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LATEINAMERIKA/2420: Mexiko diskutiert Legalisierung von Drogen - Washington schweigt (SB)


Präsident Calderón sieht staatliche Ordnung durch Kartelle bedroht


Vor wenigen Tagen hat der frühere mexikanische Staatschef Vicente Fox sein Land dazu aufgerufen, Produktion, Distribution und Verkauf von Drogen zu legalisieren, da dies der beste Weg sei, die Kartelle zu schwächen. Damit hat er eine Debatte angestoßen, die nicht nur so alt wie die Kriminalisierung bestimmter Konsummittel, sondern auch überfrachtet mit politischen, ökonomischen, sozialen und moralischen Erwägungen ist. Fox räumte ein, daß Strategien radikaler Prohibition noch nie funktioniert hätten, womit er sich der Auffassung Ernesto Zedillos, der zu seinen Amtsvorgängern zählt, wie auch jener ehemaliger Präsidenten Brasiliens und Kolumbiens anschloß, die im vergangenen Jahr den sogenannten Antidrogenkrieg für gescheitert erklärt und Alternativen wie Straffreiheit für Marihuanabesitz gefordert hatten. [1]

Mexikos amtierender Staatschef Felipe Calderón lehnt eine Legalisierung nach wie vor ab, unterstützt aber eigenen Angaben zufolge eine offene Diskussion über ein Ende der Prohibition. Die tendentielle Aufgeschlossenheit des konservativen Präsidenten, der sich bislang in eine erbitterte Kriegsführung gegen die Kartelle mit militärischen Mitteln verbohrt hat, kommt nicht von ungefähr. Seit Beginn seiner Amtszeit und Offensive gegen das Drogengeschäft sind mehr als 28.000 Menschen in den daraus resultierenden Auseinandersetzungen getötet worden, wobei die Eindämmung dieses nicht selten bürgerkriegsartigen Konflikts unabsehbarer denn je ist.

Auf einer dreitägigen Konferenz zu Fragen der inneren Sicherheit, die Anfang August in Mexiko-Stadt stattfand, erklärte Calderón, das kriminelle Verhalten habe sich in der Weise verändert, daß es inzwischen die staatliche Ordnung ablehne und sogar versuche, diese zu ersetzen. Zugleich rief der Präsident die gesamte Politik und Zivilgesellschaft des Landes auf, sich seinem Kampf anzuschließen, da Politiker ermordet, Priester entführt, Institutionen eingeschüchtert und Journalisten drangsaliert würden. [2] Zwar hatte Calderón zuvor schon des öfteren die rückhaltlose Unterstützung seiner Landsleute in diesem Konflikt angemahnt, doch dabei stets den unbeugsamen Sicherheitspolitiker herausgekehrt, der Mexiko mit harter Hand durch das Tal der Tränen führen werde. Sein Eingeständnis, daß die Kartelle die demokratischen Institutionen erodierten und den Staat offen herausforderten, zeugt über zweckdienliche Propaganda hinaus von einer zunehmenden Besorgnis, daß seine Strategie ohne entscheidende Kurskorrektur zum Scheitern verurteilt sein könnte.

Nachrichten aus Mexiko sind in der Tat geeignet, das Schlimmste befürchten zu lassen. In etlichen Regionen des Landes übertrifft der Einfluß der Kartelle jenen der Behörden, werden Politiker und Polizisten aller Ebenen bestochen, bedroht und umgebracht, versieht ein gescheitertes Justizsystem die Drogenbanden mit Straffreiheit, werden einheimische und ausländische Journalisten durch Einschüchterung, Entführung und Mord zum Schweigen gebracht.

Im Zuge einer Reihe von öffentlichen Fachtagungen zu Strategien der Verbrechensbekämpfung traf Calderón jüngst mit Richtern und Staatsanwälten zusammen. An diese richtete er die Frage, warum einerseits viele mutmaßliche Straftäter unter dringendem Verdacht festgenommen, doch andererseits nur wenige vor Gericht gebracht, geschweige denn verurteilt würden. Zwar nannte der Präsident keine konkreten Zahlen, doch legen der Associated Press vorliegende Daten nahe, daß lediglich 15 Prozent der Verdächtigen, die zwischen Dezember 2006 und September 2009 im Zusammenhang mit Drogendelikten festgenommen wurden, verurteilt worden sind. Der Vorsitzende Richter am Obersten Gerichtshof, Guillermo Ortiz, räumte in diesem Zusammenhang zwar ein, daß man einige Anklagen aus Mangel an Beweisen fallenlassen müsse. Indessen würden rund 85 Prozent der Angeklagten, gegen die ein Prozeß wegen schwerer Straftaten geführt werde, in aller Regel auch verurteilt. Diese Einlassung des Richters vermag die von Calderón monierte Diskrepanz freilich nicht zu erhellen. [3]

Anfang des Monats formierten sich mehr als tausend mexikanische Journalisten zu einem Demonstrationszug in der Hauptstadt, um ein Zeichen gegen die Entführung und Ermordung von Pressevertretern zu setzen. Dies war um so bemerkenswerter, als sich diese Zunft in Mexiko traditionell durch scharfe Konkurrenz und mangelnde Solidarität auszeichnet. Wie die Organisatoren der Aktion erklärten, komme man zwar 64 Tote zu spät, habe sich aber endlich doch entschlossen, Gerechtigkeit für die getöteten oder verschleppten Kollegen einzufordern und ein Ende der Straflosigkeit bei Verbrechen gegen Journalisten anzumahnen. Die Kundgebungsteilnehmer riefen die Behörden zu Gesprächen über Sicherheitsprotokolle auf, da es nicht hinzunehmen sei, aus berechtigter Furcht vor Repressalien die riskante Berichterstattung einzustellen und sich dem Pakt des Schweigens anzuschließen. [4]

Internationale Medien stufen Mexiko als eines der weltweit gefährlichsten Länder für die Ausübung journalistischer Tätigkeit ein. Wenngleich die genauen Opferzahlen je nach Quelle differieren, steht doch fest, daß sich die Bedrohungslage weiter verschärft hat. Zwar werden Journalisten lokaler Medien seit langem von den Drogenbanden eingeschüchtert und bedroht, doch signalisierte die kürzlich erfolgte Entführung von vier Journalisten, von denen drei bei nationalen Fernsehsendern beschäftigt sind, eine neue Stufe der Eskalation. Glücklicherweise wurden zwei der Verschleppten freigelassen und die anderen beiden von der Polizei befreit. Viele weitere haben jedoch ihre kritische Berichterstattung mit dem Leben bezahlt.

Es sind jedoch nicht nur die Kartelle, die längst in zahllosen Übergriffen gegen ihr gesamtes gesellschaftliches Umfeld vorgehen, sondern auch die Sicherheitskräfte, die Menschen- und Bürgerrechte in zunehmendem Maße mit Füßen treten. Entsandte man zunächst die Bundespolizei, um die notorisch korrupten lokalen Polizeikräfte als Teil des Problems einzudämmen und nicht selten sogar offen zu bekämpfen, so waren bald darauf auch die Bundespolizisten von der Gemengelage aus Bedrohung und Bestechung infiziert, die bis hinauf in die Führungsetagen der Antidrogenbehörde, nationalen Polizei und Staatsanwaltschaft reichte. Als Calderón die Streitkräfte einsetzte, prophezeiten Skeptiker, daß deren vermeintliche Immunität nur solange vorhalten werde, wie sie neu vor Ort stationiert seien. Diese Befürchtung bestätigte sich, so daß die Regierung schließlich eine Waffengattung gegen die andere austauschte und die Marine gegen das inzwischen unterwanderte Heer einsetzte. Letztendlich brachte es nicht zuletzt diese Art der Kriegsführung im eigenen Land zwangsläufig mit sich, in diversen Spielarten der Brutalität und Tücke das gesamte Einsatzgebiet und mithin auch die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen.

Da die mexikanische Regierung ihr sicherheitspolitisches Blatt inzwischen nahezu ausgereizt hat, ohne die Eskalation der Kämpfe zügeln zu können, und in zunehmendem Maße mit dem Vorwurf konfrontiert wird, sie gieße mit ihrer Kriegsführung gegen die Kartelle unablässig Öl ins Feuer, scheinen zumindest Ansätze eines durch die desolaten Umstände erzwungenen Umdenkens möglich zu werden. Inzwischen öffnen sich Präsident und Parlament wie auch zahlreiche andere Mitglieder der Zivilgesellschaft der Debatte um eine mögliche Legalisierung der Drogen, die nicht bei Marihuana haltmacht.

Während die Kontroverse um die möglichen Konsequenzen eines solchen Kurswechsels die Gemüter in Mexiko erhitzt, herrscht weithin Einigkeit in der Auffassung, daß man eine Legalisierung kaum auf eigene Faust herbeiführen kann und dazu insbesondere einer Unterstützung der USA bedarf. Dort ist bislang jedoch nur in Einzelfällen Bewegung in die Diskussion gekommen. So hat der Stadtrat von El Paso, das direkt gegenüber von Ciudad Juarez, dem gemeinhin als gefährlichste Stadt der Welt bezeichneten Schlachtfeld der Kartelle, liegt, im vergangenen Jahr "eine ehrliche und offene landesweite Debatte über ein Ende der Prohibition von Drogen" angemahnt. Auch hat Gouverneur Arnold Schwarzenegger in Kalifornien eine Legalisierungsdebatte hinsichtlich des Gebrauchs von Marihuana angestoßen, wobei den Bürgern im November ein Vorschlag zur Abstimmung vorgelegt wird.

Auf Ebene der US-Bundespolitik ist jedoch keine Regung in dieser Richtung zu erkennen, da man in Washington über Legalisierung bislang nicht einmal diskutiert. Dieser Begriff, so hat der Drogenzar mehrfach betont, sei in seinem Wortschatz ebensowenig enthalten wie in dem Präsident Obamas. Wenngleich dieses Tabu zweifellos auch parteipolitischen Erwägungen geschuldet ist und man nicht ohne Not ein heißes Eisen anfassen will, liegen die wesentlichen Motive dieser Blockade doch tiefer. Der sogenannte Antidrogenkrieg ist als Zwillingsbruder des Antiterrorkriegs ein unverzichtbares strategisches Instrument der Herrschaftssicherung im Weltmaßstab wie auch im eigenen Land. Das Element der Bezichtigung und Bestrafung ist in diesem Entwurf von zentraler Bedeutung, weshalb ein Verzicht auf diese Schiene des Zugriffs in Washington nicht zur Debatte steht.

Anmerkungen:

[1] Time for the US to Join the Discussion. Mexico Considers Legalizing Drugs (13.-15.08.10)
Counterpunch

[2] President Calderon Mexico's drug war: stay the course (05.08.10)
New York Times

[3] Mexico President Seeks Crime Answers (11.08.10)

New York Times

[4] Mexico Journalists Protest Killings (07.08.10)

New York Times

17. August 2010