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EUROTREFF/012: Eugene McCartan - Irlands Kommunisten lehnen EU ab (SB)


Eugene McCartan - Irlands Kommunisten lehnen EU ab

Generalsekretär der CPI erläutert die Bedeutung des Lissabon-Vertrags


Im Herzen Dublins, in der East Essex Street, einen Steinwurf von der Ha'Penny Bridge entfernt, findet man Connolly Books. Der Buchladen, der ein umfassendes Sortiment Literatur über Politik und Kultur bietet und nach James Connolly, dem größten Sozialisten Irlands und hingerichteten Anführer des Osteraufstandes von 1916, benannt ist, fungiert gleichzeitig als Hauptquartier der Communist Party of Ireland, Páirtí Cummanach na hÉireann. Am 31. Juli, kurz vor der sehr empfehlenswerten gälischen Sprechrunde, die über Kaffee und Gebäck jeden Freitag um 13 Uhr im Connolly Books beginnt, führte ein Vertreter des Schattenblicks mit dem Manager des Ladens, Eugene McCartan, der zugleich Generalsekretär der Kommunistischen Partei Irlands ist, folgendes Gespräch:

SB: Herr McCartan, könnten Sie uns die Haltung der CPI allgemein der EU gegenüber und zum Lissabon-Vertrag im besonderen erläutern?

EM: Die Communist Party of Ireland kämpft seit den frühen sechziger Jahren gegen die Europäische Union und gegen das, was sie repräsentiert. In der Zeit, als das Referendum über den Beitritt Irlands zur damaligen Europäischen Gemeinschaft stattfand, haben wir uns gegen die Mitgliedschaft eingesetzt. Seitdem haben wir in der CPI durchgängig die Entwicklung der EG/EU, ihre Richtung und ihre Auswirkungen auf die irische Demokratie, die irische Wirtschaft und die irische Arbeiterbewegung kritisiert. Wir haben alle Verträge bekämpft, die seit dem Beitritt Irlands zustande gekommen sind, von Maastricht, Nizza und Amsterdam bis zum aktuellen Abkommen von Lissabon. Wir haben gegen diese Verträge gekämpft, weil wir sie als Bausteine für die Konstruktion eines Europas des Großkapitals und der Monopole ansehen, etwas, das wir in traditionellen Begriffen als einen imperialistischen Block definieren. Einige Menschen begrüßen das als wichtige Entwicklung mit dem Argument, daß eine so beschaffene EU ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten bildet und sichert, daß diese nicht den einzigen imperialen Block darstellen. Das ist ein Argument, das wir nicht akzeptieren würden. Aus dem Grund haben wir uns unbeirrbar gegen die Schaffung dieses hochzentralisierten, antidemokratischen Superstaates eingesetzt. Ich denke, daß die historische Entwicklung bereits bestätigt hat, wie logisch unsere Gegnerschaft zur entstehenden EU in den 1960ern und besonders seit dem Beitritt der irischen Republik zur EG 1973 sowie unsere Kritik an der Richtung, die das ganze Projekt nimmt, gewesen ist.

Bei dem, was sich derzeit im Aufbau befindet, handelt es sich um einen massiven Superstaat, der seinen Mitgliedstaaten dem Gesetz nach übergeordnet ist. Der Lissabon-Vertrag soll die letzten Bausteine in die Mauer dieses Superstaates einfügen. Das bedeutet, daß die Europäische Union als Institution in internationalen Foren wie den Vereinten Nationen und der WTO gegenüber ihren Mitgliedstaaten den Vorrang einnehmen wird. Bei den Vereinten Nationen, ob Sicherheitsrat oder Generalversammlung, werden alle EU-Mitglieder beiseite stehen und es der Europäischen Union erlauben müssen, für sie zu sprechen. Wenn die Europäische Union in einer bestimmten globalen Krise oder einer Frage internationaler Politik einen Standpunkt einnimmt, müssen die Mitgliedstaaten sich an diese Position halten. Die EU wird also in internationalen Gremien mit einer einzigen Stimme sprechen.

Das wirkt sich in der Folge dann so aus, daß die irische demokratische Meinung zum Verstummen gebracht und die irische Neutralität aufgehoben wird. So wie die Londoner Regierung für das irische Volk gesprochen hat, als wir unter der Herrschaft der Briten standen, so werden in Zukunft die EU-Kommission, der EU-Präsident und der EU-Außenminister für alle Völker Europas einschließlich der Iren sprechen. Aus unserer Sicht ist das vollkommen inakzeptabel und undemokratisch. Es setzt sich über wachsende Forderungen der Massen der Völker und Arbeiter nach mehr Demokratie, nach einer stärkeren Kontrolle über die Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, hinweg - sei es im wirtschaftlichen, politischen, sozialen oder kulturellen Bereich.

SB: Auf welche Weise hat Ihrer Meinung nach die Mitgliedschaft in der EU und/oder der Eurozone zu Irlands aktueller Wirtschaftsmisere beigetragen?

EM: Nun, wir waren aus ganz bestimmten Gründen dagegen, daß Irland dem Euro beitritt. Irland hat eine kleine, offene Wirtschaft, die sehr abhängig ist von multinationalem Kapital letzteres ein Ergebnis einer sehr bewußten Politik, die von aufeinanderfolgenden Regierungen in den letzten 40 Jahren verfolgt worden ist. Der Euro ist ein grundlegender Bestandteil dieses zentralisierten Superstaates, über dessen Wirtschaftspolitik in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Kapitalismus die großen Wirtschaftsmächte entscheiden werden. Als Folge davon werden die Euro-Leitzinsen von den dominierenden Mächten in der Wirtschaft, vorrangig dem deutschen Monopolkapital, bestimmt. Also hat die Europäische Zentralbank während der Boomzeit in Irland die Leitzinsen niedrig gehalten, weil es zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft erforderlich war. Zu jener Zeit wären höhere Zinsen besser für Irland gewesen, um unseren Boom zu dämpfen. Indem sie die Zinsen niedrig hielt, hat die EZB die irischen Banken zu spekulativen Investitionen ermuntert, die zu dieser massiven Immobilienblase geführt haben, unter deren Zusammenbruch wir derzeit leiden und infolge dessen einige Menschen in Irland mit Hypotheken von 100%, 120% auf Wohnhäuser belastet worden sind, die einen großen Teil ihres Wertes verloren haben. Die Bedienung bzw. Rückzahlung dieser Hypotheken machen nicht wenigen Menschen jetzt schwer zu schaffen.

