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JUSTIZ/668: Türkische Soziologin dem "Terror"-Vorwurf ausgesetzt (SB)


Türkische Soziologin dem "Terror"-Vorwurf ausgesetzt

Freispruch für Pinar Selek vom Obersten Gericht der Türkei aufgehoben


Am Anfang stand eine Feldstudie, hinauszugehen auf die Straßen, zu den Elendsquartieren, wo die Ärmsten der Armen sich durchs Leben beißen oder Straßenkinder mit erloschenen Träumen im Blick Kleber inhalieren für ein kurzfristiges Vergessen, wo tausendfältige Mißhandlungen an Frauen ungesühnt bleiben oder Polizeiübergriffe auf Homo- und Transsexuelle mit kalter Ignoranz gutgeheißen werden, und in dieser Konfrontation zu begreifen, daß der soziologische Ansatz die Widersprüchlichkeit des gesellschaftlichen Lebens nicht aus der Welt schaffen kann und dennoch den Mut aufzubringen, um das wie immer auch schwach und unterentwickelte Nein gegen die Ungerechtigkeiten in Position zu bringen. Wenn man der türkischen Soziologin Pinar Selek etwas vorwerfen wollte, dann lediglich das Interesse an menschlichem Leid bzw. an seiner Aufhebung.

Nun droht der 38jährigen eine lebenslange Haft, falls sie aus ihrem Exil in Berlin, wo sie mit einem Stipendium des PEN-Zentrums lebt, in die türkische Heimat zurückkehrt. Am 23. November hat der Oberste Gerichtshof der Türkei in Ankara den Freispruch von 2008 aufgehoben und für den 9. Februar 2011 eine neue Verhandlung angesetzt. Formal gesehen hatte das Oberste Kassationsgericht in einer Sitzung am 22. November den Antrag seitens der Anwältin und Schwester von Pinar Selek gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt. Das kam nicht überraschend, schließlich war es das Gericht in Ankara selbst, das bereits im vergangenen Februar eine Wiederaufnahme des Verfahrens gefordert hatte.

Die türkische Presse hingegen hat die juristische Formalie zu einer lebenslangen Verurteilung von Selek "unter verschärften Bedingungen" - das heißt Einzelhaft und totales Kontaktverbot sowie eine "Begnadigung" erst nach 36 Jahren - aufgebauscht. Das war glattweg eine Falschmeldung, aber möglicherweise als politischer Warnschuß gedacht. Kurioserweise sprangen auch die deutschen Medien, allen voran die Nachrichtenagentur dpa, auf denselben Zug auf und gaben den Fall offenbar ohne eigene Recherchen in der gleichen Weise wieder.

Wie es nun dazu kam, daß unabhängig von der Aktenlage und den politischen Hintergründen eine derartige Falschmeldung kolportiert werden konnte, dürfte damit zusammenhängen, daß vor allem ultrakonservative und militaristische Kreise sowohl in der Justiz als auch in anderen Teilen der Gesellschaft eine Verurteilung der Soziologin anstreben. Weshalb die deutschen Medien ihrerseits die Falschmeldung ungeprüft kolportierten, bleibt schleierhaft. Der Anschein von einem türkischen Staat als Unrechtssystem, in dem Willkürjustiz an der Tagesordnung steht, deckt sich zumindest mit einer gewissen Erwartungshaltung und begründet die allgemein verbreitete EU-Beitritts-Renitenz gegenüber dem NATO-Partner. Nicht etwa, daß in einer solchen Darstellung nicht auch ein Körnchen Wahrheit steckt, nur greift sie im Fall der übelbeleumdeten Soziologin zu kurz und blendet dabei die antagonistischen Kräfte in der Türkei aus.

Dem jahrelangen Prozeß gegen Pinar Selek liegt von Anbeginn an nichts anderes als eine Hetzkampagne unter der Fragestellung, wie wird der türkische Staat eine Nestbeschmutzerin los, die durch ihr Engagement und in diversen Schriften an bestehende Tabus kratzt, zugrunde.

Im Sommer 1998 war es am Ausgang des Ägyptischen Basars in Istanbul zu einer schrecklichen Explosion gekommen, die sieben Personen, darunter auch drei Kindern, das Leben kostete und mehr als einhundert Verletzte zurückließ. Der erste Verdacht lautete: Ein Bombenanschlag der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartie (PKK). In diese Richtung fahndeten auch Polizei und Sicherheitskräfte.

Im Vorwege des angeblichen Anschlags ging die Armee energisch gegen kurdische Aufständische im Osten der Türkei vor und zielte damals auf den Kopf der PKK, Abdullah Öcalan, der im Nachbarland Syrien untergetaucht war. Wegen der deutlichen Kriegsandrohung Ankaras an die Adresse von Damaskus mußte Öcalan im September 1998 Syrien verlassen. Es folgte eine Odyssee über Rußland, Italien und Griechenland, die schließlich im Februar 1999 mit der spektakulären Festnahme in Kenia und der Überführung in die Türkei ihren Abschluß finden sollte.

Mitten im internationalen Streit um die Auslieferung Öcalans ereignete sich die Detonation im Herzen der Bosporus-Metropole, weshalb die türkischen Strafverfolgungsbehörden also zunächst einmal von einem terroristischen Anschlag ausgingen. Die Polizei führte Großrazzien durch, nahm Dutzende Personen fest und verhörte sie. Aufgrund von Geständnissen, die, wie später belegt, unter Folter zustande gekommen waren, verhaftete die Polizei wenige Tage nach der Explosion Pinar Selek und drei weitere Personen. Gegen die vier wurde Anklage wegen Verwicklung in die Explosion im Istanbuler Basar als auch der Mitgliedschaft in der PKK erhoben.

Selek, die in feministischen Kreisen arbeitete und ein vielbeachtetes Projekt für Straßenkinder in Istanbul unterstützt, dürfte durch ihren strikt antimilitaristischen Kurs ins Fadenkreuz der Sicherheitsbehörden geraten sein. Infolge ihrer Studien hatte sie Kontakt zu PKK-nahen Kreisen aufgenommen und plante eine wissenschaftliche Abhandlung über den Kurdenkonflikt, was dem Staatsapparat sicherlich nicht entgangen war. Der Verdacht liegt nahe, daß die ungewöhnliche Auswahl des wissenschaftlichen Betätigungsfelds der Grund war, warum Selek auf der Liste der Verdächtigen gelandet ist. In diesem Zusammenhang war der Haftbefehl - aufgrund falscher Zeugenaussagen wohlgemerkt - die logische Konsequenz.

Selek verbrachte zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft, ungeachtet des Umstands, daß mit der Zeit verschiedene Gutachter eine Explosion aufgrund eines Sprengsatzes in Zweifel zogen und statt dessen ein Unglück durch eine defekte Propangasflasche, wie sie häufig im Basar verwendet wird, attestierten. Trotz jener Expertenmeinung zog sich das Verfahren kontinuierlich in die Länge. Das Istanbuler Gericht für Schwere Verbrechen vertagte sich, sobald Entlastungsmaterial vorlag, bestellte ein neues Gutachten und trat mit zum Teil grotesken Anschuldigungen auf, die jedoch leicht zu entwirren waren, bis Selek schließlich 2006 aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden mußte. Der Freispruch wurde ein Jahr später jedoch vom Obersten Gerichtshof einkassiert und der Fall an das Istanbuler Gericht zurückverwiesen. Da auch bei der erneuten Aufnahme des Verfahrens keine verwertbaren Beweise vorgelegt werden konnten und selbst die Staatsanwaltschaft inzwischen auf Distanz zur Anschlagsvermutung ging, erfolgte abermals ein Freispruch.

Das hat den Obersten Gerichtshof nicht davon abgehalten, die Akte 2009 doch noch wieder zu öffnen. Die Richter traten dabei mit der haarspalterischen Behauptung auf, die bisherigen Gutachten hätten lediglich ergeben, daß die Ursache für die Explosion nicht mit letzter Gewißheit festgestellt werden konnte, im Umkehrschluß freilich nicht ausgeschlossen sei, daß eben doch ein Sprengsatz zur Anwendung gekommen wäre. Dabei waren von den elf Gutachtern neun der Meinung gewesen, daß für die These vom Bombenanschlag gar keine Beweise vorlägen. Darüber hinaus hatten die zuständigen Gerichtsmediziner keinerlei Sprengstoffspuren - weder am Tatort noch an den Leichen - gefunden. Lediglich zwei Gutachter wollten eine Bombenexplosion nicht gänzlich ausschließen, und auf sie berief sich nun der Oberste Gerichtshof bei seinem jüngsten Urteil, um das Verfahren wieder aufrollen zu lassen. Zwölf Jahre und zwei Freisprüche liegt die tragische Explosion im Gewürzbasar inzwischen zurück. An der Anschlagsthese hält nur noch eine kleine, aber einflußreiche Gruppe Juristen - Richter und Vertreter der Staatsanwaltschaft - fest.

