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LATEINAMERIKA/2391: Washington droht der Karibik Sicherheitsinitiative an (SB)


Millionenschweres Programm flankiert Merida-Initiative


Die Großrazzia schwerbewaffneter Polizeikräfte in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston, die der Ergreifung des als Drogenboß gesuchten Christopher "Dudus" Coke galt, der an die USA ausgeliefert werden soll, nimmt die Züge einer Kriegsführung staatlicher Sicherheitskräfte gegen die Bewohner armer Stadtviertel wie insbesondere das unmittelbar angegriffene Quartier Tivoli Gardens an. Seit den heftigen Gefechten, die am letzten Sonntag begannen und vor allem am Montag bei der Erstürmung des verbarrikadierten Viertels eskalierten, ist es in der Stadt immer wieder zu sporadischen Kämpfen gekommen. Nach offiziellen Angaben ist die Opferzahl inzwischen auf mindestens 70 gestiegen, wobei sich Berichte über eine unterschiedslose Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte häufen.

Vor diesem Hintergrund läßt sich die Initiative der US-Regierung entschlüsseln, die ein Hilfsprogramm zur Bekämpfung von Drogenhandel und organisierter Kriminalität in Jamaika und anderen Karibikstaaten in Höhe von 45 Millionen Dollar angekündigt hat. Wie der Lateinamerika-Beauftragte des US-Außenministeriums, Arturo Valenzuela, in Washington vor Diplomaten der Gemeinschaft der Karibikstaaten (Caricom) erklärte, bedrohten organisiertes Verbrechen, Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sowie "Terrorismus" zunehmend die Stabilität der Region. Valenzuela rief die Karibikstaaten auf, im Kampf gegen den Anstieg der Kriminalität nicht nur auf Polizei und Armee zu setzen, sondern auch "multilaterale Organisationen und die Zivilgesellschaft" einzubeziehen. [1]

Das Programm mit dem Namen Sicherheitsinitiative für das Karibikbecken (CBSI) soll die 2008 beschlossene Merida-Initiative ergänzen, mit der die USA die Verbrechensbekämpfung insbesondere in Mexiko, aber auch in Mittelamerika und den Karibikstaaten Dominikanische Republik und Haiti finanziell unterstützen. Das von den Präsidenten George W. Bush und Felipe Calderón in der mexikanischen Stadt Merida aus der Taufe gehobene Abkommen ähnelt in seiner Struktur und Stoßrichtung so sehr dem berüchtigten Kolumbienplan der US-Administration, daß Kritiker frühzeitig Parallelen zogen und Mexiko angesichts des um sich greifenden Kriegs gegen die Kartelle kolumbianische Verhältnisse prophezeiten. Bei der Merida-Initiative handelt es sich um eine von den USA finanzierte Aufrüstung staatlicher Sicherheitskräfte, die der Militarisierung einer repressiven Innenpolitik Vorschub leistet.

Wenngleich CBSI und Merida-Initiative der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und des "Terrorismus" gewidmet sind, lehrt doch das Beispiel Kolumbiens und in jüngerer Zeit auch jenes Mexikos, daß es sich im Kern um eine interventionistische Strategie zur gewaltsamen Betonierung gesellschaftlicher Widersprüche im Dienst der Herrschaftssicherung handelt. Washington unterstützt den kolumbianischen Staat im Kampf gegen die Guerilla wie auch andere Formen des Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung. In Mexiko bemittelt die US-Regierung ebenfalls die Bekämpfung die Insurgenz wie insbesondere die aufbrechende Hungerrevolte, von der dieser Pufferstaat im unmittelbaren Vorfeld der sich abschottenden USA in besonderem Maße betroffen sein wird, da sich dort die anbrandende Woge der Armutsmigration aufstaut.

Der jamaikanische Stadtteil Tivoli Gardens war bislang das Reich Christopher Cokes und seiner "Shower Posse", die das Armenviertel nicht nur für Sicherheitskräfte unbegehbar machten, sondern auch die nicht vorhandene Sozialpolitik und Schutzfunktion des Staates in hohem Maße ersetzten. Das jedenfalls belegen zahlreiche Berichte von Bewohnern dieses Quartiers, die nun angesichts der eskalierenden Auseinandersetzung auch von internationalen Medien wahrgenommen werden. Die Existenz derartiger Regionen, die sich dem Zugriff des Staates tendentiell entziehen und sich wie im Fall Tivoli Gardens gar zur eigenständigen urbanen "Republik" unter Führung Christopher Cokes erklärten, sind aus staatlicher und insbesondere supranationaler Sicht eine Widerspruchslage, die einer gewaltsamen Lösung in Gestalt der Eliminierung bedarf.

