Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


LATEINAMERIKA/2482: Brasiliens Regime läßt Soldaten aufmarschieren (SB)



Massenprotest gegen die Regierung des Putschisten Michel Temer

Das Putschistenregime unter Führung des brasilianischen Präsidenten Michel Temer steht für eine Krisenbewältigungsstrategie der Eliten des Landes, die angesichts einer kaum überwundenen ökonomischen Talfahrt auf eine massive Schwächung der Lohnabhängigenklasse und Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen setzt. Die neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt mit ihren 208 Millionen Einwohnern überwindet nur mühsam die tiefe Rezession. Seit 2015 ist die Wirtschaftsleistung um 7,4 Prozent eingebrochen, nach offiziellen Angaben sind 13,5 Millionen Menschen arbeitslos. Die konservative Regierung Temers wird von vielen Brasilianern als illegal angesehen, weil sie nur über eine putschgleiche Absetzung der demokratisch gewählten Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 an die Macht gekommen ist. Der "Golpista" (Putschist) geschmähte Staatschef begann nach seinem Amtsantritt, eine neoliberale Agenda durchzusetzen, für die er keinerlei demokratische Legitimation erhalten hat. Die von ihm verordnete Kürzungspolitik sieht vor, öffentliche Ausgaben für die Dauer von 20 Jahren einzufrieren, ein späteres Renteneintrittsalter einzuführen und die Arbeitsgesetze im Sinne der Unternehmer zu lockern. Letzteres umfaßt unter anderem die Ausweitung von Arbeitszeiten und eine Einschränkung der Mitsprache von Gewerkschaften.

Bei einer Demonstration in Brasília, zu der die Gewerkschaften, Teile der Opposition und soziale Bewegungen aufgerufen hatten, kamen rund 150.000 Menschen zusammen. In der von Oscar Niemeyer geplanten Hauptstadt sind alle Ministerien und der Kongreß rund um eine große Fläche, die Esplanada dos Ministérios, angeordnet, auf der sich die Menschen versammelten und "Fora Temer" ("Temer raus") skandierten. Sie forderten den Rücktritt des Präsidenten, Neuwahlen und das Ende der Kürzungspolitik. Nachdem der Protestmarsch zunächst friedlich verlaufen war, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Verschiedene Gruppen stürmten acht Ministerien, zerstörten die Einrichtung und Computer und legten Feuer in zwei Gebäuden. Die Polizei schoß mit Tränengas, Gummigeschossen und Blendgranaten in die Menge, wobei Bilder und die Funde von Patronenhülsen belegen, daß auch mit scharfer Munition auf die Demonstranten gefeuert wurde. Den Behörden zufolge wurden 49 Menschen verletzt und acht festgenommen.

Michel Temer ordnete per Dekret zunächst für die Dauer einer Woche den Einsatz der Streitkräfte an, worauf 1500 Soldaten aufmarschierten. Verteidigungsminister Raul Jungmann erklärte dazu, der Präsident habe den Militäreinsatz verfügt, um die Regierungsgebäude zu schützen. Als das in einer laufenden Kongreßsitzung bekannt wurde, kam es zu tumultartigen Szenen und Handgreiflichkeiten. Die Arbeiterpartei warf Temer eine Eskalation vor, die Opposition verließ zum Zeichen des Protests geschlossen den Plenarsaal. Zwangsläufig rief der Einsatz von Truppen gegen die Bevölkerung düstere Erinnerungen an die Tage der Militärdiktatur wach, die das Land von 1964 bis 1985 in ihren eisernen Klauen gehalten hatte. Zuletzt kamen Soldaten in bestimmten Sicherheitslagen oder bei Großereignissen wie der Fußballweltmeisterschaft 2014 oder den Olympischen Spielen 2016 zum Einsatz. [2]

Die Proteste waren die heftigsten seit langem, überall brannten kleine Feuer, viele Scheiben in Ministerien gingen zu Bruch. In sozialen Netzwerken war die Rede davon, daß sich der "Putschist" nun auf das Militär stütze, um an der Macht zu bleiben. Mit Blick auf den schwarzen Rauch, der über dem Regierungsviertel hing, hieß es in Anspielung auf das Prozedere der Papstwahl, Brasilien habe noch keinen neuen Präsidenten. Temer ist bis Ende 2018 im Amt und lehnt einen Rücktritt kategorisch ab. Daß seine Lage immer brenzliger wird, unterstrich jedoch auch die Reaktion des Senators Tasso Jereissati von der rechtsgerichteten Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB), Temers größtem Koalitionspartner, der ein klares Bekenntnis zum Präsidenten vermied und sich ebenfalls an die Militärdiktatur erinnert fühlte. Da Jereissati als einer der möglichen Nachfolger Temers gilt, liegt die Doppelbödigkeit seines Taktierens auf der Hand. [3]