Zwei der Mitangeklagten, Alaatin Öget und Isa Kaya, sind parallel zur Aufhebung des Freispruchs von Selek zu lebenslanger Haft verurteilt worden, aber nicht wegen Verwicklung in den noch nicht bewiesenen Anschlag, sondern wegen des Delikts des "Versuch das Territorium des unteilbaren türkischen Staates aufzuspalten". Abdülmecit Öztürk, der vierte der ursprünglichen Angeklagten, auf den die Zeugenaussage von einer Beteiligung Seleks am vorgeblichen "Terroranschlag" zurückgeht, hatte bereits im ersten Gerichtsverfahren erklärt, daß er Selek gar nicht kenne und daß man die belastende Aussage unter Folter von ihm erpreßt hatte. Er befindet sich inzwischen auf freiem Fuß.

Sinn und Zweck der neuerlichen Wiederaufnahme ist die Fortsetzung der politischen Einschüchterungsstrategie. Den Mitgliedern der intellektuellen Elite des Landes soll drastisch vor Augen geführt werden, mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist, sobald man sich mit den herrschenden Kräften anlegt. Als Soziologin und Feministin befaßt sich Selek nicht nur mit sozialen Mißständen und der Kurdenfrage, sondern hat in ihrem neuesten Buch "Zum Mann gehätschelt - Zum Mann gedrillt" die fatale Verbindung von Männlichkeitskult und Militarismus thematisiert.

Gerade die Beschäftigung mit geschichtlichen Tabuthemen und das Aufschlüsseln der Mechanismen, die in der türkischen Gesellschaft mit ihrem militaristischem Hintergrund zivile Formen der Gewalt installieren und patriarchalisch verherrlichen, scheint es gewesen zu sein, was Selek zur Zielscheibe der türkischen Justizbehörden gemacht hat.

Keine Hybris wiegt schwerer, als wenn Angehörige der Funktionselite, Wissenschaftler, Schriftsteller, Rechtsanwälte, in irgendeiner Weise dem Ansehen des Türkentums oder der türkischen Nation als Erbteil der kemalistischen Staatsgründung Schaden zufügen. Die Verzahnung von Kultur und Unterdrückung, Armut und staatlichen Repressionen aufzudecken, dafür war die Soziologin angetreten, weil sie im Laufe ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung durchaus begriffen hat, daß Gewalt immer das Geteilte ist.

Pinar Selek ist beileibe kein Einzelfall, sondern lediglich einer der renommiertesten Köpfe des reformistischen und aufklärerischen Bildungsbürgertums und in diesem Sinne durchaus eine Symbolfigur der Friedensaktivisten und demokratischen Kräfte in der Türkei. Gegen das Aufbrechen überkommener Werte von Sittlichkeit und Türkenethos hat sich von staatlicher Seite als auch aus konservativ-restaurativen Kreisen Widerstand formiert. Da werden immer wieder in der Bevölkerung Stimmungen aufgeheizt und nationale Urängste beschworen mit zum Teil verheerenden Auswüchsen wie das Massaker, als 1993 eine aufgebrachte Menge das alevitische Kulturzentrum in der Stadt Sivas in Brand setzte und 36 Teilnehmer eines Kongresses dem Feuertod überantwortete, und die Erschießung des armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 am hellichten Tag vor seinem Büro in Istanbul durch einen türkischen Chauvinisten nur allzu deutlich belegen.

Die Reihe der Autoren, die mit Veröffentlichungen, Engagement und internationalem Renommee auf die Mißstände in der Türkei aufmerksam machten, sei es Orhan Pamuk oder Yasar Kemal, ist lang und wird sicherlich nicht mit Pinar Selek enden. So wurde kürzlich der Journalist Nedim Sener wegen eines Buches angeklagt, in dem er der Frage nachging, warum Hrant Dink keinen Polizeischutz erhielt, obwohl die Polizei lange vorher von dem Mordplan unterrichtet war. Sener drohen wegen dieser gestellten Frage 28 Jahre Freiheitsstrafe.

Die Türkei befindet sich in einer Um- und Aufbruchphase, nicht nur politisch gesehen, sondern auch im Selbst- und Lebensverständnis vieler kritischer Bürger, die sich den subalternen Geist der kemalistischen Staatslehre nicht mehr aufoktroyieren lassen. In Teilen der Gesellschaft ist die Diskussion über Wehrdienstverweigerung, die Verfolgung und gewaltsame Unterdrückung der Kurden, überhaupt die kulturelle Ächtung der nichttürkischen Minderheiten, hinsichtlich des repressiven Umgangs mit Häftlingen oder der Geschlechterfrage im Kontext von Islam und Tradition in der Etablierung männlichkeitsorientierter Strukturen mit ihrem weitreichend feudalem Charakter sowie der seit Jahrzehnten staatlicherseits geleugneten Massenvernichtung des armenischen Bevölkerungsanteils in den Jahren 1894-96 und 1915-17 in vollem Gange.