Ein weiterer Grund, aus dem wir uns gegen die Mitgliedschaft in der EG und der Eurozone gestellt haben, hatte mit dem Wesen der Europäischen Union und der zeitgenössischen bürgerlichen Demokratie zu tun, die man als eine Form gütigen Feudalismus' bezeichnen könnte. In einem solchen Zusammenhang hat die herrschende Klasse solche Strukturen wie diese Komitees sogenannter unabhängiger Experten geschaffen, die auf der Basis "rein objektiver Kriterien" angeblich ideologiefreie Lösungen für politische, wirtschaftliche und soziale Probleme präsentieren.

SB: In Deutschland spielt die Bertelsmann-Stiftung eine führende Rolle in solchen Prozessen.

EM: Im Fall der EZB also wurde eine sogenannte unabhängige Bank gegründet, deren Vorstandsmitglieder in ihrer Entscheidung keinem politischem Druck unterliegen. Der hauptsächliche Grund dafür war sicherzustellen, daß nationale Arbeitervereinigungen in der EU, sei es in Deutschland, Frankreich, Britannien, Irland oder wo auch immer, den Entscheidungsprozeß nicht beeinflussen konnten. Das hat die Überlegungen der EZB aus dem Bereich der widerstreitenden politischen Kräfte in den Nationalstaaten entfernt. Mit anderen Worten: Die politische Elite in der EU hat eine Zentralbank geschaffen, die außerhalb der demokratischen Kontrolle, der demokratischer Rechenschaftspflicht und vor allem des demokratischen Drucks steht. Damit haben sie die normalen Menschen ihrer demokratischen Möglichkeit beraubt, Entscheidungen zu treffen und zu ändern, die von fundamentaler wirtschaftlicher und sozialer Konsequenz sind.

In der typischen bürgerlichen Gesellschaft werden Wirtschaftsfragen kontrovers debattiert - bei den Wahlen, auf der Straße, in Debatten. Aber wenn erst einmal die Wirtschaftspolitik aus dem Bereich des demokratischen Kräftespiels entfernt worden ist, wird die Frage der Ökonomie zu einer Frage des Rechts. Mit Hilfe der EZB und des Lissabon-Vertrags entscheidet die EU-Elite per Gesetz, wie die Wirtschaftsstrukturen, wie die Wirtschaftsbasis der Europäischen Union beschaffen sein soll. Sie erklären, daß es nur einen Weg gibt, die Gesellschaft ökonomisch zu organisieren, d. h. in Übereinstimmung mit dem neoliberalen Modell. Es gibt keine Diskussion, keine Debatte. Sie nehmen die Frage der Ökonomie aus den Sphären der demokratischen Debatte und legen alles in die Hände von Experten. Wann auch immer ein Problem auftritt, beruft die EU ein Expertenkomitee, das sich damit befaßt, genau wie im Feudalzeitalter. Wann immer der König ein Problem hatte, rief er seinen Beraterstab zusammen, der dann eine Lösung des Problems präsentierte. Im Feudalismus wurde der Pöbel nie konsultiert, und genau das passiert auch unter dem Kapitalismus. Die Massen werden nicht befragt. Sie sind nicht in der Lage, eine Veränderung zu bewirken, weil politische Fragen außerhalb der demokratischen Kontrolle stehen.

SB: In welchem Maße, denken Sie, sind sich die irischen Arbeiter und Intellektuellen der neoliberalen Agenda der Europäischen Union bewußt?

EM: Die irischen Arbeiter sind sich dessen sehr deutlich bewußt. Das ist einer der Gründe, wieso 70% der Menschen, die mit Nein zu Lissabon gestimmt haben, Arbeiter waren. Danach hat die irische Regierung viel öffentliches Geld ausgegeben, um ganz grundsätzlich herauszufinden, warum die Iren den Vertrag abgelehnt haben. Das rührte nicht aus irgendeinem demokratischen Interesse, sondern allein daraus, festzustellen, an welches Publikum, an welche Bereiche der Gesellschaft sie ihre Propaganda richten sollten, um bei der Wiederholung der Abstimmung zu gewinnen.

Im Verlauf dieser Untersuchung fand man heraus, daß ein hoher Prozentsatz der Menschen aus Sorge um die Arbeiterrechte mit Nein gestimmt hatte. Also ist das ein wichtiges Thema. Zwei der führenden Gewerkschaften in Irland, TWU, die größte Fachgewerkschaft, und UNITE, eine der größten allgemeinen Gewerkschaften, bleiben Gegner des Lissabon-Vertrags. Die größte Gewerkschaft des Staates, SIPTU, bezieht aufgrund einer tiefen Spaltung unter ihren Mitgliedern über ein Ja oder Nein eine neutrale Position. Die Gegnerschaft von weiten Bereichen der Arbeiter- und der Mittelklasse zu Lissabon war zu nicht geringem Teil ein Ergebnis der People's Movement, das Material über die indirekten Folgen des Laval-Urteils und des Viking-Urteils des Europäischen Gerichtshofes veröffentlicht hat (das Ruffert-Urteil fiel erst kurz nach dem Referendum in Irland).

Die People's Movement, die CPI und die anderen Gruppen in der Nein-Kampagne waren sehr erfolgreich darin, die Grundrechtecharta, einen der Hauptaspekte, mit dem der Lissabon-Vertrag verkauft werden soll, als Unsinn bloßzustellen. Es ist uns gelungen zu zeigen, daß die Grundrechtecharta - wenn man vorher nicht schon Rechte hatte - überhaupt keine Rechte verleiht. Tatsächlich besagt die Grundrechtecharta, daß die Rechte der EU-Bürger dem Markt untergeordnet sind. Mit anderen Worten: die Rechte des Einzelnen sind nicht grundlegend, sondern im Gegensatz bedingt. Grundrechtecharta ist also eine Falschbenennung. Es ist eine Charta bedingter Rechte, weil der Markt Priorität hat und deshalb die Rechte des Marktes über denen der Arbeiter stehen. Der Lissabon-Vertrag schreibt also den Neoliberalismus fest und verkleidet ihn zugleich als Grundrechtecharta.