Als Brandbeschleuniger der Proteste gegen den 76jährigen Temer wirkte ein letzte Woche publik gewordener 38minütiger Mitschnitt. Dabei geht es um ein Gespräch Temers mit dem Besitzer des weltgrößten Fleischkonzerns JBS, Joesley Batista, der heimlich alles aufgezeichnet hatte. JBS soll über Jahre Politiker bestochen haben, doch hat Batista inzwischen in einem Vergleich mit der Justiz 65 Millionen Euro gezahlt und ausgepackt. Den Mitschnitt übergab er der Justiz, von wo aus die Aufzeichnung ihren Weg zu den Medien fand. Die Aufnahmen nähren den Verdacht von Schweigegeldabsprachen, damit der Ex-Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der bereits im Gefängnis sitzt, nicht sein Wissen über das gesamte Korruptionsnetzwerk preisgibt. Temer soll zudem für seine letzte Wahlkampagne von JBS 15 Millionen Reais (4,2 Mio Euro) erhalten und eine Million (280.000 Euro) selbst eingesteckt haben.

JBS soll in den letzten Jahren rund 500 Millionen Reais (137 Mio Euro) an Parteien und Politiker gezahlt haben, darunter an drei Präsidenten und 167 Abgeordnete. Im Gegenzug bekam der Konzern unter anderem günstige Kredite einer staatlichen Förderbank und konnte so Zukäufe tätigen. Mit Hilfe dieser Expansion stieg der Umsatz binnen zehn Jahren von vier auf 170 Milliarden Reais (rund 46,5 Mrd. Euro) im Jahr. Cunha, der wie Temer Mitglied der rechtskonservativen Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) ist, gilt als Drahtzieher der Amtsenthebung von Temers Vorgängerin Dilma Rousseff vor einem Jahr. Da er umfassendes Wissen zu den Beteiligten in der Korruptionsaffäre um den Petrobras-Ölkonzern verfügen soll, könnte er als Kronzeuge das gesamte politische Establishment Brasiliens zum Einsturz bringen.

Die Justiz ermittelt inzwischen offiziell gegen Temer sowie gegen acht seiner Minister und zahlreiche Kongreßabgeordnete, wobei der Korruptionsskandal in Brasilien schon seit Jahren schwelt. Neben dem Präsidenten sind auch dessen Vorgänger Dilma Rousseff und Luiz Inácio Lula da Silva, knapp 30 Senatoren und 180 Abgeordnete ins Visier der Ermittler geraten. Über Jahre waren Unternehmen wie JBS, der staatliche Energiekonzern Petrobras und das Bauunternehmen Odebrecht in Schmiergeldzahlungen verwickelt, um bei Aufträgen zum Zuge zu kommen. [4]

Die von Regierungskritikern erhobene Forderung nach sofortigen Neuwahlen scheint nicht ungehört zu verhallen. Zwei Parteien erklärten bereits den Rückzug aus der Regierungkoalition. Auch der Nationale Rat der Christlichen Kirchen Brasiliens (Conic), dem die katholische und die lutherische Kirche angehören, setzt sich angesichts der Enthüllungen für Neuwahlen des Präsidenten und des Kongresses ein. Als Temer mitteilen ließ, daß Vandalismus und die Zerstörung des öffentlichen Eigentums nicht hingenommen werden könne, brach im Internet ein neuer Proteststurm los. Tenor vieler Botschaften war dort, daß die eigentlichen Vandalen die korrupten Politiker seien, die das Land ausplünderten und zerstörten. Wenngleich die politische Kaste in den Augen der Bevölkerung diskreditiert ist, steht doch zu befürchten, daß es wie so oft lediglich zu einem Austausch des Führungspersonals kommen wird.


Fußnoten:

[1] http://www.tagesspiegel.de/politik/proteste-gegen-praesident-temer-in-brasilien-werden-erinnerungen-an-militaerputsch-wach/19852274.html

[2] https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article164910760/Ministerium-angezuendet-Praesident-ruft-Militaer.html

[3] http://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_81276512/brasilien-entsendet-soldaten-zum-schutz-vor-demonstranten.html

[4] http://www.dw.com/de/brasiliens-präsident-temer-startet-gegenangriff/a-38921589

25. Mai 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang