Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2307: Chávez warnt Washington und Bogotá vor Angriff auf sein Land (SB)


Gefahr eines bewaffneten Konflikts zwischen Kolumbien und Venezuela


Ende Oktober haben die USA und Kolumbien ein neues Militärabkommen geschlossen, das den US-Streitkräften eine erweiterte Nutzung von sieben kolumbianischen Militärstützpunkten und mehreren Zivilflughäfen für die nächsten zehn Jahre gestattet. Wenngleich die Regierungen in Washington und Bogotá behaupten, diese vertiefte Zusammenarbeit richte sich gegen "Drogenhandel und Terrorismus", keineswegs jedoch gegen die Nachbarländer, wächst die Besorgnis in der Region. Insbesondere Venezuela und Ecuador müssen fürchten, verstärkt ins Visier einer Überwachung, Infiltration und Invasion genommen zu werden. Ganz Südamerika wird von der wachsenden Militärpräsenz der Hegemonialmacht bedroht, deren strategische Doktrin den Zugriff auf die immensen Ressourcen an Wasser, Nahrungsmitteln, Bodenschätzen und Artenvielfalt vorsieht.

Die Regierungen in Caracas und Quito haben das Abkommen über die kolumbianischen Militärstützpunkte in scharfer Form abgelehnt und den USA vorgeworfen, sie seien bestrebt, ihren Einfluß in Südamerika auszuweiten. Seit Ende Juli sind die diplomatischen Beziehungen zwischen Venezuela und Kolumbien eingefroren, wobei die venezolanische Regierung erst in der vergangenen Woche nach einem erneuten Grenzzwischenfall 15.000 Soldaten in die Region verlegt hat. Brasilien befürchtet mittelfristig eine Bedrohung des Amazonasgebietes durch die USA.

Diese Befürchtungen sind keineswegs aus der Luft gegriffen. Kreuzt man die strategischen Entwürfe Washingtons mit der militärischen Präsenz der USA in Südamerika, zeichnet sich deutlich der Ausbau eines Interventionspotentials ab. Die Nutzung der Militärstützpunkte in Kolumbien kompensiert nicht nur den Verlust des Luftwaffenstützpunkts Manta in Ecuador, dessen Pachtvertrag die Regierung in Quito nicht verlängert hat, sondern erweitert sogar die Optionen der US-Administration, permanente Spionagetätigkeit und begrenzte Operationen mit großen Militärschlägen im Bedarfsfall zu kombinieren.

Das scheinheilige Argument aus Washington und Bogotá, die vom US-Kongreß festgesetzten Obergrenzen für US-amerikanische Soldaten und Dienstleister in Kolumbien würden nicht überschritten, ist gegenstandslos: Für den Normalbetrieb der Lauschposten, Überwachungsflüge, Ausbildung und Patrouillen ist nur wenig Personal erforderlich. Kommt es jedoch zum Konflikt, können auf einigen dieser Stützpunkte und Flughäfen in kürzester Frist starke Eingreifverbände eingeflogen und stationiert werden, die für ein Kriegsszenario voll und ganz geeignet sind.

Hinzu kommt die unter George W. Bush reaktivierte 4. US-Flotte, die keineswegs Ausdruck einer anachronistischen Kanonenbootpolitik ist, die heutzutage ans Absurde grenzt. Die Einheiten dieser Flotte sind insbesondere für Landungsoperationen an der Küste und nicht zuletzt das Befahren von Flüssen im Landesinnern geeignet, was sie als hochmoderne Angriffsstreitmacht ausweist. Zudem fürchtet Brasilien um die Sicherheit seiner neuentdeckten Ölvorkommen vor der Atlantikküste, die es angesichts der Präsenz einer gewaltigen US-Flotte gefährdet sieht.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat sein Land nun auf einen möglichen Krieg mit dem Nachbarland Kolumbien eingestimmt. Wie er in seiner wöchentlichen Fernsehsendung "Aló Presidente" erklärte, liege es in der "Verantwortung aller", sich auf einen Krieg vorzubereiten. Seine Landsleute seien bereit, ihr "heiliges Heimatland" zu verteidigen. [1] Chávez warnte die US-Regierung davor, "über Bogotá einen Angriff auf Venezuela anzuordnen". Falls es zu einem bewaffneten Konflikt komme, könne sich dieser "auf den ganzen Kontinent ausweiten". [2]