Im Moment versuchen wir, diese Koalition der Kräfte, von Arbeitern, Kleinbauern, Fischern, von allen möglichen Menschen, die sich in Opposition befinden, wieder zu stärken. Was die akademische Welt betrifft, so würde ich die überwiegende Mehrheit der Leute dort als politische Prostituierte beschreiben. Dennoch würde ich zwischen Akademikern und Intellektuellen unterscheiden. Ein bedeutender Prozentsatz der Akademiker ist pro-EU und pro-Lissabon. Aber wenn man versucht, sie über das Wesen oder den Inhalt des Vertrages ins Gespräch zu ziehen, stellt man fest, daß die überwältigende Mehrheit von ihnen ihn nicht gelesen hat. Das gleiche trifft auf die überwiegende Mehrheit der politischen Repräsentanten aller großen Parteien zu, sei es auf der nationalen oder der kommunalen Ebene. Weder haben sie den Vertrag gelesen noch verstehen sie ihn. Alles, was man von ihnen hört, ist, daß Europa gut für uns gewesen ist; es hat dies, das oder jenes bewirkt. Selten einmal beziehen sie sich wirklich auf etwas, das im Vertrag steht. Die meisten Akademiker in Irland wollen aufgrund ihrer Abhängigkeit von Fördergeldern, sei es vom Staat oder der EU, die Hand nicht beißen, die sie füttert.

SB: Man hat sie also im Grunde gekauft.

EM: Ja. Man hat sie zum Schweigen gebracht.

SB: Und die Intellektuellen? Sie haben eine Unterscheidung gemacht zwischen ihnen und den Akademikern.

EM: Eine ansehnliche Zahl Intellektueller in Irland ist kritisch eingestellt und wendet sich gegen Lissabon. Wir sprechen jetzt über Menschen, die versuchen selbständig zu denken, die eine eher langzeitigere Perspektive haben und in der Lage sind zu sehen, woher wir gekommen sind, wo wir stehen, wohin die Reise geht und in was wir hineingezogen werden könnten. Viele dieser Menschen, die das Leben aus einem kritischen Blickwinkel heraus betrachten, haben sich dafür ausgesprochen, mit Nein zu stimmen. Das sind wichtige Stimmen, ob nun aus einem Kulturbereich oder sonst woher, die aus sehr eindeutigen Gründen erhoben wurden, denn diese Menschen haben die Frage durchdacht, wo wir stehen und wo uns das wahrscheinlich hinführen wird. Sie haben diesen ganzen "Europa ist gut für uns"-Schmu durchschaut.

Was das Argument angeht, Europa sei gut für uns gewesen, sehe ich als Kommunist die Europäische Union nicht als Lösung für die Probleme der Werktätigen in Europa an. Statt dessen betrachte ich sie als Hindernis für die Entwicklung einer fortschrittlicheren, demokratischen, auf die Werktätigen ausgerichteten Region. Meine Ansichten lassen sich ganz einfach erklären: Wenn den Menschen die Europäische Union angedreht werden soll, wenn diese von den europäischen Monopolen, Großkonzernen, den europäischen Banken unterstützt wird, wenn der Runde Tisch der Europäischen Industriellen die Verfassung aufgesetzt hat und nach ihrem Scheitern in Frankreich und den Niederlanden auf die Idee gekommen ist, daß man sie vielleicht unter anderen Namen durchbekäme - das heißt mit dem Lissabon-Vertrag, mit dem man, statt es mit einem einzigen großen Knall in Form einer neuen Verfassung zu installieren, alle vorhergegangenen Verträge ändert -, wenn die Großunternehmer Europas diese Strukturen, die sie schaffen, befürworten, dann können diese nicht im Interesse der Werktätigen liegen. Das ist eine sehr einfache, fundamentale Meßlatte.

Eugene McCartan, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Irlands

SB: Das hauptsächliche Thema, das in Irland derzeit diskutiert wird, sind die Pläne, die Finanzminister Brian Lenihan kürzlich in Bezug auf die Einsetzung einer "National Asset Management Agency" (NAMA) veröffentlicht hat, die 90 Milliarden Euro ausgeben soll, um den Banken und Baugesellschaften ihre "toxischen Schulden" abzukaufen. Ein interessanter Aspekt bei diesen Plänen ist die Tatsache, daß denjenigen Firmen, die ihre unrentablen Immobilien oder ihre faulen Kredite NAMA übergeben, Anonymität garantiert wird. Man kann Mutmaßungen anstellen, daß diese Garantie die großen Bauherren und leitenden Bankiers davon abhalten soll, gewisse Politiker zu belasten, wenn ihre ganzen Machenschaften offengelegt würden. Legt dies nicht den Schluß nahe, daß die Führung der Regierungspartei Fianna Fáil schwerstens korrumpiert worden und aus dem Grunde empfänglich für Erpressung durch die großen Bauherren und die Banken ist und daß das den Grund für die Anonymitätsgarantie darstellt?

EM: Das könnte schon gut der Fall sein. Ich glaube nicht unbedingt an die verschwörungstheoretische Interpretation der Geschichte, aber das heißt nicht, daß es keine Verschwörungen gibt. Ich würde es so sehen, daß es sich bei dem, was wir hier haben, um gemeinsame Klasseninteressen dreht. In Irland waren die großen Bauherren und großen Bodenspekulanten jahrzehntelang die Hauptfinanziers aller politischen Parteien des Staates: Fianna Fáil, Fine Gael und in geringerem Maße Labour. Die ganze politische Klasse ist also aufgrund ihrer Beziehungen zum Großkapital korrumpiert. Im Grunde genommen betreibt die irische Regierung mit NAMA die Vergesellschaftung von Schulden, die nicht von den einfachen Menschen, sondern von den spekulierenden Investoren und großen Baugesellschaften gemacht wurden. Im Januar mußte die Regierung die eine Bank, die Anglo Irish Bank, verstaatlichen, weil diese massive Spekulationsgeschäfte getätigt hatte und vom Bankrott bedroht war. Sowohl die Investoren in der Bank als auch jene, denen die Bank Geld geliehen hatte, gehörten zur Crème de la Crème der herrschenden Klasse Irlands.

