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JUSTIZ/665: Steht neue Untersuchung des Todes David Kellys bevor? (SB)


Steht neue Untersuchung des Todes David Kellys bevor?

Zweifel an der Selbstmordthese ebben nicht ab, sondern nehmen zu


In Großbritannien mehren sich die Stimmen für eine Wiederaufnahme der Untersuchung der Ursache des Todes des Wissenschaftlers Dr. David Kelly, der im Frühsommer 2003, während er im Mittelpunkt des Streits um die Manipulation von Geheimdienstdaten bezüglich der "Massenvernichtungswaffen" Saddam Husseins zwecks Begründung des angloamerikanischen Einmarsches in den Irak stand, unter höchst mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Die Forderungen nach einer Wiederaufnahme der Untersuchung speisen sich aus zwei Quellen. Erstens stellt sich durch die Arbeit der laufenden Untersuchungskommission unter der Leitung des Richters Sir John Chilcot zu den Gründen für die Teilnahme der Streitkräfte Großbritanniens an der Irak-Invasion der USA immer mehr heraus, daß die damalige Regierung Tony Blairs sehr wohl die Geheimdiensterkenntnisse hinsichtlich der vom "Regime" Saddam Husseins ausgehenden Bedrohung mit Vorsatz übertrieben dargestellt hat. Zweitens wird Selbstmord als die offizielle Erklärung für den Tod Kellys von namhaften Medizinern und Politikern öffentlich immer mehr in Zweifel gezogen.

Angefangen hat die Affäre um Kelly am 29. Mai 2003, fast zweieinhalb Monate nach der in Großbritannien hochumstrittenen Irak-Invasion. In einem Interview der allmorgentlichen Nachrichtensendung Today von BBC Radio 4 berichtete deren Kriegskorrespondent Andrew Gilligan, er habe von einem ranghohen Beamten im Staatsapparat erfahren, daß das Amt des Premierministers im September 2002 gegen den Willen der eigenen Geheimdienstfachleute darauf gedrängt habe, dem damals veröffentlichten Dossier zur irakischen "Bedrohung" die Angaben hinzuzufügen, wonach nach Erhalt eines entsprechenden Befehls aus Bagdad die irakischen Streitkräfte die britischen Basen auf Zypern mit Raketen beschießen könnten, die mit chemischen Kampfstoffen gefüllt seien (Mit dieser Behauptung sollte für Großbritannien der Verteidigungsfall reklamiert und dem Krieg mit dem Irak völkerrechtliche Legitimität verschafft werden).

Die von der Today-Sendung ausgehende Botschaft, die in der Formulierung des Moderators John Humphrys, die Geheimdienstdaten seien "sexed up" - will heißen "aufgepäppelt" - worden, berühmt wurde, löste in der Downing Street hektische Aktivitäten aus. Der durch das Gespräch Gilligan-Humphrys entstandene und vom angesehenen Staatssender BBC verbreitete Vorwurf, Blair und seine engsten Mitarbeiter, speziell der Medienreferent Alastair Campbell, hätten das britische Volk mit gefälschten Geheimdienstinformationen gefüttert, um die Streitkräfte des Landes in einen illegalen Angriffskrieg zu schicken, mußte entkräftet werden, koste es, was es wolle.

Gleich am 30. Mai verlautete aus dem britischen Verteidigungsministerium, der Mikriobiologe David Kelly, der in den Jahren davor als Waffeninspekteur der Vereinten Nationen an der Beseitigung der irakischen ABC-WAffen beteiligt gewesen ist, habe sich freiwillig gemeldet und zugegeben, am 22. Mai mit Gilligan gesprochen zu haben. Am 16. Juni sagte ein sichtlich nervöser Kelly vor dem außenpolitischen Ausschuß des Unterhauses des britischen Parlaments aus. Er gab zu, mit Gilligan über das Thema der irakischen Massenvernichtungswaffen gesprochen zu haben, bestritt jedoch, der Blair-Regierung die Manipulation von Geheimdienstdaten unterstellt zu haben. Damit war der Vorwurf zunächst einmal entschärft worden, denn es standen die Aussagen des Journalisten Gilligan und des weltweit renommierten Biowaffenexperten Kelly einander gegenüber. Am nächsten Tag ging der 59jährige Mann in der Nähe seines Wohnhauses im Dorf Southmoor in der südenglischen Grafschaft Oxfordshire spazieren. Als er am Abend nicht nach Hause kam, schaltete seine Familie die Polizei ein. Nach einer großangelegten Suchaktion wurde Kellys Leiche am 18. Juni in einem Waldstück namens Harrowdown Hill gefunden.