Diese Äußerungen lösten heftigen Protest in Kolumbien aus. Wie die Regierung in Bogotá erklärte, habe das Land nie eine "feindliche Geste" gegenüber der internationalen Gemeinschaft und Nachbarländern gezeigt und werde das auch künftig nicht tun. Daher beabsichtige man, nach "diesen Kriegsdrohungen der venezolanischen Regierung" beim UNO-Sicherheitsrat und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Protest gegen Chávez einzulegen.

Der venezolanische Staatschef hatte schon vor Monaten gewarnt, durch das Militärabkommen beginne der "Wind des Krieges" durch die Region zu wehen. [3] Nachdem die kolumbianische Regierung behauptet hatte, Waffen aus Venezuela seien in den Besitz der FARC-Guerilla gelangt, zog Präsident Chávez aus Protest gegen die Vorwürfe den Botschafter aus Bogotá ab. Die diplomatischen Beziehungen zu Kolumbien waren bereits im März vergangenen Jahres vorübergehend ausgesetzt worden, als die kolumbianische Armee ein Lager der FARC in Ecuador angegriffen hatte. [4]

Die Behauptung der kolumbianischen Regierung, sie habe nie eine feindliche Geste gegen die Nachbarländer gezeigt, entbehrt jeder Grundlage. Hochwahrscheinlich unter direkter Beteiligung der US-Streitkräfte wurde ein Lager der Rebellen auf dem Territorium Ecuadors zunächst mit Präzisionsbomben angegriffen, worauf ein Spezialkommando die Überlebenden liquidierte, die Leichen zweier getöteter Anführer, darunter auch Raúl Reyes, verschleppte und erbeutetes Material wegschaffte. In Reaktion auf diesen Zwischenfall kam es zu einer schweren Krise zwischen Ecuador und Venezuela auf der einen und Kolumbien auf der anderen Seite. Angesichts eines Truppenaufmarsches stand mehrere Tage lang der Ausbruch eines Regionalkriegs im Raum, bis die lateinamerikanischen Staatschefs diesen akuten Konflikt entschärften.

Venezuela und Kolumbien sind in den vergangenen zehn Jahren bereits mehrfach politisch, wirtschaftlich und diplomatisch aneinandergeraten, wobei die Differenzen jedesmal soweit beigelegt werden konnten, daß es zu einer Deeskalation kam. In jüngerer Zeit hat jedoch die Gefahr eines bewaffneten Konflikts zwischen den beiden Ländern erneut zugenommen, da die Aktivitäten kolumbianischer Rebellen und Paramilitärs im Grenzgebiet zu Venezuela eine Verschärfung der Spannungen zwischen den beiden Staaten ausgelöst haben.

Durch den ländlich geprägten Bundesstaat Táchira im Südwesten Venezuelas verlaufen die beiden wichtigsten Handelsrouten zwischen den Nachbarländern in der Andenregion. Irreguläre Gruppen aus Kolumbien sind hier seit Jahren präsent. Präsident Chávez hatte im Juli angeordnet, den Handel und andere Aktivitäten mit Kolumbien einzuschränken und die Brücken über den Grenzfluß Táchira zu schließen. Paramilitärische Gruppen riefen Ende Oktober die Händler in den venezolanischen Grenzstädten Ureña und San Antonio auf, gegen diese Entscheidung zu protestieren. Daraufhin wurden zehn mutmaßliche Paramilitärs festgenommen.