SB: Zum sogenannten Golden Circle.

EM: Das stimmt, zum berüchtigten Golden Circle; Insider, die wegen hoher Renditen Geld bei der Anglo Irish angelegt haben oder die Geld von der Bank für ihre eigenen Spekulationsinvestionen geliehen hatten.

SB: Zum Beispiel für die Entwicklung des Dubliner Hafengeländes.

EM: Das Dubliner Hafengelände, ja, aber auch an Orten wie Bulgarien, Türkei, New York, Dubai, Chicago, Schanghai und der London City. Es handelte sich um Hochrisikospekulationen, aber es gab auch hohe Renditen. In gewisser Weise ernährte sich Irlands herrschende Klasse aufgrund der möglichen hohen Renditen, die damit verbunden waren, voneinander. Zur Finanzierung dieser ganzen Spekulationen haben die irischen Banken in großem Ausmaß Kredite auf dem internationalen Markt aufgenommen, was dazu geführt hat, daß sie mit in das Chaos gerieten, das der Zusammenbruch des Immobilienmarktes in den Vereinigten Staaten verursachte.

Das war in vielerlei Hinsicht ein Beispiel für den Kapitalismus selbst, der sich freikauft und sich vom Tag der Abrechnung mit dem Problem der Überproduktion fernhält. Wir sehen die derzeitige globale Wirtschaftskrise nicht als etwas, das sich von früheren Krisen des Kapitalismus unterscheidet. Wir sehen sie in der Tat als eine wahrscheinliche Manifestation des wiederkehrenden fundamentalen Problems des Kapitalismus, d. h. der Überproduktion, bei der mehr Güter produziert werden, als die Menschen in der Lage sind zu konsumieren. Der Konsum wurde aus dem Grund mit einem kriminell liberalen Kreditsystem auf künstlich hohem Niveau gehalten. Mit anderen Worten schoben die Banken den Tag des Gerichts der Überproduktion hinaus, indem sie die Kredite ausweiteten. Das hat schließlich zu einer Situation geführt, in der die Menschen nicht mehr über das nötige Guthaben zum Kauf der produzierten Konsumgüter verfügten, das war der Fall, als die Autoindustrie praktisch zusammenbrach.

Viele Menschen insbesondere in Irland, Britannien und den USA waren hoch verschuldet, da sie ihren Konsum durch Kredite finanziert hatten, indem sie eine erneute Hypothek auf Wohnhäuser und Grundstücke aufnahmen, deren Wert dramatisch sank, als die Immobilienblase platzte. In Europa lagen, ausgenommen in Spanien und in einigen osteuropäischen Ländern, die auch Immobilienblasen erlebt haben, die persönlichen Schulden zum großen Teil nicht so hoch. Trotzdem wurden die Exporte der europäischen Industrie, insbesondere der Autoindustrie, in die Vereinigten Staaten und nach Britannien und überall sonst wohin durch die Kreditklemme bei ihren potentiellen Kunden in Übersee schwer in Mitleidenschaft gezogen. Indirekt wurde also die Überproduktionskrise in Europa durch den völligen Zusammenbruch des Kreditmarktes in den Vereinigten Staaten und verschiedenen anderen Ländern hervorgerufen.

Kehren wir nach Irland zu den Immobilienspekulanten und NAMA zurück. Mit Hilfe der NAMA will die derzeitige Regierungskoalition von Fianna Fáil und den Grünen alle toxischen Vermögenswerte aufkaufen. Diese Schulden, die nicht durch die Menschen in Irland, auch nicht zum Wohle der Menschen in Irland, sondern durch die Gier und die Fehlkalkulationen unser eigenen Eliten im Banken- und Immobiliensektor entstanden sind, werden wir wahrscheinlich noch in den nächsten ein oder zwei Generationen abbezahlen. Trotz der Jahre des "keltischen Tigers" haben wir immer noch die überfülltesten Schulen und eine der schlechtesten Krankenhausversorgungen in Europa. Wir haben auch eine hohe Privatverschuldung. Weil der Staat keinen öffentlichen Wohnraum gebaut hat, wurden die Menschen auf den privaten Markt gezwungen, auf dem die Banken in der Hochzeit des Booms Kredite von 100% oder 120% gegeben haben. Jetzt sind viele Menschen mit Häusern belastet, deren Wert im vergangenen Jahr um fast ein Drittel gesunken ist und deren reiner Wert jetzt im negativen Bereich liegt. Ihre Immobilien sind weniger wert als die Hypotheken, die sie ursprünglich aufgenommen haben.

Das ist ein riesiges Problem für Menschen, wenn sie einfach umziehen wollen oder ihre Häuser verkaufen müssen, weil sie arbeitslos geworden sind. Viele Menschen haben große Schwierigkeiten, ihre Raten zu zahlen. Wenn man arbeitslos wird, deckt die Sozialhilfe weder die Schulden noch die Abzahlungsverpflichtungen. Die Banker werden anders behandelt als die Werktätigen. Der irische Staat schickt sich an, sie völlig von ihren Schulden zu entlasten. Wenn man nach früheren Erfahrungen urteilen kann, wird die irische Regierung am Ende möglicherweise einen übermäßigen Preis für Bankanlagen ohne wirklichen Wert bezahlen. Wie schätzt man den wahren Wert der Geldanlagen an Orten wie Bulgarien, der Türkei, Schanghai oder wo auch immer? In vergleichbaren Fällen von Verstaatlichung privater Schulden überall in der entwickelten kapitalistischen Welt kauft der Staat immer teuer ein und verkauft im Verlauf der Privatisierung oder Reprivatisierung billig. Das geschieht, wenn der Staat selbst im Interesse der herrschenden Elite fungiert.