Angesichts dieser aufsehenerregenden Entwicklung hat Blair den ehemaligen nordirischen Richter Lord Hutton mit einer Untersuchung des ganzen Vorfalls beauftragt. Parallel dazu hat Blairs enger Vertrauter Charles Falconer in seiner damaligen Position als Lordsiegelbewahrer angeordnet, daß die gerichtliche Untersuchung der Ursache des Todes Kellys aus Rücksicht auf die Hutton Inquiry eingestellt wurde. Im Februar 2004 kam Hutton zu dem Ergebnis, daß Gilligan in der fraglichen Today Show die Aussagen Kellys falsch wiedergegeben und daß der Biowissenschaftler sich selbst durch das Hinzufügen einer Stichwunde am Handgelenk sowie die Einnahme mehrerer Schmerztabletten getötet hatte. Als Motiv nannte Hutton den Wunsch Kellys, dem psychischen Druck der Affäre um seine Person zu entkommen. Die Schlußfolgerungen Huttons bedeuteten einen großen Sieg für die Blair-Regierung und eine herbe Niederlage für die BBC. Nach der Veröffentlichung des Untersuchungsberichts mußten Gilligan und der BBC-Vorstandsvorsitzende Gavyn Davies sowie der BBC-Generaldirektor Greg Dyke, die ihm beide bis zuletzt den Rücken gestärkt hatten, den Hut nehmen.

Doch schon damals grassierten in der britischen Öffentlichkeit starke Zweifel an der offiziellen Erklärung für den Tod Kellys. In einem am Tag vor dem Erscheinen des Hutton-Berichts in der Tageszeitung Guardian veröffentlichten Leserbrief machten die Mediziner David Halpin, C. Stephen Frost und Searle Sennett darauf aufmerksam, daß nach ihrem Dafürhalten die Schnittwunden am Handgelenk zu klein und die Menge der bei der Obduktion festgestellten Medikamente im Blut zu gering gewesen seien, als daß sie den Tod hätten herbeiführen können. Des weiteren wiesen die drei Ärzte auf Elektroden hin, die auf der Brust von Kellys Leiche gefunden worden waren und wofür es bis dahin - und sogar bis heute - keine Erklärung gegeben hat.

Seitdem hat die Selbstmordthese im Falle Kelly nur noch mehr an Glaubwürdigkeit verloren. Am 12. Dezember 2005 veröffentlichte der Observer, die sonntägliche Schwesterzeitung des Guardian, ein Interview mit Dave Bartlett und Vanessa Hunter, den beiden erfahrenen Sanitätern, die als erste am Fundort die Leiche Kellys untersucht und sie anschließend abtransportiert hatten. Diese machten gegenüber dem Observer aus ihren Zweifeln am Selbstmordurteil Huttons keinen Hehl und begründeten diese unter anderem mit dem auffälligen Mangel an Blut am Tatort. Dazu Hunter: "Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, daß er infolge der Schnittwunde, die wir gesehen haben, gestorben ist. Es gab nicht viel Blut... Wenn jemand eine Arterie durchschneidet - ob nun mit oder ohne Absicht, ist unerheblich -, dann spritzt das Blut überall hin."

Bestätigung für diese Aussage lieferte vor wenigen Tagen der ehemalige Polizeiermittler Graham Coe, der Kellys Leiche in dem Waldstück - in Sitzposition mit dem Rücken an einen Baum gelehnt - gefunden und sie rund eine halben Stunde bis zum Abtransport bewacht hat. In einem am 8. August bei der Mail on Sunday erschienenen Artikel wird Coe mit den Worten zitiert: "Ich habe nicht überall Blut gesehen. Es gab ein bißchen auf seinem linken Handgelenk, aber nichts davon auf seinen Kleidern. Auf dem Boden war kaum bis gar kein Blut zu sehen." Weder für die Angabe im Hutton-Bericht, es habe Blutflecken auf der Wasserflasche, die man neben der Leiche fand, gegeben, noch für die Behauptung des liberalen Parlamentsabgeordneten Norman Baker in dessen 2007 veröffentlichten Buch "The Strange Death of David Kelly", auf dem Gartenmesser, mit dem die Schittwunde zugefügt worden sein soll, hätten sich keine Fingerabdrücke gefunden - was gegen die Selbstmordthese spricht -, hat Coe eine Bestätigung geliefert. Gegenüber der Mail on Sunday erklärte der Detective Constable im Ruhestand: "Ich habe keine Blutflecken an der Flasche gesehen, und ich habe das Messer nicht kontrolliert."

