmen wollen, seit Mai von 54 auf 46 zurückgefallen war, während die Nein-Seite um einen Punkt von 28 auf 29 und die Gruppe der Unentschlossenen von 18 auf 25 Prozent gestiegen war (Zum Vergleich standen rund einen Monat vor der Abstimmung im letzten Jahr die Ja-Seite mit 35 die Nein-Seite mit 18, und die "Don't Knows" mit 47 Prozent da; nichtsdestotrotz besiegten am 12. Juni 2008 die Lissabon-Gegner die Befürworter mit 53,4 zu 46,6 Prozent). Obwohl die Nein-Seite in den Umfragen immer noch zurückliegt, holt sie spürbar auf. Hinzu kommt, daß das Ergebnis der jüngsten Umfragen den von der Ja-Seite - darunter alle großen Parteien und der Arbeitgeberverband IBEC - seit Monaten systematisch erzeugten Eindruck, der Ausgang der zweiten Abstimmung stehe bereits praktisch fest, das Volk werde sich von den "ewigen Nein-Sagern" nicht erneut in die Irre führen lassen, mit einem Schlag demoliert hat.

Zweitens sickerten am Abend des 4. September im Radio und Fernsehen und am 5. September in allen Zeitungen Irlands erste Berichte über einen im afghanischen Kundus von der Bundeswehr angeforderten Bombenangriff der US-Luftwaffe auf zwei gestohlene Tanklastwagen durch. Wenngleich die genaue Anzahl der Getöteten unklar ist - sie liegt irgendwo zwischen 80 und 125 -, scheint festzustehen, daß Zivilisten die Mehrheit und Aufständische nur eine Minderheit bildeten. Damit wären die Streitkräfte Deutschlands, des wirtschaftlich stärksten und bevölkerungsreichsten Mitgliedsstaats der EU, erstmals in eines jener Massaker verwickelt, die sich bisher am Hindukusch allein Geheimdienst und Militär der USA leisten und die von allen Seiten, nicht zuletzt der Regierungen und Bevölkerungen in Afghanistan und Pakistan, heftig kritisiert werden.

John Lannon, Carol Fox und Ed Horgan (mit Bajonett)

John Lannon, Carol Fox und Ed Horgan (mit Bajonett)

Vor dem Hintergrund dieses shockierenden Ereignisses stießen die Ausführungen von Dr. Ed Horgan und John Lannon auf der ersten, von Carol Fox von der PANA moderierten Sitzung "War and Shannon Airport" auf reges Interesse. Horgan ist Kommandant a. D. der Irischen Armee, der an zahlreichen UN-Friedensmissionen im Ausland teilgenommen hat und der im Namen von PANA seit acht Jahren die Proteste gegen die Nutzung Shannons durch das US-Militär anführt. 2003 ist er vor dem Obersten Gerichtshof Irlands mit einer entsprechenden Klage gegen die Dubliner Regierung gescheitert. Lannon ist Mitglied von amnesty international (ai). Mit Streitgefährten aus der Region um Limerick, der Stadt an der Mündung des Flusses Shannon, halten Horgan und Lannon die Bewegungen aller nicht-zivilen Maschinen am besagten Flughafen fest, veröffentlichen die Daten auf der Website shannonwatch.org und führen an jedem zweiten Sonntag eine Mahnwache durch.

In seinem Vortrag erklärte Horgan, Irland sei durch die militärische Nutzung von Shannon für die Kriegsverbrechen der USA und ihrer NATO-Partner im Irak, in Afghanistan und Pakistan mitverantwortlich. Irland sei seit der illegalen Irakinvasion der Amerikaner, Briten und Australier vor sechseinhalb Jahren nicht mehr neutral, und die in Reaktion auf die erste Lissabon-Abstimmung von den anderen europäischen Regierungschefs gemachte Garantie, die irische Neutralität werde durch den EU-Reformvertrag in keiner Weise tangiert - weshalb die Iren bei dem zweiten Plebiszit ihr Kreuz auf Ja machen sollen -, sei der reine Betrug. Etwas, das nicht mehr existiere, könne auch nicht "garantiert" werden, so Horgan. Nach Angaben Lannons machen pro Woche Maschinen von Luftlinien wie Omni Air International mit rund 1000 uniformierten und vollbewaffneten US-Soldaten als Passagieren und pro Monat im Durchschnitt 30 Flugzeuge der amerikanischen Luftwaffe und Marine in Shannon Zwischenstation. Mittels Hercules-Maschinen der US-Luftwaffe und Transportflugzeugen der Firmen Kalitta Air wird Kriegsgerät wie Drohnen, Hellfire-Raketen und bunkerknackende Bomben an den Persischen Golf bzw. Hindukusch transportiert. Darüber hinaus wird der irische Luftraum inzwischen tagein, tagaus von US-Militärflugzeugen, die zwischen Nordamerika und Großbritannien bzw. dem europäischen Festland pendeln, überquert.