SB: Darum kaufen sie auch nicht die Tausende neuer Häuser, die zur Zeit unbewohnt sind, und verwandeln sie in Sozialwohnungen.

EM: Sie würden sagen, daß das einem unzulässigen Eingriff in den Markt entspräche.

SB: Was für eine Überraschung.

EM: Der irische Staat wird also einen hohen, überteuerten Preis für diese toxischen Vermögenswerte bezahlen, und dann, wenn die Situation Fortschritte macht oder wenn es eine gewisse Bewegung auf dem Markt gibt, sie billig verkaufen. Also werden die werktätigen Menschen im Grunde doppelt von ihrer eigenen Regierung zur Kasse gebeten. Sie verlieren Geld, weil sie viel zu viel für die Wertpapiere zahlen, und sie verlieren erneut, wenn diese später unter Wert verkauft werden.

SB: Sie haben einen wichtigen Punkt angesprochen, als sie auf die Krise der Überproduktion hingewiesen haben. Ist es jedoch nicht vielleicht etwas kurzsichtig, von einer Krise der Überproduktion zu sprechen, wenn wir uns einer Milliarde Menschen auf dem Planeten gegenüber sehen, die verhungern, und weitere ein bis zwei Milliarden in jämmerlicher Armut leben?

EM: Nun, das Problem, wenn man über den Kapitalismus spricht und dann über Logik, ist, daß sie nicht übereinstimmen. Die Logik des Kapitalismus ist die Profitmotivation. Die Priorität des Kapitalismus ist die Maximierung des Profits. Was die Lebensmittelproduktion und - verteilung in den meisten sogenannten Entwicklungsländern angeht, so bewegen sie sich im Süden rückwärts; sie entwickeln sich zurück. Der Lebensstandard der Menschen in diesen Ländern fällt; Armut und Hunger breiten sich aus. Diese Gesellschaften werden in ihre Entwicklung durch die Strategien, die die EU und die Vereinigten Staaten, die zwei imperialen Blöcke, mit Hilfe von Institutionen wie der WTO, dem IWF und der Weltbank verfolgen, richtiggehend zurückgeworfen.

Die Strategien also, die der Kapitalismus, der Imperialismus selbst verfolgt, verstärken die Schwierigkeiten, denen die Mehrheit der Erdbevölkerung gegenübersteht. Das CO2-Handelssystem zum Beispiel, das die Regierungen der führenden Industrienationen als ein Mittel ausgedacht haben, das die Treibhausgasemissionen reduzieren und damit die Welt vor den schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels bewahren soll, das System ist eine absolute Farce, denn Irland kann zum Beispiel die CO2-Rechte eines Landes in Afrika kaufen, das wenige oder keine Treibhausgase emittiert, und dann damit fortfahren, soviel CO2 zu produzieren, wie es will. Das ändert überhaupt nichts an der Menge an CO2, die produziert wird. Es ist nichts als ein Beruhigungsmechanismus, der das Problem vorgeblich in Angriff nimmt, während die, die mit CO2-Zertifikaten handeln, reich werden.

Die Medien, die akademische Welt und die Nicht-Regierungsorganisationen, sie stecken alle mit darin, und verkaufen den CO2-Handel und andere unlautere Projekte als Lösungen für die Probleme der Menschheit. Wie ich sagte, eine gütige Form des Feudalismus. Unterdessen wird die revolutionäre oder demokratische Perspektive der Menschen fortwährend an den Rand gedrängt. In den unterschiedlichsten Situationen werden Menschen ständig vor vollendete Tatsachen gestellt. Wir sprechen hier über angewandte Sozialwissenschaften. Es gibt keine wirkliche Diskussion oder Debatte, es geht darum, geschickt Resultate in die Wege zu leiten. Wenn die herrschende Klasse nicht das Ergebnis bekommt, das sie will, dann fädelt sie etwas ein, um sicherzugehen, daß sie es beim zweiten Mal bekommt - siehe Lissabon II. Dieses zweite Referendum ist eine Farce - nicht mehr und nicht weniger. Aus dem Grund müssen die Menschen realistisch sein und abschätzen, was mit der Europäischen Union passiert. Lissabon II ist nicht eine Verirrung, sondern vielmehr Kernstück der Art und Weise, wie die Dinge in der EU betrieben werden.

SB: Dem stimmen wir zu, aber in einer Lage, in der eine Milliarde Menschen verhungern, wäre es nicht vielleicht richtiger, das vorrangige Problem als eines der ungerechten Verteilung der verfügbaren Ressourcen zu beschreiben, als als eine Krise der Überproduktion?

EM: Nun, man kann es natürlich so beschreiben, aber die Krise der Überproduktion ist nicht zu verleugnen und muß angegangen werden. Zur Zeit stehen Millionen Autos auf Parkplätzen, die niemand kaufen will, weil man sie sich nicht leisten kann. Weltweit gibt es Warenhäuser voller Computer und verschiedenster anderer Gebrauchstechnologie, die auch niemand kaufen will. Wir haben also eine Überproduktion in diesen Bereichen. Während unbezweifelbar in einigen Bereichen unter Bedarf produziert wird, gibt es zugleich eine Überproduktion in anderen. Auf dem Gebiet der Nahrungsmittel beispielsweise werden riesige Schiffsladungen mit Rindfleisch und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus Südamerika in die EU transportiert, wo sie in Irland, Frankreich und anderen europäischen Ländern eine Krise in der Landwirtschaft verursachen. Es gibt Lebensmittel, die von der industriellen Landwirtschaft in Brasilien und Argentinien sehr billig produziert und hierher gebracht werden, was vernichtende Folgen für den irischen Agrarsektor hat. Aus dem Grund gibt es einen Überschuß von Waren auf dem Markt. Die Logik des Kapitalismus bedeutet, daß kein Interesse daran besteht, die Menschen zu ernähren. Die Menschen werden nur ernährt, wenn sie dafür bezahlen. Wenn nicht, können sie zur Wohlfahrt gehen.