Der türkische Staat sieht sich jedoch als Sachwalter eines Atatürkismus. Wohlgemerkt, der General und politische Reformer Kemal Mustafa erhielt zum Ende seiner politischen Laufbahn den Ehrennamen 'Vater der Türken': Atatürk. Das war ein Schachzug mit folgenschweren Konsequenzen, die türkischsprachige Mehrheit zum Inbegriff des Volkes zu machen und so die historisch wesentlich ältere Erbschaft der Kurden auf dem kleinasiatischen Kernland zu leugnen, überhaupt alle Volksgruppen wie die Armenier, Juden, die griechische Enklave, die Jeziden oder slawische, persische, arabische, mongolische und andere Minderheiten aus dem Vielvölkerschmelztiegel der osmanischen Zeit um ihre angestammten Rechte zu bringen.

Wohl dem, der sagen kann, ich bin ein Türke - dieser Passus aus der Nationalhymne verabsolutiert eine Leitkultur, die weder der Entstehungsgeschichte des türkischen Staates gerecht wird noch dem kulturell gewachsenen Selbstverständnis seiner Bürger. Um den arg gebeutelten Begriff der Integration auf die Spitze zu treiben: Im Osmanischen Reich hatten die verschiedenen Volksgruppen mehr oder weniger friedlich Seite an Seite gelebt, ohne daß eine Türkenpräferenz einen Keil in die Völkergemeinschaft hätte treiben können. Sie waren allesamt steuerpflichtige Untertanen des osmanischen Sultans. Erst mit dem Aufkommen einer sich aus dem Jungtürkentum entwickelten nationalen Herkunftsmythologie kam der Krieg des Blutes über die Republik, der bis heute in seinen zahlreichen Widerspruchslagen und Unterdrückungsformen nichts von seiner Brisanz verloren hat.

Die gegen Pinar Selek aufgeworfenen Anfeindungen haben ihren Fokus darin, daß sie den Haß ins Gegenteil verkehrt hat und in der Frage der Gewalt, der Deformierungen des Geistes und Entzweiung der Menschen nicht bereit ist, sich einer nationalen Doktrin zu unterwerfen. Vielmehr ist sie ihrer eigenen Familiengeschichte verpflichtet. So war ihr Großvater Gründungsmitglied der türkischen Linken und ihr Vater Alp Selek gehörte bis zum Militärputsch von 1980 dem Vorstand einer im Parlament vertretenen linken Partei an. Sie war neun Jahre alt, als ihr Vater verhaftet wurde. Das hat sie geprägt auf ihrem Weg zur Friedensaktivistin. Dafür hat sie in der Untersuchungshaft Folter ertragen müssen. Aber auch nach ihrer Freilassung hat sie nicht damit aufgehört, sich für die Rechte von Minderheiten einzusetzen.

Statt sich bange mundtot machen zu lassen, hat sie vielfältige solidarische Bewegungen ins Leben gerufen. So beließ sie es in ihrer wissenschaftlichen Arbeit keineswegs bei akademischen Floskeln. Ihr Thema ist und bleibt die Inakzeptanz von Gewalt und die Trennung der Menschen. In einem im Juni 2009 in Wien geführten Interview mit dem Schattenblick erklärte die streitbare Soziologin und Anthropologin: "Denn in der Friedensbewegung geht es nicht nur um Frieden per se, sondern darum, daß die Menschen einander vertrauen können und untereinander Solidarität, Freundschaft und Verläßlichkeit pflegen."

Im Augenblick liegt kein Haftbefehl gegen Selek vor, aber wie man im Schach sagt, ist die Drohung stärker als die Ausführung, und das Klima der Verunsicherung könnte also durchaus dazu führen, daß sie sich für ein Leben in der Verbannung entscheiden müßte. Für die konservativen Kräfte in der Türkei wäre es sicherlich ein Erfolg, Selek heimatlos zu machen und eine Rückkehr in das Land ihrer Geburt zu hintertreiben, und vielleicht war das gerichtlicherseits der eigentliche Antrieb, um nochmals Revision einzulegen. Ihrerseits bleibt Selek nicht untätig, sondern hat bereits angekündigt, den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu bringen.

2. Dezember 2010