Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2191: Damoklesschwert der Systemkrise - Sirenengesänge Obamas (SB)


Länder Lateinamerikas ringen um Bewältigung der Weltwirtschaftskrise


Der fundamentale Charakter der kapitalistischen Systemkrise kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß die Einschätzungen hinsichtlich ihrer Ursache, ihres Charakters, ihrer Folgen und natürlich der zu ergreifenden Maßnahmen buchstäblich ins Kraut schießen und je nach Interessenlage nicht nur weit voneinander abweichen, sondern häufig in unmittelbarem Widerspruch zueinander stehen. Das gilt zwangsläufig auch für die Regierungen der Länder Lateinamerikas, die sich auf einer breiten Palette zwischen der Furcht, als schwächste Glieder der globalen Freßkette am schwersten in Mitleidenschaft gezogen zu werden, und der Hoffnung, besser als die führenden Industriestaaten gerüstet zu sein, bewegen. Wenn davon die Rede ist, daß die Welt nach dieser Krise nicht mehr die alte sein werde, meint jeder etwas anderes, wobei die Auffassung weithin das Feld beherrscht, die bislang dominierende Wirtschaftsordnung werde mit mehr oder minder tiefgreifenden Korrekturen weiterbestehen. Manche sehen darin sogar eine Chance, sich in der globalen Hierarchie künftig vorteilhafter plazieren zu können.

Gemeinsam ist vielen lateinamerikanischen Ländern der Wunsch, die ökonomische und politische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und den Europäern zu reduzieren und die Zusammenarbeit untereinander wie auch mit anderen Weltregionen auszubauen. So haben Vertreter der Staaten der Bolivarischen Alternative für unser Amerika (ALBA) vereinbart, für ihren Handelsaustausch im kommenden Jahr die Gemeinschaftswährung "Sucre" einzuführen. Es handelt sich dabei um eine virtuelle Währung, in welcher der Handelsverkehr der beteiligten Länder Venezuela, Kuba, Bolivien, Honduras, Nicaragua und Ecuador abgerechnet werden soll. Benannt ist die Währung nach dem südamerikanischen Freiheitskämpfer Antonio José Sucre, der Ende des 18. Jahrhunderts in Cumaná geboren worden war. Unterzeichnet wurde das Abkommen von allen ALBA-Staaten außer St. Vincent und den Grenadinen sowie Dominica. Ecuador ist zwar kein Mitglied der 2004 von Venezuela und Kuba als Gegenentwurf zu der von den USA geplanten amerikaweiten Freihandelszone gegründeten ALBA, doch schloß sich die Regierung in Quito dem Abkommen für die Gemeinschaftswährung an. Paraguay nahm als interessierter Beobachter an dem Treffen teil. (NZZ Online 18.04.09)

Der Sucre werde die Diktatur des Dollars beenden, brachte Venezuelas Präsident Hugo Chávez die Zielsetzung dieses Vorhabens auf einen kurzen Begriff. Wenngleich sich der Sucre (Sistema Unico de Compensación Regional de Pagos) am Vorbild des Euro orientiert, ist es noch ein langer Weg bis zur Ausgabe und Verwendung der Gemeinschaftswährung in Form von Geldscheinen und Münzen. Als Zahlungsmittel im Handelsaustausch soll er jedoch als bahnbrechender erster Schritt aus dem Dilemma der Abhängigkeit von der US-Währung herausführen.

Unterdessen nahmen Brasiliens Präsident Luiz Inácio da Silva und dessen kolumbianischer Amtskollege Alvaro Uribe in Rio de Janeiro am Lateinamerikanischen Wirtschaftsforum teil, bei dem es sich vor allem um ein Treffen weltweiter Investoren handelt. Vor rund 500 Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft aus 37 Ländern, die über Strategien gegen die Krise diskutierten, verlieh der brasilianische Staatschef in seiner Eröffnungsrede der Hoffnung Ausdruck, daß sein Land die Krise vor allen andern überwinden werde. Zwar gehen jüngste Prognosen von einem gebremsten Wirtschaftswachstum der größten Volkswirtschaft Südamerikas aus, doch steht sie damit immer noch besser als die anderen Länder des Kontinents da. Wie groß der Rückgang in diesem Jahr ausfallen wird, ist jedoch bloße Spekulation und Verschleierung, wie die immer raschere Abfolge veröffentlichter Hiobsbotschaften belegt.

Seinem kolumbianischen Amtskollegen Uribe schlug der Gastgeber eine Abwicklung des bilateralen Handels in brasilianischen Reales und kolumbianischen Pesos vor. Eine entsprechende Vereinbarung besteht bereits seit Oktober 2008 mit Argentinien, und mit Uruguay sollen in Kürze diesbezügliche Verhandlungen aufgenommen werden. Ähnlich wie bei dem Abkommen der ALBA geht auch hier darum, den US-Dollar aus dem Zahlungsverkehr zwischen den beteiligten Volkswirtschaften zu verdrängen, wobei die Einführung einer Gemeinschaftswährung in ihrer Zielsetzung weiter greift als bilaterale Lösungen.