SB: Oder hungern oder sterben.

EM. Oder die Vereinten Nationen werden sie mit Nahrungsmitteln versorgen. Die Vereinten Nationen kaufen also den Überschuß, der in der Europäischen Union oder in Lateinamerika oder wo auch immer produziert wird, zu Marktpreisen und verteilen ihn unter den hungernden Millionen. Es ist also eine Krise der Überproduktion, ganz einfach, weil die Gesetze des Marktes vorherrschen und die Ergebnisse bestimmen. Man muß auf sehr fundamentale Prinzipien zurückkommen, wenn man dieses Modell verstehen will.

SB: Könnten Sie uns vielleicht etwas über den Streit über die Gaspipeline in Rossport in County Mayo erzählen, die Shell dort an Land bringen will, und was das über die Wirtschaftspolitik der irischen Regierung sagt?

EM: In den frühen bis mittleren siebziger Jahren betrieb die Communist Party ein Projekt namens "Ressourcenschutzkampagne". Wir setzten uns für die Verstaatlichung aller nationalen Ressourcen ein, weil zu dem Zeitpunkt beachtliche Blei-, Zink- und Kupfervorkommen im Lande entdeckt worden waren und Marathon Oil Offshore-Probebohrungen vor der Küste der Grafschaft Cork in einem Gebiet unternahm, das man den Keltischen Block nannte. Am Ende dieser Kampagne 1975 hat die damalige Koalitionsregierung aus Fine Gael und Labour ein Gesetz erlassen, das eine 50prozentige Beteiligung des Staates an jedem Öl- oder Gasfund vorsah und vorschrieb, daß erhebliche Gewinnanteile und Steuern von den Unternehmen zu zahlen waren, die an der Ausbeutung der Ressourcen beteiligt waren. Es war nicht ganz das, was wir wollten, nämlich die völlige Kontrolle des Staates. Wir haben auch gemeint, daß solche natürlichen Ressourcen eher für die Entwicklung einer einheimischen Basisindustrie verwendet werden sollten, als sie einfach außer Landes zu schaffen.

In den Achtzigern hat die damalige Fianna Fáil-Regierung die Lizenzrechte und das Steuersystem verändert. Das bedeutete, daß große Konzerne, die diese Ressourcen tatsächlich ausbeuteten oder versuchten sie zu erschließen, am Ende eigentlich keine Steuern und Gewinnanteile bezahlen mußten. Im Fall der Corrib Gas Field hat die Regierung Anfang der Neunziger einen Vertrag mit Shell abgeschlossen, demzufolge das Unternehmen die Ressourcen ausbeuten kann und dem Staat nur dann Gewinnanteile zahlen muß, wenn diese erschöpft sind. Mit anderen Worten: Shell kann alle Ausgaben geltend machen, die mit der Erkundung, mit dem Transport des Gases an Land und mit dem späteren Abbau der Offshore-Bohranlagen verbunden sind. Und von dem Profit, der dann bleibt, wie auch immer er aussieht, zahlen sie einen Prozentsatz an den Staat.

SB: Wenn sie überhaupt einen nominellen Gewinn machen...

EM: Im Grunde hat die Regierung Shell also einen Blankoscheck ausgestellt. Shell kann später zum Beispiel geltend machen, daß es sie eine Milliarde Dollar gekostet hat, die Ressource zu erschließen, sie an Land zu schaffen und dann alle Anlagen abzubauen, und da sie nur 1,2 Millionen gemacht hat, zahlt sie lediglich für 200 Millionen einen Gewinnanteil. Im Grunde können sie bei Shell selbst entscheiden, wieviel Gewinnanteil sie zahlen werden. Einen besseren Deal könnte man sich gar nicht wünschen. Verantwortlich für diese besondere Vorzugsbehandlung ist der damalige Minister für Natürliche Ressourcen, Ray Burke. Er kam später vor Gericht und wurde 2005 wegen Steuerhinterziehung und Korruption in Verbindung mit Flächenumwidmungen im North County Dublin schuldig gesprochen, wo er 80.000 Pfund [110,000 Euro] an Schmiergeldern eingestrichen hatte.

Ray Burke ist der hochrangigste Politiker Irlands, der wegen Korruption ins Gefängnis mußte. Er hat viereinhalb Monate abgesessen. Es ist logisch zu vermuten, daß er, wenn er korrupt genug war, Geld für kleine Bodenspekulationsgeschäfte anzunehmen, auch finanziell von diesem außergewöhnlich großzügigen Vertrag mit Shell über die Erschließung des Corrib Gas Field profitiert hat. Ich denke, man müßte genauer untersuchen, wie dieser Deal zustande kam. Es ist wohlbekannt, daß die Öl- und Gaskonzerne auf Bestechung und Korruption zurückgreifen, um sich Rechte weltweit zu sichern. Warum sollte es in Irland anders sein? Darüber hinaus gibt es, beginnend mit den Sechzigern eine Tradition der Korruption in diesem Staat.

SB: Der jüngste Bericht von An Bord Snip Nua [einer von der Regierung eingesetzten Expertengruppe zur Untersuchung von Sparmöglichkeiten bei den staatlicher Ausgaben] legt den Schluß nahe, daß die Regierung und die dahinterstehenden Kräfte beabsichtigen, die aktuelle Krise dafür zu nutzen, die öffentlichen Dienste weiter zu privatisieren und weite Bereiche des sozialen Lebens à la Naomi Kleins "Shock-Strategie" den finanziellen Bedingungen des Marktes zu unterwerfen. Würden Sie dem zustimmen?