Ebenfalls Ende Oktober wurden die Leichen von elf jungen Männern aufgefunden, die während eines Fußballspiels in der Ortschaft Chururú im Bundesstaat Táchira von Unbekannten entführt und ermordet worden waren. Bei neun der Opfer handelte es sich um kolumbianische Immigranten ohne Papiere. Der Gouverneur des Bundesstaats, César Pérez, geht davon aus, daß es sich bei den Toten um Mitglieder der kolumbianischen Rebellenbewegung Nationales Befreiungsheer (ELN) handelt. Seinen Angaben zufolge haben sich in mehreren Gemeinden des Bundesstaates Hunderte Guerilleros aus Kolumbien direkt unter den Augen der venezolanischen Streitkräfte niedergelassen. Die ELN, der diese Region offenbar seit Jahren als Transitkorridor dient, hat sich zu dem Massaker bislang jedoch nicht geäußert. [5]

Hingegen macht der venezolanische Verteidigungsminister Ramón Carrizález Paramilitärs für das Massaker verantwortlich. Er geht davon aus, daß es sich um eine Abrechnung zwischen verfeindeten Gruppen gehandelt hat. Carrizález beruft sich auf Angaben von Dorfbewohnern, wonach die jungen Kolumbianer häufig an Gewalttaten beteiligt gewesen seien. Auch äußerte der Minister den Verdacht, die kolumbianische Regierung habe die Gruppe gezielt nach Venezuela geschleust. Innenminister Tarek El Aissami unterstellte Gouverneur Pérez, dieser unterhalte selbst Kontakte zu kolumbianischen Paramilitärs. Pérez, der als entschiedener Gegner von Staatspräsident Hugo Chávez gilt, wies diesen Vorwurf zurück.

Die Situation spitzte sich weiter zu, als am 2. November Bewaffnete einen Kontrollposten in der Nähe von Ureña angriffen und zwei venezolanische Soldaten töteten. Präsident Chávez erwog daraufhin, in Táchira den nationalen Notstand zu verhängen, und wiederholte die Kritik, Kolumbien habe durch das jüngste Abkommen mit Washington seine Souveränität eingebüßt. Verteidigungsminister Carrizález vermutete als Täter erneut "paramilitärische Banden, die sich in der Region festsetzen, um im Rahmen des Destabilisierungsplans (Plan Colombia) unsere Nationalgarde einzuschüchtern". Die Paramilitärs seien "die Vorboten von etwas, das ganz Venezuela und alle südamerikanischen Länder bedroht".

Belastet werden die Beziehungen zwischen den Nachbarländern auch durch die Entdeckung dreier mutmaßlicher Spione des kolumbianischen Geheimdienstes DAS auf dem Staatsgebiet Venezuelas. Wie es hieß, seien die drei Männer, bei denen es sich um zwei Kolumbianer und einen Venezolaner handle, bei dem Versuch festgenommen worden, das venezolanische Militär auszuspionieren. Am 4. November läutete Bogotá dann eine Gegenkampagne ein und erklärte in einer Mitteilung des Außenministeriums, die schwierige Sicherheitslage in Venezuela habe etliche Kolumbianer das Leben gekostet.

Angesichts der aufziehenden Gefahr eines bewaffneten Konflikts wollen Brasilien, Chile und Uruguay zwischen Venezuela und Kolumbien vermitteln. Marco Aurelio García, Berater des brasilianischen Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, mahnte Maßnahmen zur Deeskalation der Krise an. Er legte beiden Regierungen nahe, das Grenzgebiet mit Hilfe brasilianischer Technologie künftig gemeinsam zu überwachen. Auch empfahl García den ideologisch verfeindeten Staaten den Abschluß eines Nichtangriffspakts.

Anmerkungen:

[1] Streit mit Kolumbien. Venezuelas Präsident Chávez spricht von Krieg (09.11.09)
http://www.tagesschau.de/ausland/venezuela166.html

[2] Venezuela. Präsident Chávez ruft zu Kriegsvorbereitungen auf (09.11.09)
http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article1263440/Praesident- Chavez-ruft-zu-Kriegsvorbereitungen-auf.html

[3] Wirbel um Chávez-Drohung gegenüber Kolumbien (09.11.09)
http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/866036

[4] Chávez ruft Venezuela zu Kriegsvorbereitungen auf (09.11.09)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5hmBm7glAVqnKI0v2K2VES8P8JXbA

[5] Kolumbien/Venezuela: Krieg befürchtet - Brasilien empfiehlt Nichtangriffspakt (05.11.09)
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=93855

9. November 2009