In Kingston fahnden die Sicherheitskräfte weiter nach dem bislang entkommenen Coke, wobei es zuletzt auch zu einer Schießerei in einem wohlhabenderen Stadtviertel gekommen ist, in dem man den Gesuchten irrtümlich vermutete. Inzwischen hat die Polizei einen Aufruf veröffentlicht, der den Anführer der "Shower Posse" und seinen Bruder auffordert, sich freiwillig zu stellen. Unterdessen wagen sich die Bewohner in Tivoli Gardens, in dem der nach den Kämpfen von der Regierung verhängte Ausnahmezustand besonders scharf durchgesetzt wird, erstmals seit Tagen wieder auf die Straße, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen und nach den Leichen ihrer verschwundenen Angehörigen und Freunde zu suchen. [2]

Journalisten, die sich in dieses Stadtviertel wagen, treffen allenthalben auf Bewohner, die von exzessiver Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte berichten. Auf einem nahegelegenen Friedhof sollen zahlreiche Todesopfer hastig verscharrt worden sein, was die von bewaffneten Eskorten der Sicherheitskräfte begleiteten Reporter, die rasch durch das Viertel geschleust wurden, nicht überprüfen konnten.

Wie Informationsminister Daryl Vaz behauptete, sehe sich die Regierung dem Schutz der Bürgerrechte verpflichtet und werde allen Beschwerden über ein Fehlverhalten der Polizei nachgehen. Zu diesem Zweck wolle man in Tivoli Gardens und dem benachbarten Denham Town eigens Büros einrichten, die eine unabhängige Untersuchung aller militärischen und polizeilichen Operationen durchführen sollen.

Ein Sprecher der Polizei, Gilmore Hinds, wies die Annahme, auf dem Friedhof existiere ein Massengrab, entschieden zurück und erklärte, man werde in Kürze 15 Tote beerdigen, da der Verwesungsprozeß bereits fortgeschritten sei. In Jamaika würden alle Tötungsfälle untersucht, und davon machten auch die aktuellen keine Ausnahme. Wie Hind einräumen mußte, seien 73 Zivilisten sowie drei Angehörige der Sicherheitskräfte getötet worden, wobei in sechs Fällen ungeklärt sei, ob sie in Zusammenhang mit der Razzia stehen.

Die Polizei von Kingston teilte mit, sei habe im Zuge der Razzia über 7.000 Schuß Munition, mehrere selbstgebaute Bomben sowie sechs Schußwaffen, darunter zwei Pistolen gefunden. Berücksichtigt man, daß bei dem Angriff auf Tivoli Gardens angeblich eine Organisation ausgehoben werden sollte, die nach Angaben der US-Regierung zu den gefährlichsten des gesamten Drogenhandels in der Hemisphäre gehört, war dies eine bemerkenswert magere Beute. Dennoch verkündete Hinds stolz, man könne 7.000 Schuß mit 7.000 jamaikanischen Leben gleichsetzen. Daher sei die Razzia allemal der Mühe wert gewesen. Diese Äußerung mutet angesichts der mehr als 70 Toten nachgerade zynisch an.

Insgesamt sollen über 500 Personen verhaftet worden sein, die nun in einem Stadion gefangengehalten werden. Reporter der New York Times konnten beobachten, wie mehrere Transporter mit weiteren Festgenommenen und Wachen eintrafen. Einige junge Männer näherten sich von der Innenseite her der Umzäunung und berichteten, daß sie von den Wächtern geschlagen worden seien. Einer erzählte sogar, daß man einen Freund vor seinen Augen in Tivoli Gardens exekutiert habe. Unterdessen drängten sich mehr als hundert Menschen gegen das Stadiontor, um von den dort postierten Wächtern etwas über ihre Angehörigen zu erfahren.

Während die täglich steigende Zahl bestätigter Todesopfer und die zwangsläufig an diktatorische Regimes erinnernde Ungewißheit über den Verbleib Verschwundener samt der Massenhaft im Stadion in Jamaika heftige Kontroversen ausgelöst hat, lobte die Obama-Administration sichtlich zufrieden die Operation. Wie Justizminister Eric Holder in Washington erklärte, unterstützten die Vereinigten Staaten die Bemühungen der jamaikanischen Regierung, die Herrschaft des Gesetzes aufrechtzuerhalten, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten wie auch den Drogenhandel und andere kriminelle Aktivitäten zu bekämpfen.

Unerwähnt ließ der Justizminister freilich, daß die von ihm zitierte öffentliche Sicherheit ausgerechnet in jenem Armenviertel mit etwa 70 Toten bezahlt wurde, dessen Bewohner sich in den zurückliegenden Jahren des denkbar größten Schutzes in einer gefährlichen Stadt wie Kingston erfreuten.

Anmerkungen:

[1] USA wollen Kriminalität in Karibikstaaten bekämpfen. Millionenschweres Programm gegen Verbrechensbekämpfung angekündigt (28.05.10)
NZZ Online

[2] Gang Leader Still Eludes Police as Death Toll in Jamaica Rises (27.05.10)
New York Times

28. Mai 2010