Eugene McCartan

EM: Was derzeit passiert ist, daß man die gleichen Strategien des Neoliberalismus und der Deregulierung, welche die Krise herbeigeführt haben, jetzt dafür nutzt, um die Krise zu "lösen". Aus dem Grund wird die Krise nicht "gelöst". Die Lage in Irland zur Zeit ist vergleichbar mit der in Chile, nachdem Pinochet Allende gestürzt hatte und Milton Friedmans "Chicago Boys" von der School of Economics der Universität gleichen Namens ins Land holte. Was wir jetzt haben, ist die Anwendung der "Schock-Strategie" ohne die Panzer. Potentiell erwartet uns ein Outsourcing ganzer Bereiche des öffentlichen Sektors. An Bord Snip Nua ist ein Begriff, den ich nicht verwende, weil er dazu dient, etwas extrem Negatives mit der irischen Sprache, der irischen Kultur zu verknüpfen und unser nationales Bewußtsein herabwürdigt. Ich ziehe es vor, den Begriff McCarthy-Report zu benutzen. Der Bericht über Möglichkeiten, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, der von einer Expertengruppe unter der Leitung des Ökonomen Colm McCarthy vom University College of Dublin (UCD) erstellt wurde, ist im Grunde abgefaßt worden, um zu teilen und zu herrschen und die Werktätigen des Privatsektors gegen ihre Kollegen im öffentlichen Dienst auszuspielen.

Um die Staatsverschuldung zu reduzieren und für einen Haushaltausgleich zu sorgen, schlagen die Autoren des McCarthy-Berichtes vor, die öffentlichen Ausgaben durch eine Kürzung der Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, der Pensionen und durch tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Dienstleistungen massiv zu beschränken. Der McCarthy-Report beinhaltet Vorschläge zur Schließung einiger amtlicher Ressorts und einer großen Anzahl halbstaatlicher Einrichtungen. Das wird dazu führen, daß viele Dienstleistungen, die früher vom Staat erbracht wurden, an Privatunternehmen ausgelagert werden. Auf diese Weise werden die politische Klasse und ihre finanziellen Unterstützer sogar noch weiter von der "Lösung" der Krise profitieren, die sie selbst verursacht haben. Einen "Big Bang" wie das, was in Chile passiert ist, wird es nicht geben. McCarthy hat die 100%-Position dargelegt, und die Regierung wird die 50%-Position ausführen, was ihnen zu behaupten ermöglichen wird, daß es noch viel schlimmer hätte kommen können. Die Vorschläge des McCarthy-Reports beweisen das, was ich vorhin über diese unabhängigen Expertenkomitees gesagt habe. Ihr Denken ist alles andere als nicht-ideologisch, denn sie vertreten das gleiche Establishment wie die politische Elite und verfolgen die gleichen Klasseninteressen.

SB: Das Nein-Votum im letzten Jahr und jüngste Erfolge der Linken bei den kommunalen und EU-Wahlen im vergangenen Juni scheinen nicht allein auf eine Radikalisierung der Arbeiterklasse hinzudeuten, sondern auch auf eine größere Zusammenarbeit unter den linken politischen Parteien. Wäre dieser Eindruck richtig?

EM: Es gibt eine alte Redewendung: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.

SB: Gut, aber wir sprechen über zwei Schwalben: Das Nein zu Lissabon und die Kommunal- und Europa-Wahlen.

EM: Was die Ablehnung des Lissabon-Vertrags betrifft, wäre ich anderer Meinung als einige linksgerichtete Analysen des Ergebnisses. Das Nein-Votum kam durch eine Allianz bestimmter Kräfte zustande. Einige standen auf der Linken und andere in der Mitte. Es waren sogar einige irische Arbeitgeber, Vertreter der irischen Unternehmerklasse, aufgrund verschiedenster Interessen mit dabei. Es war also eine sehr breite Allianz grundlegender Widerstands- und Oppositionsgruppen, weswegen man das Ganze nicht auf einen Sieg der Linke reduzieren kann. Ich würde es als Sieg der Demokratie definieren. Eine ansehnliche Zahl Menschen hat mit Nein zu Lissabon gestimmt, weil sie der Meinung sind, daß Fragen, die dieses Land betreffen wie Neutralität, Abtreibung und andere, allein von den Menschen in Irland debattiert und entschieden werden sollten. Darum geht es in der Demokratie. Es gab Geschäftsleute, die mit Nein gestimmt haben, weil sie der Meinung sind, daß die Europäische Union zuviel reguliert, nicht nur bezogen auf die Arbeiterrechte, sondern auch darauf, wie sie ihr eigenes Unternehmen zu führen haben.

SB: Oder vielleicht aus Furcht vor den Großkonzernen vom Kontinent, die auf ihre Märkte drängen.

EM: Richtig. Viele Arbeitnehmer haben den Vertrag abgelehnt, weil sie meinten, daß die EU ihre Rechte beschneidet, aber einige haben sich auch deswegen dagegen gestellt - und wir müssen das ehrlich zugeben -, weil sie befürchteten, daß er dazu führt, daß Brüssel zu viele Arbeitsmigranten ins Land läßt, was wiederum ihren Lohn unterbieten würde usw. Man kann das also nicht auf reine Links-Themen reduzieren. Um auf die Kommunal- und die EU-Wahlen zurückzukommen, ich denke, daß eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Fragen mitgespielt hat, wobei regionalspezifische Themen häufig die dominierende Rolle einnehmen. Es mag eine schwere Finanzkrise in diesem Land geben, aber es gibt keine politische Krise. Analysen der Kommunalwahlen und der Europawahlen im Juni sowie der zwei Nachwahlen in Dublin South und Dublin Central, die am gleichen Tag stattgefunden haben, zeigen, daß die Mehrheit der Wähler der Arbeiterklasse von Fianna Fáil entweder zu Fine Gael oder Labour gewechselt haben. Die aufgetretene Verschiebung hat also innerhalb des etablierten politischen Blocks stattgefunden. An den Rändern hat es eine gewisse Anzahl Stimmenwechsel zu kleinen, peripheren, linken Gruppierungen wie der Socialist Party und der People Before Profit Alliance gegeben, aber das war nicht erderschütternd.

Es gibt ein großen und wachsenden Teil der Bevölkerung, dem es egal ist, der keinen Unterschied zwischen der Labour Party und Fianna Fáil und Fine Gael sieht, und es aus dem Grund als Zeitverschwendung betrachtet, wählen zu gehen. Das sind Menschen, die sich aus der politischen Diskussion zurückgezogen haben, die dem Establishment-Konsens den Rücken gekehrt haben, aber nicht nach links gewandert sind. Diese zunehmende Zahl politisch marginalisierter Menschen müssen wir ansprechen, wenn wir eine glaubhafte linke Alternative hervorbringen wollen.

