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LATEINAMERIKA/2406: Zwölf Aktivisten von Atenco kommen überraschend frei (SB)


Oberstes Gericht Mexikos ordnet sofortige Haftentlassung an


Nachdem die Regierung des konservativen mexikanischen Präsidenten Vicente Fox den Bau eines Großflughafens auf dem Gebiet des inzwischen ausgetrockneten Texcoco-Sees in der Hauptstadtregion angeordnet hatte, formierte sich der Widerstand in Kreisen der Anwohner, die dem Projekt weichen sollten. Diese gründeten 2001 in San Salvador Atenco die "Front der Dörfer zur Verteidigung des Bodens" (FDTP), einen Zusammenschluß mehrerer kleinbäuerlicher Gemeinden. Dem Bündnis gelang es durch zahlreiche spektakuläre Aktionen, das Vorhaben im August 2002 ein erstes Mal zu verhindern. Am 3. und 4. Mai 2006 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Gegnern des Flughafenbaus und Sicherheitskräften, in deren Verlauf mehr als 200 Menschen festgenommen wurden.

Die Polizei ging mit massiver Repression gegen die Zivilisten vor, wobei sie selbst vor Morden und Vergewaltigungen nicht zurückschreckte. In außerordentlich fragwürdigen Gerichtsverfahren wurden später zwölf Aktivisten wegen "gemeinsamer Geiselnahme", "schweren Eingriffs in den Straßenverkehr", "unerlaubten Waffenbesitzes" und "Angriffen gegen die Staatsgewalt" angeklagt und zu horrenden Haftstrafen verurteilt. [1]

Im vergangenen Jahr wurde die Kampagne "Freiheit und Gerechtigkeit für Atenco" ins Leben gerufen, die durch eine breite Unterstützung in Mexiko wie auch im Ausland für Aufsehen sorgte, zumal sich prominente Persönlichkeiten bis hin zu Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu für die Freilassung der Gefangenen einsetzten. Außergewöhnlich für mexikanische Verhältnisse war das geschlossene Auftreten zahlreicher Kräfte eines weiten Spektrums der Linken, das von Studierenden, Intellektuellen und Künstlern über Aktivisten einflußreicher Gewerkschaften bis hin zur zapatistischen Befreiungsarmee EZLN reichte. [2]

Diese 16 Monate währende Solidaritätskampagne hat zweifellos dazu beigetragen, daß die erste Kammer des Obersten Gerichtshofs am 30. Juni die sofortige Haftentlassung der zwölf Aktivisten anordnete. Noch am Vortag waren mehr als 3.000 Menschen vor dem Sitz des Gerichts zusammengekommen, um sich für die Freilassung der letzten zwölf Gefangenen einzusetzen. Die Richter begründeten ihre Entscheidung damit, daß man den politischen Gefangenen durch manipulierte Beweise Straftaten zur Last gelegt hatte, die sie nie begangen haben. Offenbar sei damals das Ziel verfolgt worden, den sozialen Protest gegen das Großprojekt zu kriminalisieren.

Besonders überraschend erfolgte die Freilassung von Ignacio del Valle, der als angeblicher "Rädelsführer" zu 112 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, während die anderen elf Aktivisten Strafen zwischen 30 und 67 Jahren erhalten hatten. Obgleich damals zwei Menschen getötet, Hunderte festgenommen und gefoltert, 30 Frauen sexuell mißhandelt oder vergewaltigt und Dutzende Häuser völlig zerstört worden waren, ist bislang so gut wie keiner der über 3.000 daran beteiligten Polizisten bestraft worden. Die Aktivisten wollen sich nun dafür einsetzen, daß die Verantwortlichen für diese Delikte zur Rechenschaft gezogen werden.

Auslöser des zunächst lokalen Konflikts am 3. Mai 2006 war ein Versuch der Polizei, Blumenverkäufer zu vertreiben, die ihre Ware am Straßenrand feilboten. Viele Mexikaner sehen keine andere Möglichkeit, als ihren Lebensunterhalt durch Straßenverkauf zu verdienen, weshalb informelle Händler in zahllosen Städten alltäglich präsent sind. Da sie nach Gutdünken der Behörden und Geschäftsleute das Stadtbild stören, kommt es immer wieder zu Repressalien. Um sich gegen die Vertreibung zur Wehr zu setzen, baten die Blumenverkäufer im Nachbarstädtchen Atenco um Hilfe, die sie umgehend erhielten. Als Aktivisten der FPDT versuchten, den Konflikt im Dialog zu lösen, prügelten Polizisten auf sie ein. Daraufhin kam es zu einer heftigen Straßenschlacht, in der es unter Einsatz von Stöcken, Steinen und Molotowcocktails gelang, die schwerbewaffnete Bundespolizei in die Flucht zu schlagen und insgesamt 15 Ordnungshüter verschiedener Einheiten gefangenzunehmen.

Zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen in Mexiko, die im Zeichen heftiger politischer Kontroversen standen, fand die Auseinandersetzung landesweit große Aufmerksamkeit in den Medien. Während rechtsgerichtete Kräfte den Einsatz der Armee zur Niederschlagung dieses Aufstands forderten, solidarisierte sich die "Andere Kampagne", eine außerparlamentarische Linksallianz, mit dem Protest der Bevölkerung. Wenige Tage zuvor hatte Zapatisten-Sprecher Subcomandante Marcos die Gemeinde Atenco besucht. Nun rief er auf einer Kundgebung in der Hauptstadt den "Roten Alarm" für die zapatistischen Truppen im südmexikanischen Chiapas aus. Vielerorts schlossen sich Organisationen dem Aufruf an, blockierten Straßen, hielten Kundgebungen ab und forderten die Polizeikräfte auf, den inzwischen gebildeten Belagerungsring um Atenco aufzulösen.