Präsident Da Silva forderte eine neue Weltwirtschaftsordnung, die auf einer gerechteren Verteilung des Reichtums beruhen müsse. Erforderlich sei insbesondere eine grundlegende Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, in denen die USA und Westeuropa über zu großen Einfluß verfügten. Brasilien drängt also darauf, entsprechend seiner Bedeutung in der weltweiten Ökonomie stärker berücksichtigt zu werden. Die unmittelbaren Vorschläge für den Kampf gegen die Krise wie eine verstärkte Kontrolle des weltweiten Geldverkehrs, von Finanzspekulationen und Steuerparadiesen decken sich weitgehend mit den Rezepten, die derzeit in den Metropolen des Kapitalismus feilgeboten werden.

In scharfen Worten verurteilte der brasilianische Staatschef jede Form von Protektionismus, den er als "ein Desaster für die Menschheit und für die ökonomische Entwicklung in der Welt" bezeichnete. Er bezog sich damit jedoch nicht nur auf die Subventionen und Handelsschranken der führenden Industriestaaten, sondern auch auf ergriffene Schutzmaßnahmen lateinamerikanischer Regierungen. Argentinien hat Importschranken für fast 800 Produkte verhängt, Ecuador begünstigt einheimische Produkte durch Importrestriktionen und Mexiko hat die Zölle für bestimmte Einfuhren aus den USA erhöht. (junge Welt 18.04.2009)

Das Wirtschaftsforum von Rio gab in seinem Abschlußdokument die Losung aus, daß die OECD nicht länger das Zentrum der Welt sei und die Bedeutung der Peripherie beträchtlich zugenommen habe. Die Zukunft liege im Süd-Süd-Handel, wofür die Krise sogar eine Chance biete, historische Gegensätze zu überwinden und eine neue Etappe gegenseitigen Vertrauens und der Zusammenarbeit zu beginnen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, auf Grundlage welcher Wirtschaftsordnung dies geschehen soll, wenn man nicht derselben verhängnisvollen Entwicklung unterliegen will, die das Desaster hervorgebracht hat.

Bedenklich stimmt in diesem Zusammenhang, daß der Gipfel der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Trinidad und Tobago, der weithin als erfolgreiche Wiederannäherung zwischen den USA und den Ländern Lateinamerikas gefeiert wurde, ohne Vereinbarungen im Kampf gegen die weltweite Wirtschaftskrise zu Ende gegangen ist. Tatsächlich unterzeichnete lediglich der gastgebende Premierminister Patrick Manning die Abschlußerklärung, die bereits im September 2008 entworfen worden war und die globale Krise noch nicht einmal thematisiert. Wenngleich die Kubafrage zweifellos inoffizielles Kernthema des Amerikagipfels blieb, war man doch zusammenkommen, um mögliche gemeinsame Strategien zur Bewältigung der Krisenfolgen zu beraten.

Schon jetzt geht die Einschätzung der Vereinten Nationen von einer rückläufigen wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas um 0,3 Prozent für das laufende Jahr aus, wobei dieser Betrag mit Sicherheit weiter nach unten korrigiert werden muß. Rechnet man mit 15 Millionen Menschen mehr, die dadurch zu einem Leben in Armut verurteilt werden, so droht selbst diese Katastrophe von noch tiefgreifenderen Verheerungen überholt zu werden. Demgegenüber ist das Angebot Barack Obamas von 100 Millionen Dollar für einen Fonds zur Unterstützung kleiner Unternehmen nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein der Krise.

Der US-Präsident verwies auf seine Maßnahmen zur Stimulierung der eigenen Wirtschaft und redete der fiktiven Kette das Wort, daß wachsender Konsum in seinem Land der Schlüssel zur Unterstützung der lateinamerikanischen Länder sei, die davon durch vermehrte Exporte profitieren könnten. Wenig ist auch von der geplanten Aufstockung der IWF-Kredite zu erwarten, da diese nur zu einem Bruchteil dem Süden zugute kommen werden und dort mit Auflagen verbunden sind, die man kaum anders als Strafmaßnahmen bezeichnen kann. Auch Obamas Ankündigung, Washington wolle die Interamerikanische Entwicklungsbank zu vermehrter Kreditvergabe für Lateinamerika und die Karibik bewegen, hat sein Finanzminister Timothy Geithner mit seiner Ablehnung einer höheren finanziellen Ausstattung der Bank im Grunde bereits zur Makulatur gemacht. (World Socialist Web Site 21.04.09)

So machte der Gipfel in Port of Spain einmal mehr deutlich, in welchem Ausmaß Lateinamerika nach wie vor von den Vereinigten Staaten dominiert wird und wie verführerisch die Hoffnung auf ein deutlich verbessertes Klima des gegenseitigen Umgangs unter Präsident Barack Obama ist. Länder wie Venezuela haben in der Vergangenheit enorme Anstrengungen unternommen, um ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Staaten wie China und Rußland, aber auch den von Washington und seinen Verbündeten verfemten Regierungen auszubauen. China ist zum zweitwichtigsten Handelspartner Lateinamerikas nach den USA aufgestiegen, Buenos Aires und Peking haben Wirtschaftsbeziehungen unter Verwendung der beiderseitigen Währungen vereinbart. Angesichts der Geschichte dieses Kontinents ist das eine Entwicklung, wie man sie noch vor wenigen Jahren kaum für möglich gehalten hätte. Darüber hängt nun das Damoklesschwert der Weltwirtschaftskrise, die von Sirenengesängen der führenden Mächte begleitet wird, dieses gigantische Problem sei nur von allen gemeinsam nach den Maßgaben der Stärksten zu bewältigen.

22. April 2009