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JUSTIZ/655: Polizei nimmt Lockerbie-Ermittlungen wieder auf (SB)


Polizei nimmt Lockerbie-Ermittlungen wieder auf

In Schottland wird der Fall Lockerbie neu aufgerollt - oder?


An Verlogenheit und Ekelhaftigkeit war der wochenlange Zirkus, den im August Politiker und Pressevertreter auf beiden Seiten des Atlantiks um die Freilassung des im Endstation einer Krebserkrankung befindlichen, verurteilten Lockerbie-Attentäters Abdul Barsit Ali Mohammed Al Megrahi veranstalteten, nicht zu überbieten. Die Amerikaner warfen den Briten Wortbruch vor und meinten, der terroristische Massenmörder hätte in seiner Gefängniszelle sterben müssen. Die konservative Opposition im Londoner Unterhaus unterstellte Großbritanniens sozialdemokratischer Regierung um Premierminister Gordon Brown, El Megrahi freigelassen zu haben, um dem halbstaatlichen Energieunternehmen BP Vorteile im Kampf um die Ausbeutung der libyschen Energieressourcen zu verschaffen. Brown und Konsorten wollten die zahlreichen Hinweise, die für die Richtigkeit jener These sprachen, nicht gelten lassen und schoben die Verantwortung für die umstrittene Entscheidung auf die schottische Administration um Premierminister Alex Salmond und Justizminister Kenny MacAskill - beide von der Scottish Nationalist Party (SNP).

Das absolut Widerwärtigste an der Kontroverse war die zur Schau gestellte Empörung des Kommentariats und der politischen Elite Großbritanniens und der USA hinsichtlich des umjubelten Empfangs, den die Libyer den 57jährigen Invaliden El Megrahi bei seiner Ankunft am Flughafen von Tripolis am Abend des 20. August bereiteten. Man ließ den verheerenden Eindruck bei den Fernsehnachrichten-Zuschauern zumindest in den westlichen Industriestaaten entstehen, das libysche Volk feiere die Heimkehr eines "Topterroristen", der durch den Bombenanschlag auf den Pan-Am-Jumbo "Maid of the Seas" am 21. Dezember 1988 das Leben von 270 Menschen, die meisten von ihnen zu einer Weihnacht mit ihren Familien heimkehrende Amerikaner, ausgelöscht hatte. Die logische Konsequenz dieses Eindrucks - sofern man ihm unterlag - wäre die Annahme, die Libyer und mit ihnen alle Araber und Muslime seien einfach Tiere, die den Mord an unschuldigen Zivilisten des Abendlandes guthießen. Im Umkehrschluß hieß dies, die US-Neokonservativen hätten mit ihrer These vom "Kampf der Kulturen" doch recht; der Westen müsse den "militanten" Islam bezwingen, koste es, was es wolle, sonst fänden wir uns irgendwann alle im weltweiten "Kalifat" wieder.

Es war eine ganz kleine Minderheit, die aufrichtig genug war und sich in Zeitung, Radio oder Fernsehen die Mühe machte, das Publikum aufzuklären, daß für die Libyer Al Megrahi mitnichten ein Held ist, weil er vielleicht die über alle Maßen hochgerüsteten Imperialmächte des Westens ihre eigene Medizin schmecken ließ, sondern weil er, um seinem Land den Weg aus der diplomatischen und wirtschaftlichen Isolation freizumachen, sich freiwillig in die Hände von dessen Feinden begab, sich von ihnen für etwas, was er niemals getan hatte, aburteilen ließ und deswegen fast zehn Jahre als Unschuldiger in einem Gefängnis saß, das sich weit weg von seinen Freunden und seiner Familie befindet.

Das Perverse an der Freilassung Al Megrahis war, daß dieser, um in den Genuß eines Gnadenerlasses zu kommen und die letzten Lebenstage in Libyen verbringen zu dürfen, auf jene Berufungsklage verzichten mußte, hinsichtlich derer nicht wenige Kenner der Materie überzeugt waren, daß sie seine Unschuld endlich beweisen würde. 2007 hatte die Scottish Criminal Cases Review Commission (SCCRC) in einem über 800seitigen Bericht eine ganze Reihe von Aspekten des ursprünglichen Urteils identifiziert, bei der die Beweislage gegen Al Megrahi extrem dürftig ist, es als für eventuell fehlerhaft befunden und deshalb eine erneute Berufungsklage initiiert.

Auf diese Klage hat Al Megrahi schweren Herzens verzichten müssen. Wegen dieses unbefriedigenden Ende des Falls haben die britischen Opferfamilien, die aufgrund zahlreicher Hinweise zu der Überzeugung gekommen sind, daß die wahren Hintergründe des größten Terroranschlages, der jemals in Europa stattfand, vertuscht wurden, haben eine Kampagne gestartet, daß der SCCRC-Bericht veröffentlicht wird und daß die Regierung in London eine unabhängige Untersuchungskommission einsetzt. Wenige Tage, nachdem sie einen entsprechenden Brief mit genau dieser Forderung an Premierminister Gordon Brown in Number 10 Downing Street abgegeben hatten, meldete am 25. Oktober die konservative Zeitung Sunday Telegraph, die Polizei des Bezirks Dumfries and Galloway habe die Ermittlungen in Sachen Lockerbie neu aufgenommen. Im Bericht des Telegraph wurde aus einer entsprechenden E-Mail des Crown Office, der zuständigen Stelle im schottischen Justizministerium, an die britischen Hinterbliebenen der Opfer zitiert.

Inzwischen drängt sich immer mehr der Verdacht auf, daß es sich hier weniger um Ermittlungen im Sinne der Aufklärung, sondern vielmehr um die Fortsetzung jener Vertuschung, die man in Sachen Lockerbie seit fast 21 Jahren erlebt, handelt. Berichten der britischen Presse vom 26. Oktober zufolge steht bei den neuen Ermittlungen die Frage nach El Megrahis Schuld oder Unschuld nicht zur Disposition, sondern lediglich, ob dieser vielleicht nicht irgendwelche Komplizen hatte, die man eventuell übersehen habe. Viele Beobachter gehen davon aus, daß der Iran den Lockerbie-Anschlag von einer Gruppe radikaler Palästinenser hat ausführen lassen, um sich für den Abschuß eines mit Mekka-Pilgern vollbesetzten Airbus am 12. Juli 1988 über dem Persischen Golf durch den US-Lenkwaffenzerstörer Vincennes zu rächen. Möglicherweise steckten ganz andere Kräfte dahinter, die beispielsweise verhindern wollten, daß eine Gruppe CIA-Agenten, die, aus Beirut kommend, mit der Pan-Am-Maschine in die USA flogen, um dort über Dunkles aus dem Iran-Contra-Skandal - Drogen gegen Geiseln - zu berichten, ihre Aussagen machen konnte. Angesichts dieser Gemengelage ist von den neuen Lockerbie-Ermittlungen weniger als nichts, sondern im Grunde genommen nur noch mehr Verschaukelung zu erwarten.

26. Oktober 2009