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LATEINAMERIKA/2203: Landet die OAS auf dem Müllhaufen der Geschichte? (SB)


Venezuela und Ecuador ziehen Austritt in Erwägung


Heute werden im Namen der Menschenrechte weltweit Kriege geführt, Regierungen gestürzt, Staaten ihrer Souveränität beraubt und zerschlagen, grenzüberschreitende Verbindungen von Justiz und Sicherheitskräften etabliert. Nationalstaatliche Souveränität darf es nach dem Willen weltadministrativer Kräfte nicht mehr geben, steht sie der Doktrin uneingeschränkter Präventivverteidigung der eigenen Sicherheit oder besser gesagt unumkehrbarer globaler Herrschaftssicherung doch entscheidend im Weg. Was früher Außenpolitik war, befindet sich längst im Übergang zu einer weltweiten Innenpolitik, die vom Begriff "Weltpolizei" eher angedeutet, als in ihrer vollen Tragweite erfaßt wird.

Wenn die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) wie jüngst geschehen ihren Jahresbericht veröffentlicht, kann dieser zwangsläufig nur Ausdruck der hinter dieser Organisation stehenden Mächte sein. Von ihr so etwas wie eine objektive Bilanz des aktuellen Stands der Menschenrechte in den verschiedenen Ländern einer bestimmten Weltregion zu erwarten, hieße den grundsätzlichen Charakter derartiger Gremien zu mißdeuten, wie überhaupt Einigkeit darüber zu unterstellen, was Menschenrechte im einzelnen sein sollen und wie sogenannte Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen und zu bestrafen seien.

Die Menschenrechtskommission, von der hier die Rede ist, gilt als Einrichtung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mehr oder minder als ein Werkzeug der USA, die trotz ihres während der Bush-Administration dramatisch gesunkenen Ansehens in Lateinamerika noch immer über beträchtlichen Einfluß verfügen. Daß im Bericht der CIDH Kolumbien und Haiti genannt werden, nimmt nicht wunder, wenn man die Verhältnisse in diesen beiden Ländern in Betracht zieht. Indessen widmet der Report auch Kuba und Venezuela jeweils ein eigenes Kapitel mit der Begründung, deren Praktiken im Bereich der Menschenrechte erforderten besondere Aufmerksamkeit. Diese Wortwahl läßt die Handschrift einer Bezichtigung ahnen, die mit über Jahre aufgebauten Propagandakonstrukten hausiert und stichhaltige Beweise ihrer Vorwürfe schuldig bleibt.

Die Regierungen in Havanna und Caracas wiesen denn auch den aktuellen Jahresbericht entschieden zurück. Kubas früherer Präsident Fidel Castro erinnerte in einer seiner Reflexionen daran, daß sein Land schon vor Jahrzehnten aus der OAS ausgeschlossen worden ist, weshalb es nachgerade dreist sei, von deren Menschenrechtskommission bewertet zu werden. Wenn diese Kommission aber ihren Namen verdiene, stelle sich doch die Frage, wie oft sie die Vereinigten Staaten verurteilt hat. Nicht ein einziges Wort habe sie über die Verbrechen der Bush-Regierung verloren, nicht einmal die Folterungen in Guantánamo Bay tauchten in den Berichten auf.

Ebenso weist die venezolanische Regierung nach, wie gezielt einseitig diese Kommission zu Werke geht. So seien zwischen der Ratifizierung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention durch Venezuela am 23. Juni 1977 und dem Jahr 2000 lediglich sechs Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen gegen den venezolanischen Staat erfolgt. Dabei ging es in diesem langen Zeitraum um so schwerwiegende Straftaten wie die Ermordung von Studenten, das Verschwinden und die Folterung von Politikern sowie Massaker an Zivilisten. Demgegenüber hat sich die Kommission seit Regierungsantritt von Präsident Chávez im Jahr 1999 bis heute mit mehr als 150 Fällen befaßt, wobei sie derzeit die angebliche Einschüchterung von Oppositionspolitikern beklagt. Bezeichnend war die Haltung der CIDH nach dem Putsch vom April 2002, als sie das Land besuchte und den Umsturz nicht etwa verurteilte, sondern die Handlungsweise der Urheber rechtfertigte. (junge Welt 11.05.09)

Inzwischen hat Venezuelas Präsident Hugo Chávez den möglichen Austritt seines Landes aus der Organisation Amerikanischer Staaten angedeutet. Venezuela könne die OAS verlassen und die Völker des Kontinents einladen, sich von diesen alten Strukturen zu befreien und an ihrer Stelle eine Organisation der freien Völker Lateinamerikas zu gründen. Auch Ecuadors Staatschef Rafael Correa, mit dem Chávez in wenigen Tagen in Quito zusammenkommt, hat bereits mehrfach entsprechende Schritte lateinamerikanischer Staaten ins Gespräch gebracht. Ein Austritt aus der OAS würde sicher auch von Boliviens Präsident Evo Morales und Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega mitgetragen, so daß ein regelrechter Dammbruch folgen könnte. Bislang gehören alle Staaten des Kontinents mit Ausnahme Kubas der OAS an, in deren Geschichte noch nie ein Land seinen Austritt erklärt hat. Es wäre indessen nicht die erste vermeintlich für die Ewigkeit installierte Abhängigkeit, die lateinamerikanische Länder in jüngerer Zeit verworfen und gebrochen haben. (junge Welt 14.05.09)

14. Mai 2009