Bevor die Unterstützer sich formieren konnten, schlugen die Sicherheitskräfte zu. Bereits in der folgenden Nacht rückten 3.000 Polizisten aus Landes- und Bundeseinheiten nach Atenco ein, stürmten wahllos Häuser, verwüsteten das Mobiliar und nahmen unter Anwendung äußerster Brutalität und Schußwaffengebrauch fast 300 Menschen fest. Dabei wurde ein 14jähriger erschossen, Dutzende Personen trugen Verletzungen davon. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten schwere Mißhandlungen in Polizeigewahrsam und Gruppenvergewaltigungen verhafteter Frauen durch die Ordnungskräfte, was der Minister für Innere Sicherheit, Eduardo Medina Mora, zynisch als "einige unvermeidbare Exzesse in der Hitze des Gefechts" abtat.

Präsident Vicente Fox trat sichtlich zufrieden vor die Kameras und erklärte, man habe die Ordnung umgehend wiederhergestellt, da in einem Rechtsstaat niemand über dem Gesetz stehe. Viele Beobachter gingen jedoch von einem Racheakt der Regierung gegen die Bevölkerung von Atenco aus, die fünf Jahre zuvor das Prestigeobjekt des Großflughafens verhindert und damit die Pläne einflußreicher Profiteure durchkreuzt hatte. Zunächst feierten die mexikanischen Medien das Vorgehen der Polizei fast unisono, doch nach und nach drangen immer mehr Informationen über die Brutalität dieses Einsatzes an die Öffentlichkeit. Überall im Land berieten Basisorganisationen weitere Schritte, und die Rundreise des Subcomandante Marcos, die zuvor weitgehend totgeschwiegen worden war, fand plötzlich Beachtung in den Massenmedien. Die Staatsanwaltschaft hatte 189 Verhaftete wegen Bildung einer "kriminellen Vereinigung" unter Anklage gestellt, wogegen landesweit soziale Bewegungen mit dem Ziel der Freilassung aller Gefangener auf die Straße gingen. Zudem sahen sich die mexikanischen Konsulate und Botschaften im Ausland einer Serie von Protestaktionen ausgesetzt.

Ignacio ("Nacho") del Valle, gegen den die höchste Strafe verhängt wurde, war den Behörden schon geraume Zeit ein Dorn im Auge. Ihm wurde unter anderem zur Last gelegt, wenige Wochen zuvor Behördenvertreter "entführt" zu haben. Bei dem fraglichen Vorfall hatte er bei Verhandlungen mit Vertretern der Schulbehörde, die das Gespräch abbrechen wollten, kurzerhand die Tür abgeschlossen. Während ihm dieses Vorgehen, das in Mexiko durchaus eine gewisse Tradition im Umgang mit arroganten Staatsbediensteten hat, als schweres Verbrechen ausgelegt wurde, blieben die Toten, sexuellen Übergriffe auf festgenommene Frauen, zahlreichen Verletzten und willkürlich Verhafteten, Mißhandlungen der Gefangenen wie auch die angerichteten Zerstörungen in Atenco weitgehend folgenlos für die Sicherheitskräfte. Nach heftigem Protest überstaatlicher Organisationen von Amnesty International bis zu den Vereinten Nationen wurde nur ein einziger Polizist wegen sexueller Belästigung verurteilt und bald darauf wieder auf freien Fuß gesetzt.

Der Hauptverantwortliche für den Angriff auf Atenco, Eduardo Medina Mora, war von 2000 bis 2005 Direktor des mexikanischen Geheimdienstes CISEN. Nach dem Tod Ramón Martín Huerta bei einem Hubschrauberunglück wurde er dessen Nachfolger als Minister für Innere Sicherheit. Dieses Amt bekleidete er bis 2006, worauf er nach Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón im Dezember 2006 zum Generalstaatsanwalt ernannt wurde. Er ignorierte die umfassende Untersuchung der staatlichen Menschenrechtskommission ebenso wie die Vorwürfe weiterer mexikanischer und internationaler Organisationen.

Auch setzte man zunächst keine großen Hoffnungen in das Oberste Gericht, das in dieser Kontroverse angerufen worden war. Nach Artikel 97 der mexikanischen Verfassung obliegt diesem Gremium die Bewertung, ob Ereignisse vorliegen, die eine "schwere Verletzung eines individuellen Grundrechtes darstellen". Das Gericht kann eine Untersuchungskommission bestellen, die unabhängig von örtlichen und föderalen Behörden ermittelt. Einige konservative Verfassungsrichter verneinten die Zuständigkeit des Gerichts, doch setzte sich schließlich mit knapper Mehrheit die Auffassung durch, daß das Oberste Gericht "weder Komplize durch Unterlassen noch Wäscherei für Menschenrechtsverletzungen" sein dürfe.

Anfang Februar 2007 erklärte sich das Richtergremium zuständig für die Aufarbeitung der Vorkommnisse und ordnete eine Untersuchungskommission an. Damit konnten die von staatlichen Autoritäten unter dem Vorwand der "Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung" begangenen Taten auf höchster richterlicher Ebene behandelt werden. Fast dreieinhalb Jahre nach dieser Entscheidung des Obersten Gerichts bleibt festzuhalten, daß die damalige Weichenstellung die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, daß nun die Freilassung der letzten zwölf Gefangenen angeordnet werden konnte.

Anmerkungen:

[1] Freiheit für Atenco-Aktivisten (02.07.10)
http://amerika21.de/nachrichten/2010/07/2923/freiheit-atenco-aktivisten

[2] Soziale Aktivisten in Mexiko freigesprochen (02.07.10)
Neues Deutschland

5. Juli 2010