Wie Lannon weiter berichtete, sind Mitglieder von Shannonwatch, die Folterflüge der CIA und der von ihr beauftragten Dienstleistungsunternehmen identifiziert und die irische Polizei aufgefordert hatten, irisches Gesetz und die Verpflichtungen Irlands nach den Genfer Konventionen einzuhalten und die in Shannon zwischengelandeten, verdächtigen Maschinen nach Verschleppten zu durchsuchen, selbst festgenommen und wegen Störung des Flughafenbetriebs angeklagt worden (Am Tag der Friedenskonferenz standen ein Hercules-C130-Transportflugzeug der US-Luftwaffe und eine Maschine von Omni Air International auf dem Rollfeld in Shannon. Der Versuch eines Schattenblick-Redakteurs, die Anwesenheit beider Flugzeuge photographisch festzuhalten wurde vom Sicherheitspersonal unter Androhung der Einschaltung der Polizei unterbunden).

In Anschluß an die Vorträge konnten sich die beiden Shannonwatch-Vertreter vor Fragen kaum retten. Was das Motiv des Pentagons zur Nutzung Shannons betrifft, führte Horgan nicht nur logistische Erwägungen, die sich aus der geographisch günstigen Position des Flughafens bezüglich des nordamerikanischen Kontinents ergeben, an, sondern vertrat die Ansicht, daß es Washington darum ginge, die Republik Irland von ihrer traditionellen Neutralität abzubringen und das Land in die "koloniale Sphäre" der USA hineinzuziehen. Für diese These sprechen die Informationen Lannons, die Shannonwatch erst wenige Tage zuvor herausgefunden hatte, daß inzwischen zwei US-Verbindungsoffiziere am Flughafen Shannon fest stationiert sind, obwohl der dauerhafte Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in Irland nach dessen eigener Verfassung verboten ist.

Unter Verweis auf die Rücklaufigkeit der Anzahl der zivilen Flüge in Shannon bei gleichbleibender, wenn nicht sogar steigender Tendenz im militärischen Sektor äußerte Lannon die Befürchtung, daß im Rahmen der Militarisierung der EU und deren verstärkter Zusammenarbeit mit der NATO der Flughafen oder ein Teil davon in nicht allzu ferner Zukunft zu einem offiziellen US-Luftwaffenstützpunkt verwandelt werden könnte. Was die seit fast acht Jahren herrschenden, verschärften Sicherheitsmaßnahmen vor Ort betrifft, dienen diese offenbar lediglich der US-Kriegsmaschinerie. Nach Angaben von Horgan und Lannon sind die Behörden am Flughafen Shannon nicht im geringsten auf ein Unglück mit einer Militärmaschine und dem eventuell darin befindlichen gefährlichen und hochgiftigen Rüstungsmaterial vorbereitet.

Patricia McKenna, Michael Youlton, Joe Higgins, Kieran Allen und Mary Lou McDonald

Patricia McKenna, Michael Youlton, Joe Higgins, Kieran Allen und Mary Lou McDonald

Auf der zweiten Sitzung, die den Titel "The Lisbon Treaty" trug und von dem IAWM-Kovorsitzenden Michael Youlton moderiert wurde, traten die Sinn-Féin-Vizepräsidentin Mary Lou McDonald, Kieran Allen von der People Before Profit Alliance, Patricia McKenna vom People's Movement und Joe Higgins, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Irlands, auf. McDonald, die im Juni ihren Sitz im EU-Parlament verlor, aber von der alle auf der Insel ausgehen, daß sie bei der nächsten Parlamentswahl in Irland ins Dubliner Unterhaus Dáil einziehen wird, warf den großen Parteien Fianna Fáil, Fine Gael und Labour vor, die Debatte um die Konsequenzen der EU-Integration nicht offen zu führen, sondern zu versuchen mit hohlen Phrasen und vagen Androhungen die Bevölkerung für ein Ja zu Lissabon zu bewegen.