SB: Und wie sehen Sie die Rolle der CPI in diesem speziellen Zusammenhang?

EM: Wir haben vor kurzem ein Wirtschaftspapier herausgegeben mit dem Titel "An Economy for the Common Good" ["Eine Wirtschaft für das Allgemeinwohl"]. Die Herausforderung für uns besteht darin, eine breite Allianz der Kräfte aufzubauen, die Kleinbauern, Fischergemeinden, Arbeiter, Arbeitslose, sogar Kleinunternehmer und kleine Händler mit umfaßt. Wir müssen einen Weg finden, diese ganzen Gruppen zu gemeinsamer Aktion zusammenzuführen. Kleinunternehmer können reaktionär und gegen Gewerkschaften eingestellt sein, stehen aber gleichzeitig durch die großen Mischkonzerne unter Druck. Aufgrund ihres geringen politischen Entwicklungsstandes sehen sie häufig nicht, daß sie und die Werktätigen, die von Natur aus in Opposition zum Großkapital stehen, ein gemeinsames Interesse teilen. Wir müssen ein tieferes politisches Verständnis für die wirtschaftlichen Zusammenhänge schaffen und gleichzeitig erklären, wo die wirkliche Auseinandersetzung stattfindet und wie eine so breite Allianz der Kräfte vorangebracht werden kann. Bei den Linken gibt es einige, die diese Ansichten nicht teilen und eine engere Herangehensweise vertreten. Sie sagen, daß alle Kapitalisten gleich sind. Wir nicht. Wir rufen nicht zur Vereinigung unserer Feinde auf. Das Ziel müßte sein, Spaltung und Verwirrung unter seinen Feinden zu säen.

SB: Die CPI ist praktisch die einzige politische Partei, deren Website vollkommen zweisprachig ist, d. h. auf gälisch und auf englisch. Das legt nahe, daß die CPI der irischen Sprache und ihrer Wiederbelebung eine wichtige kulturelle Rolle bei der Entwicklung einer demokratischen sozialistischen Gesellschaft in Irland beimißt. Wäre diese Beobachtung richtig?

EM: In unserer Analyse messen wir dem Begriff Imperialismus große Bedeutung bei. Wir betrachten Imperialismus als ein umfassendes System, ein Wertesystem, das die ökonomische, politische, militärische, soziale und kulturelle Sphäre mit einschließt. Aus dem Grund sind wir davon überzeugt, daß wir den Imperialismus an all diesen Fronten angreifen müssen, um ihn zu besiegen. Ein grundlegender Bestandteil dieses Kampfes ist die Verteidigung der irischen Kultur, und einer der entscheidenden Grundzüge liegt in der Förderung der gälischen Sprache. Wirkliche politische Veränderung kann nur stattfinden, wenn man nicht nur das politische Bewußtsein der Menschen hebt, sondern auch ihr kulturelles Bewußtsein. Damit wir verstehen, woher wir kommen und wohin wir gehen, ist es extrem wichtig, die irische Kultur und Geschichte zu verstehen. Die gälische Sprache ist ein zentrales Element, weil sich die Iren, ihre Kultur und ihre Geschichte über Tausende von Jahren hinweg so zum Ausdruck gebracht haben. Gleichzeitig stellt sie keine bloße Fundgrube für die Vergangenheit dar, sondern auch ein Mittel zur Schaffung einer besseren Zukunft; aus dem Grund sollte ihr Gebrauch gefördert werden.

Wir befürworten die Vielfalt. Wissenschaftlern zufolge stirbt jeden Tag eine Spezies der Tier- und der Pflanzenwelt aus. Jede Woche oder so verschwindet die Sprache einer kleinen Minderheit. Ich bin der Meinung, daß Sprache ein Spiegel des tiefen Reichtums menschlicher Erfahrung ist und je mehr davon, desto besser. Imperialismus strebt nach der Schaffung einer einsprachigen Welt. Ihre Verfechter wollen, daß die Menschen von Timbuktu bis nach Vancouver Hosen, Röcke und Büstenhalter in den Größen klein, medium und groß tragen. Sie wollen alles homogenisieren, weil sie Kultur lediglich als Mittel sehen, Geld zu machen. Sie verwandeln jeden Aspekt der menschlichen Erfahrung in Ware, sei es wie wir uns ernähren, uns kleiden oder wie wir wohnen, aber auch wie wir kommunizieren und uns ausdrücken. Sie wollen, soweit es möglich ist, eine einzige globale Kultur oder zumindest eine begrenzte Zahl von ihnen haben, nämlich diejenigen, die den Imperialismus dominieren, seien die deutsche oder die angloamerikanische oder was auch immer.

Nehmen wir zum Beispiel das Verhältnis zwischen Frankreich und den frankophonen Ländern. In diesen Beziehungen ist Französisch die Verkehrssprache. Wenn die früheren Kolonien mit Frankreich Handel treiben wollen, können sie mit den Franzosen nur französisch sprechen. Oder wenn Britannien mit seinen ehemaligen Kolonien Handel treibt, müssen die Menschen dort auf englisch kommunizieren. Man benutzt also die alten imperialistischen Verknüpfungen, die Sprache, um die Menschen weiter zu kolonisieren und ihr Denken zu kolonisieren. Also müssen wir uns davon befreien. Ich sehe es als einen Teil der Befreiung der Menschheit von der Sklaverei des Imperialismus an, daß Menschen ihre eigene Kultur und ihre eigene Sprache verteidigen.

SB: Eugene McCartan, vielen Dank.

Irische Unabhängigkeitserklärung 1 Irische Unabhängigkeitserklärung 2 Irische Unabhängigkeitserklärung 3

Die am Heldenfriedhof Arbour Hill in Dublin in Granitstein eingemeißelte Irische Unabhängigkeitserklärung, die am 24. April 1916 von Pádraig Pearse vor dem General Post Office in O'Connell Street feierlich verlesen wurde.

1. Oktober 2009