Im vergangen Januar hat eine Gruppe von 13 Medizinern, zu der David Halpin, Stephen Frost und Searle Sennett gehören, Nicholas Gardiner, den in der Grafschaft Oxfordshire zuständigen Beamten für die Untersuchung jener Todesfälle, die nicht eindeutig eine natürlich Ursache haben, aufgefordert, seine 2004 auf Anweisung von Lord Falconer unterbrochenen Ermittlungen im Fall David Kelly wieder aufzunehmen. Bei diesem Anlaß machte die Ärztegruppe eine bemerkenswerte Entdeckung, nämlich daß Lord Hutton nach dem Abschluß seiner Untersuchung angeordnet hatte, daß nicht veröffentlichte Beweismittel für 30 Jahre und alle medizinischen Berichte sowie Fotos von der Leiche Kellys für 70 Jahre unter Verschluß gehalten werden sollten.

Durch die Abwahl der seit 1997 an der Macht befindlichen Labour-Regierung Großbritanniens, die seit 2007 von Blairs langjährigem Finanzminister Gordon Brown geführt wurde, scheint im vergangenen Mai Bewegung in den Fall Kelly gekommen zu sein. Neun Experten der forensischen Medizin, darunter der Kronanwalt Michael Powers, haben in einem offenen Brief an den neuen konservativen Justizminister Kenneth Clark die Widersprüche und Ungereimtheiten der offiziellen Todesversion dezidiert erläutert und eine Wiederaufnahme der Untersuchung Nicholas Gardiners gefordert. In dem Brief, der am 14. August in der Londoner Times veröffentlicht wurde, schreiben Powers und Kollegen, es sei "extrem unwahrscheinlich", daß Kelly durch Blutverlust infolge einer durchtrennten Arterie im linken Handgelenk gestorben sei (Vor allem deshalb, weil die Blutgefäße an der Stelle des Körpers zu klein sind; das Blut gerinnt und versiegelt die Verletzung, bevor sich der Verlust an Lebenssaft zu einer ernsthaften Todesbedrohung entwickeln kann). "In Ermangelung einer quantitativen Bemessung des Blutverlusts sowie der im Körper verbliebenen Blutmenge ist die Schlußfolgerung, daß der Tod infolge einer Blutung eintrat, unsicher", so die Powers-Gruppe.

Unterstützung haben die Zweifler hinsichtlich der offiziellen Todeserklärung im Fall Kelly - laut jüngsten Umfragen 77 Prozent der britischen Bevölkerung - inzwischen von niemandem geringeren als Michael Howard, dem ehemaligen Arbeitsminister Margaret Thatchers und Innenminister John Majors, erhalten. In einem Artikel, der am 15. August in der Mail on Sunday erschienen ist, sprach sich Howard, der während der Ära Blairs als Premierminister konservativer Oppositionsführer im Unterhaus war und seit dem Beginn der neuen Legislaturperiode als Baron Howard of Lympne im britischen Oberhaus sitzt, ebenfalls für eine Wiederaufnahme der gerichtlichen Untersuchung und eine Freigabe der medizinischen Akten aus. Howard, der vor seinem Wechsel in die Politik selbst Kronanwalt war, verwies auf die Aussagen Coes und die Expertenmeinung der bereits erwähnten Medizinergruppe und meinte, die "neuen Hinweise" hätten "ernsthafte Fragen" aufgeworfen, die nach Durchführung einer "vollständigen" gerichtlichen Untersuchung verlangten. Es liegt nun bei Howards ehemaligem Kabinettskollegen Clarke, ob der Fall David Kelly wieder aufgerollt wird oder nicht.

17. August 2010