Plakate der Pro-Lisbon-Gruppe 'Ireland for Europe'      Plakate der Pro-Lisbon-Gruppe 'Ireland for Europe'

Plakate der Pro-Lisbon-Gruppe 'Ireland for Europe'

Plakate der Pro-Lisbon-Gruppe "Ireland for Europe"

McDonald erklärte die im Lissabon-Vertrag enthaltenen Bestimmungen bezüglich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), der vertieften Zusammenarbeit mit der NATO, der "strukturierten Kooperationen", der Stärkung der Europäischen Verteidigungsagentur und der Solidaritätsklausel, die einem militärischen Beistandspakt gleichkommt, für bedenkenswert und gefährlich. Ihr zufolge sollten die Iren Lissabon erneut ablehnen, weil das Abkommen das endgültige Aus für die irische Neutralität bedeutete; das Land könnte künftig in Militärabenteuer in Übersee gezogen werden, ohne jemals das eigene Nationalterritorium vollständig befreit zu haben - von der britischen Besatzung im Norden, versteht sich.

Kieran Allen, der als Soziologiedozent am University College Dublin arbeitet und Autor des neuen Buchs "Irland's Economic Crash" ist, warf der Ja-zu-Lissabon-Seite vor, eine Schmutzkampagne gegen die Nein-Seite zu führen. Laut Allen sprechen die 500.000 Euro und die 300.000 Euro, mit denen jeweils die Luftlinie Ryanair und der US-Chiphersteller Intel - der größte private Arbeitgeber in Irland - der Pro-Lissabon-Kampagne zum Sieg verhelfen wollen, für die Richtigkeit der These von der neoliberalen, arbeitnehmerfeindlichen Ausrichtung des Abkommens. In beiden Unternehmen sind Gewerkschaften ein Tabu. Allen kritisierte den ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Pat Cox, der sich dieser Tage in den irischen Medien als Galionsfigur der vermeintlich unabhängigen Gruppe "Ireland for Europe" hervortut, als Handlanger des internationalen Großkapitals unter Verweis auf seine laufende Lobbyarbeit für Michelin, Microsoft und Pfizer und das Beratungsunternehmen APCO.

Patricia McKenna, die von 1994 bis 2004 Abgeordnete der irischen Grünen in Strasbourg war, kritisierte ihre ehemaligen Parteikollegen, die früher gegen Militarisierung waren und jetzt an der Seite ihres Regierungspartners Fianna Fáil für die Annahme des Lissabon-Vertrages werben. McKenna zeigt sich wenig überrascht, daß Intel Werbung für Lissabon macht, schließlich ist das Unternehmen Großlieferant der internationalen Rüstungsindustrie. In diesem Zusammenhang machte McKenna darauf aufmerksam, daß Vertreter von Enterprise Ireland, der staatlichen Industriefördereinrichtung, bereits an Sitzungen der European Defence Agency (EDA) teilnehmen und daß Unternehmen in Irland - ob einheimische oder ausländische, sei dahingestellt - im militärisch-industriellen Komplex der EU und der NATO ziemlich aktiv sind.

In seinem Vortrag hob Dublins frischgebackener EU-Abgeordneter Joe Higgins hervor, in welchem Ausmaß im Lissabon-Vertrag die Interessen der Rüstungindustrie berücksichtigt, jedoch die der Arbeitnehmer - trotz aller schönen Worte - vernachlässigt bzw. zugunsten des "freien Marktes" relativiert werden. Unter Verweis auf die Bedeutung der heutigen Mikroelektronik schilderte er in aller Ausführlichkeit die Wirkungsweise der jüngsten Generation an Hellfire-Marschflugkörpern, die, wenn sie z. B. in ein Bauernhaus an der afghanisch-pakistanischen Grenze eindringen, es nicht mehr durchfliegen, sondern die volle Sprengkraft im Gebäude selbst entfalten. Higgins rief zum Nein zu Lissabon auf, damit die EU die Sozialstandards in Europa nicht weiter heruntersetzen könne und damit die Wissenschaftler auf dem alten Kontinent ihre Zeit sinnvolleren Aufgaben wie der Versorgung aller Menschen mit sauberem Trinkwasser statt mit dem Bau immer grausamerer Waffen widmen können.

