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LATEINAMERIKA/2429: Brasilien wählt - Dilma Rousseff soll Lulas Erbe sichern (SB)


Wunschnachfolgerin beim Urnengang am 3. Oktober favorisiert


Ab 1. Januar 2011 wird mit Dilma Rousseff erstmals eine Präsidentin an der Spitze Brasiliens stehen, welche die Staatsgeschäfte von Luiz Inácio Lula da Silva übernimmt. Da dieser seine Nachfolgerin gezielt aufgebaut hat, kann man davon ausgehen, daß auf absehbare Zeit kein Kurswechsel stattfinden wird. Dürfte Lula nach zwei Amtsperioden ein drittes Mal kandidieren, wäre ihm der Sieg beim Urnengang am 3. Oktober sicher. Nach acht Jahren ist er beliebt wie nie zuvor, über 80 Prozent seiner Landsleute sind mit der Amtsführung zufrieden. Ein prominenter Platz in der Geschichte Lateinamerikas ist ihm gewiß, und er läßt nichts unversucht, sein politisches Vermächtnis zu befördern. Dilma Rousseff gewinnt entweder bereits mit absoluter Mehrheit im ersten Durchgang oder falls erforderlich in der Stichwahl.

Wunschnachfolger des scheidenden Präsidenten war ursprünglich der ehemalige Wirtschaftsminister Antonio Palocci, der jedoch in einen Korruptionsskandal in seiner Heimatstadt verstrickt ist. Daraufhin hob Lula gegen erbitterten Widerstand in seiner Partei Rousseff auf den Schild, die der Arbeiterpartei PT erst vor wenigen Jahren beigetreten ist. Dem konservativen ehemaligen Gouverneur von Sao Paulo, José Serra (PSDB), und Marina Silva (Grüne) wird keine ernstzunehmende Chance eingeräumt, die Stabübergabe von Lula zu Rousseff zu verhindern. Serra, der vor wenigen Monaten noch mit der Favoritin gleichauf lag, ist inzwischen deutlich zurückgefallen. An Profil gewonnen hat zuletzt die Grünen-Politikerin Marina Silva. Einst Lulas umweltpolitisches Aushängeschild, wurde sie bei allen wichtigen Projekten ausgebremst. Sie galt als wichtigste Vertreterin des basisdemokratischen, linken und ökologischen Flügels der Arbeiterpartei, bis sie zu den Grünen wechselte. [1]

Der Präsident höhlte die Kompetenzen der Umweltministerin systematisch aus, während seine damalige Kabinettschefin Rousseff als energische Technokratin alle spektakulären Großprojekte wie Staudämme, Kraftwerke, Straßenbau und den Ausbau von Biokraftstoffen anschob. Silva zog mit ihrem Rücktritt und Parteiaustritt die Konsequenzen, was ihren Ruf als unermüdliche Kämpferin gegen Abholzung und Umweltzerstörung im In- und Ausland stärkte. Zudem verstand sie es im Wahlkampf, Künstler, Intellektuelle und in gewissem Umfang sogar Wirtschaftkreise für sich einzunehmen, denen sie im Gegensatz zu Rousseff und Serra als Vertreterin einer modernen und unbelasteten Politik gilt.

Belastet hat Dilma Rousseff, die an der Schnittstelle von Staat und Wirtschaft positioniert war, zuletzt doch noch der Ruch von Korruption und Nepotismus, die als das größte Manko der Präsidentschaft Lulas gelten. Wenngleich von ihm selbst alle Vorwürfe abprallten, was ihm den Beinamen "Teflonpräsident" einbrachte, rollten zeitweise in seinem engsten Umfeld von Regierung und Arbeiterpartei nur so die Köpfe, als ein aufgedeckter Skandal den nächsten jagte. Lula hat Zehntausende Funktionäre der Arbeiterpartei mit Ämtern und Posten bedacht, wodurch ein undurchsichtiger Filz gedieh, der öffentliche, politische und private Interessen unlösbar miteinander verstrickte. Zwar war Rousseff selbst nichts anzulasten, doch hatte ihre engste Mitarbeiterin Freunde und Verwandte mit wichtigen Posten versorgt und möglicherweise auch bei der Vergabe von Staatsaufträgen mitkassieren lassen.

Zur Schadensbegrenzung sprang Lula augenblicklich in die Bresche und sorgte dafür, daß die im Zentrum der Anschuldigungen stehende Erenice Guerra zurücktrat, die früher die rechte Hand Rousseffs gewesen war. Zugleich ging er zum Gegenangriff auf die Medien über, die für die Aufdeckung des Skandals gesorgt hatten, und brach damit einen heftigen Streit um die Meinungsfreiheit vom Zaun. Nicht wählerisch in seinen Mitteln, den Erfolg Dilma Rousseffs sicherzustellen, war der Präsident auch beim Ausbau des Regierungsbündnisses mit der Zentrumspartei PMDB. Diese gilt als Partei ohne nennenswerte ideologische Grundlagen, die sich vor allem auf Vetternwirtschaft und Ämtergier konzentriert. [2]

Gegenwind hat eine künftige Präsidentin Rousseff von all jenen zu erwarten, die sich mit dem Wachstumsfetischismus der Lula-Ära nicht anfreunden konnten und deren ökologische Grausamkeiten verurteilen. Zudem drängt der linke Flügel der Arbeiterpartei, der unter Lula zurückgestutzt wurde, auf größeren Einfluß auf die künftige Ausrichtung. Konservative Kreise hegen den Verdacht, daß sich unter Dilma Rousseff die Wirtschaftspolitik verändern und eine deutlich stärkere Staatsorientierung annehmen könnte. Vor allem im Ausland rechnet man damit, daß Einfluß und Kontrolle des Staates in allen Schlüsselbranchen der Wirtschaft, am stärksten in der Finanzbranche, im Bergbau, im Öl- und Gassektor sowie bei den Pensionsfonds, zunehmen werden. [3]

Schon jetzt werden Landkäufe durch ausländische Agrokonzerne per Dekret beschränkt und ausländische Anbieter häufig bei staatlichen Ausschreibungen für Infrastrukturprojekte ausgeschlossen. Dies hat zu einem Dauerstreit bei den Verhandlungen zwischen der EU und dem südamerikanischen Wirtschaftsverbund Mercosur geführt, und erst vor wenigen Tagen hat der brasilianische Industrieverband CNI dem EU-Handelskommissar Karel de Gucht erklärt, daß die brasilianischen Mitgliedsunternehmen derzeit nicht an einem Abkommen mit Europa interessiert seien.

Anmerkungen:

[1] Präsidentenwahl in Brasilien. Kampf um Lulas Erbe (30.09.10)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,720406-2,00.html

[2] Wahlen in Brasilien. Kommt es zur Stichwahl zwischen Dilma Rousseff und José Serra? (30.09.10)
http://www.kas.de/brasilien/de/publications/20661/

[3] Brasilien steuert Staatswirtschaft an (30.09.10)
http://www.handelsblatt.com/politik/international/praesidentschaftswahl-brasilien-steuert-staatswirtschaft-an;2663552

30. September 2010