Im anschließenden Frage-und-Antwort-Teil berichteten Nein-Aktivistinnen aus Galway, wie sie vor wenigen Tagen mit der Verhaftung durch die Polizei bedroht wurden, als sie auf einer Veranstaltung der Gruppe "Women for Europe" versucht hatten, inhaltliche Fragen zum Lissabon-Vertrag zu stellen. Patricia McKenna meinte, die Werbung dieser Gruppe - ein Ja zu Lissabon schaffe Arbeitsplätze, trage zur Bekämpfung des Klimawandels sowie der Armut in der Dritten Welt bei - sei nicht umsonst schwammig und inhaltsleer. Mary Lou McDonald kritisierte die einseitig pro-israelische Politik der EU im Nahost-Konflikt und erklärte, die Brüsseler Haltung bezüglich der sogenannten Dritten Welt zeichne sich weniger durch Entwicklungshilfe als vielmehr durch den Drang zu neokolonialistischer Ausbeutung aus. In diesem Zusammenhang erinnerte ein Teilnehmer der Konferenz daran, daß sich der Sitz des neuen US-Regionalkommandos AFRICOM im deutschen Stuttgart und nicht auf dem Schwarzen Kontinent befindet.

Tobias Pflüger, Celine Meneses, Roger Cole und Jeremy Corbyn

Tobias Pflüger, Celine Meneses, Roger Cole und Jeremy Corbyn

Nach der Mittagspause ging es unter der Leitung des PANA-Vorsitzenden Roger Cole mit der dritten Sitzung "The Militarisation of Europe and NATO" weiter. Als Redner traten der Labour-Abgeordnete Jeremy Corbyn aus England, Celine Meneses von der neuen Parti de Gauche in Frankreich und Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen auf. Meneses erläuterte die Gründe, warum die Franzosen 2005 die EU-Verfassung mehrheitlich abgelehnt und sie damit - zusammen mit den Niederländern - zum Scheitern gebracht hatten. Als wichtigste Motive nannte sie die Ablehnung der Zentralisierung der EU und die Angst vor Sozialabbau. Laut Meneses erhofft sich diesmal erneut eine Mehrheit der Franzosen, daß die Iren den Lissabon-Vertrag, der weite Teile der damaligen EU-Verfassung beinhaltet, auch bei der zweiten Abstimmung ablehnen werden.

Bei seinem Auftritt erläuterte Pflüger, der im Juni als Kandidat der Linken die Wiederwahl ins EU-Parlament nur knapp verfehlte, die Bedeutung des Urteils des deutschen Verfassungsgerichts zu Lissabon und die hektischen Bemühungen von CDU, SPD, FDP und Grünen, das neue Entsendegesetz vor der Bundestagwahl am 27. September durch das Parlament in Berlin zu bringen. Wie die Friedensaktivisten in ganz Europa vermutet hatten, geht es hierbei um nicht weniger als Krieg und Frieden. Weil Bundestag und Bundesrat über jeden Einsatz der Bundeswehr zu entscheiden haben, macht dies künftig die Zustimmung des deutschen Regierungschefs im Europäischen Rat zu irgendwelchen Militäropationen der EU schwierig. Laut Pflüger löst das Entsendegesetz dieses Problem nicht wirklich auf, sondern verschleiert es, weshalb die Linke im Bundestag einen erneuten Gang nach Karlsruhe in Erwägung zieht. Darüber hinaus führte Pflüger seine Zuhörer gekonnt und auf recht unterhaltsame Weise durch die rechtlichen Aspekte der geplanten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und machte auf die Gefahr aufmerksam, daß unter Lissabon Militäroperationen aus dem EU-Haushalt und nicht wie unter dem Vertrag von Nizza gesondert finanziert werden. Aufgrund der schwachen Kontrollmöglichkeiten des EU-Parlaments könnten die Regierungchefs im Europäischen Rat "tun, was sie wollen", weshalb die Iren am 2. Oktober unbedingt mit nein stimmen sollten, so Pflüger.

Jeremy Corbyn gehört der Führung des britischen Council for Nuclear Disarmament (CND) an und vertritt seit 1983 den Londoner Bezirk Islington North im britischen Unterhaus. Seit "New" Labour an der Macht ist, das heißt seit 1997, ist Corbyn der Hinterbänkler, der sich dem Fraktionszwang am häufigsten widersetzt hat - unter anderem mit seinem Votum gegen die Teilnahme Großbritanniens am Irakkrieg der USA im Frühjahr 2003. Corbyn bezeichnete die EU und die NATO gleichermaßen als "Produkte des Kalten Krieges". Er erklärte die irische Neutralität für ein "hohes Gut" und das wichtigste Ergebnis des jahrhundertelangen Freiheitskampfs der Iren, das durch den Vertrag von Lissabon in Gefahr sei. Die Außen- und Sicherheitspolitik der NATO und der EU sei aggressiv und auf künftige Kolonialkriege in Afrika, im Nahen Osten und Zentralasien ausgerichtet, weshalb sich Irland dem nicht unterordnen dürfe.

In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem Corbyn befragt, was man von der EU-Politik Großbritanniens nach den nächsten Parlamentswahlen im kommenden Jahr, von der alle politischen Beobachter annehmen, daß die Konservativen unter David Cameron sie gewinnen werden, zu erwarten habe, wo sich doch die heutige Opposition seit langem als Gegner von Lissabon und der damit einhergehenden Gründung eines europäischen Superstaates aufspielt. Der Labour- Abgeordnete meinte, die Tories seien Schaumschläger und ihr Euroskeptizismus sei oberflächlich. Selbst wenn Irland im Oktober nein zu Lissabon sage, rechnet er nicht damit, daß Cameron und die Konservativen Großbritanniens Ratizifierung zurückziehen oder eine Volksabstimmung darüber anberaumen werden. Aus dem Publikum griff Rainer Braun, der Koordinator des No-to-NATO-Bündnisses, die Ausführungen Corbyns auf. Unter Verweis auf die Art und Weise, wie in den neunziger Jahren die bei den 2+4-Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands gemachten Zusicherungen gegenüber der Sowjetunion bezüglich der Ostgrenze der NATO vollkommen mißachtet wurden, meinte Braun, den EU-Eliten seien hinsichtlich ihrer vermeintlich friedlichen Absichten nicht über den Weg zu trauen.

Rainer Braun, George Karabelias, Ailbhe Smyth, Harry Bommel und John Pfeffer

Rainer Braun, George Karabelias, Ailbhe Smyth, Harry Bommel
und John Feffer

An der vierten und letzten Sitzung, die "The International Perspective post-Obama" hieß und von Ailbhe Smyth von der People Before Profit Alliance moderiert wurde, nahmen neben Rainer Braun, Harry Bommel von der Sozialistischen Partei der Niederlande, John Feffer von der in Washington ansässigen, dem linken Flügel der US-Demokraten nahestehenden Denkfabrik Institute for Policy Studies (IPS) und George Karabelias von der griechischen Zeitschrift Rixi teil. Karabelias ging auf die Wichtigkeit der EU-Integration für die Stärkung des Bündnisses mit den USA ein. Ihm zufolge wird mittels Lissabon Westeuropa noch enger an die NATO gebunden, während die anti-russischen Kräfte in Osteuropa gestärkt werden und die EU in den Anti-Islam-Kreuzzug der Amerikaner eingebunden wird. Der Grieche sieht in Lissabon einen weiteren Schritt zur transatlantischen Trutzburg der wohlhabenden Industrienationen, die ihre ausbeuterische Vision der Globalisierung den Ländern des Südens aufzwingen wollen - notfalls mit militärischer Gewalt. Statt dessen trat Karabelias für eine weltweite Demokratisierung bei gleichzeitiger Stärkung der Rechte der Menschen auf lokaler Ebene und größtmöglichem Respekt für ethnische, kulturelle und religiöse Eigenarten der Völker ein.

Rainer Braun sieht die Regierung Barack Obamas auf den gleichen Abwegen wie die George W. Bushs: Der Af-Pak-Krieg am Hindukusch droht zum zweiten Vietnam zu werden; die Militärausgaben der USA nehmen weiter zu, während Washington sogar nicht europäische Alliierte wie Japan, Australien in die NATO - will heißen in die Containment-Strategie gegenüber China und Rußland - aufnehmen will. Laut Braun muß die Friedensbewegung weltweit mehr Druck auf Obama und die anderen westlichen Regierungschefs ausüben, damit diese bei der Konferenz 2010 zum Nicht-Verbreitungsvertrag endlich konkrete Schritte zur Abschaffung aller Atomwaffen in die Wege leiten. In diesem Zusammenhang lud Braun alle zur Konferenz im Oktober in Berlin ein, bei der der nächste Anti-NATO-Gipfel für den kommenden Sommer in Portugal organisiert wird.

Ähnlich argumentierte John Feffer. Der Ko-Direktor des Projekts Foreign Policy on Focus beim IPS meinte, die NATO habe sich in Afghanistan übernommen, während die USA selbst in großen finanziellen Schwierigkeiten steckten, weshalb unter der außenpolitischen Elite in Washington eine heftige, wenn auch nicht ganz öffentliche Debatte um den strategischen Kurs des Landes tobe. Zum Beleg führte Feffer den jüngsten Eintritt von Zbigniew Brzezinski in der einflußreichen Zeitschrift Foreign Policy für eine multipolare, kooperative Weltordnung der Großmächte oder das Desinteresse Lockheed Martins am Bau weiterer Kampfflugzeuge vom Typ F-22 an, die aus Sicht des Pentagons überflüssig sind und die nur deshalb in die Produktion gehen sollen, weil sich davon irgendwelche Kongreßabgeordnete und Senatoren den Erhalt von Arbeitsplätzen in ihrem Wahlbezirk versprechen. Wenn die Friedensbewegung den Druck auf Obama verstärke, ließe sich ein Krieg gegen den Iran verhindern und eine Abkehr von der ansonsten scheinbar nicht zu stoppenden Militarisierung Amerikas erreichen, so Feffer.

Harry Bommel ging auf die Post-Obama-Diskussion überhaupt nicht ein, sondern griff statt dessen das Thema der europäischen Integration erneut auf und erläuterte die Gründe des Neins der Niederländer zur EU-Verfassung 2005. Er appelliert an die Iren, ihr Nein zu Lissabon von letzten Jahr zu wiederholen, weil ansonsten ein Ja einem "Blankoscheck" für die EU-Eliten, besonders die in den großen Mitgliedsstaaten, gleichkäme. Bommel erklärte, ein Nein zu Lissabon im Oktober wäre ein großer Sieg für die einfachen Menschen in Europa und eine herbe Niederlage für diejenigen, die alles besser zu wissen und deshalb bestimmen zu können meinen. Selbst wenn das Referendum mit einem Ja ausgehen sollte, würde laut Bommel der Kampf für eine gerechtere Gesellschaft in der EU nicht enden, sondern lediglich in die nächste Runde gehen. Mit diesen Worten sprach er sicherlich allen Teilnehmern der sehr gelungenen Konferenz aus dem Herzen.

Zwei Tage nach der Konferenz in Shannon, die Tobias Pflüger am Abend des 5. September einen kurzen Auftritt in den Abendnachrichten des staatlichen irischen Fernsehsenders RTÉ beschert hatte, reichte ein Blick in die Montagsausgabe der Irish Times, um zu erkennen, daß nach dem Rückgang der Zustimmung für den Lissabon-Vertrag bei der jüngsten Umfrage die Nerven auf der Ja-Seite blank liegen. In der Zeitung war zu lesen, daß der notorische Europhile Pat Cox die Lissabon-Gegner als "Irlands Ajatollahs", die das Land angeblich "zurück in die Steinzeit führen" wollten, beschimpfte und daß der Kommentator Tony Kinsella behauptete, die Neutralität Irlands habe den Zweiten Weltkrieg verlängert und sei damit auch für den Holocaust und die Zerstörung Dresdens mitverantwortlich. Kommt es in den nächsten Wochen zu noch mehr solcher hysterischer Ausbrüche seitens der Lissabon-Befürworter, dürfte die Anzahl der Abkommensgegner weiter anwachsen.

11. September 2009