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MILITÄR/812: Entgrenzter Zugriffsanspruch - NATO stellt neue Strategie vor (SB)


"Drei-Kreise-Modell" spezifiziert Rekrutierung von Hilfstruppen


Der bereits in den 1990er Jahren formulierte strategische Entwurf einer neuen Weltordnung unter unanfechtbarer Dominanz der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zielt auf die Durchsetzung einer unumkehrbaren und mithin letztgültigen militärischen und administrativen Sicherung jeglicher für lebensnotwendig erachteten Ressourcen ab. Daß dies im Rahmen des herrschenden Raubgefüges nur zu Lasten einer ausgegrenzten Mehrheit der Menschheit erfolgen kann und sich insbesondere gegen die verbliebenen einflußreichen Konkurrenten Rußland und China richtet, liegt auf der Hand. Da dieser Anspruch auf Weltherrschaft sowohl die militärischen und ökonomischen Mittel der Führungsmacht USA überfordert, als auch in legitimatorischer Hinsicht erhebliche Widerstände überwinden muß, bedarf seine Realisierung eines verschärften Bündniszwangs innerhalb der NATO sowie deren sukzessiver Umwidmung in eine Ordnungsinstanz, die ihre Ziele in den Rang der Allgemeingültigkeit erhebt und sie von keinem anderen Gremium der sogenannten internationalen Gemeinschaft bestreiten läßt.

Vor diesem Hintergrund läßt sich die neue Strategie der NATO entschlüsseln, die heute von Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Brüssel in ihren Grundzügen vorgestellt wurde. Kontrastiert mit der letzten vergleichbaren strategischen Ausrichtung des Bündnisses im Jahr 1999 erweist sie sich als konsequente Fortsetzung des damals eingeschlagenen Kurses, der nun in einem deutlich zugespitzteren Stadium modifiziert und vorangetrieben wird. Erarbeitet wurde der Vorschlag von einer zwölfköpfigen internationalen Expertengruppe unter Leitung der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright, wobei für die Bundesregierung der frühere deutsche NATO-Botschafter Hans-Friedrich von Ploetz in diesem Gremium sitzt. Am 14. Oktober wollen die Außen- und Verteidigungsminister der NATO den Entwurf beraten, der dann am 19. und 20. November auf dem Gipfel in Lissabon von den Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsländer verabschiedet werden soll. [1]

Kernstück des Bündnisses bleibt Artikel 5, wonach ein bewaffneter Überfall auf eines der 28 Mitglieder als Angriff auf alle gewertet wird und den Bündnisfall auslöst. Während darunter in den Zeiten des kalten Krieges ein Angriff auf das Territorium eines Mitglieds zu verstehen war, hat sich die NATO längst von der Beschränkung dieses Verteidigungsfalls emanzipiert und ihre Erweiterung und Offensive weit über das ursprüngliche Bündnisgebiet hinausgetrieben. 61 Jahre nach seiner Gründung erlegt das Militärbündnis seinem Verteidigungskonzept keinerlei Schranken mehr auf und erklärt seine Sicherheit für bedroht, wo immer es auf Hindernisse seines weltweiten Raubzugs stößt.

Der frühere Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer hatte darauf hingewiesen, daß die NATO nicht überall sein könne und sich daher niemals als Weltpolizei aufspielen dürfe. Er trat jedoch keineswegs für eine Beschränkung der eigenen Ambitionen oder eine moderatere Vorgehensweise ein, sondern regte im Gegenteil eine noch stärkere Einbindung anderer internationaler Akteure an. Kollektive Sicherheit und Verteidigung blieben die Hauptaufgaben der NATO, doch habe sich die Welt verändert, da man heute auch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen eindämmen, den Zerfall von Staaten verhindern und den Kampf gegen den Terrorismus führen müsse.

In ihrem Entwurf einer neuen Strategie der NATO schlägt die Expertengruppe ein "Drei-Kreise-Modell" vor. Der erste Kreis umfaßt das Bündnisgebiet, der zweite reicht im Umfeld bis nach Rußland und dem Mittleren Osten, der dritte Kreis schließt den Rest der Welt ein. Je weiter die Bedrohung vom Bündnisgebiet entfernt liegt, desto weniger wahrscheinlich ist demnach ein alleiniges Eingreifen der NATO. An der Peripherie würde sich das Bündnis im Zusammenspiel mit den Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder etwa der Afrikanischen Union engagieren. Dieses Konzept beansprucht nicht nur unvermindert eine globale Interessensphäre, sondern fordert darüber hinaus die Rekrutierung anderer supranationaler Strukturen als militärische und ideologische Hilfstruppen.

Künftig wird auch Artikel 4 des NATO-Vertrags an Bedeutung gewinnen, wonach jedes Land, das seine "territoriale Integrität, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit" gefährdet sieht, die anderen Mitglieder zur "Konsultation" zwingen kann. Sehen beispielsweise die USA ihre Energiesicherheit oder Lebensmittelversorgung gefährdet, werden sie verstärkt auf die rückhaltlose Unterstützung der übrigen Mitgliedsländer bei der militärischen Bewältigung drängen.

Der Schub des 11. September 2001 diente den USA dazu, ihre lange vorher entworfenen strategischen Pläne in einem regelrechten Entwicklungssprung in die Tat umzusetzen und das Militärbündnis tiefgreifend zu verändern. Am 7. Oktober 2001 erklärte die US-Regierung mit der Operation "Enduring Freedom" dem "Terror" den Krieg, worauf sich die übrigen NATO-Mitglieder uneingeschränkt an die Seite Washingtons stellten. Wenngleich es hinsichtlich der Beteiligung an den Angriffskriegen in Afghanistan und dem Irak durchaus zu Differenzen kam, muten diese in der Rückschau wie eine umfassend angelegte Inszenierung der beteiligten Regierungen an, die vor der Aufgabe standen, ihrer eigenen Bevölkerung diese Kriegszüge fern der Heimat schmackhaft zu machen. Inzwischen ist selbst die Bundeswehr uneingeschränkt im grundgesetzwidrigen Engagement im Rahmen der ISAF-Mission am Hindukusch angekommen, wozu es unablässiger Hammerschläge der Kriegspropaganda bedurfte, bis das heiße Eisen endlich geschmiedet war. US-Außenministerin Hillary Clinton bedankte sich beim 60jährigen NATO-Jubiläum artig dafür, daß die NATO damals ihrem Land zur Hilfe gekommen sei. Sie vergaß dabei aber nicht, darauf hinzuweisen, daß die USA die Hauptlast trügen und stärkere Unterstützung erwarten dürften. Diese Umlastung weitreichender denn je durchzusetzen, schlägt die Expertengruppe vor.

Mit dem Untergang der Sowjetunion schien der Hauptrivale endgültig ausgeschaltet zu sein, zumal die westlichen Mächte in der Folge nichts unversucht ließen, die Zerschlagung von außen mittels einer Zersetzung von innen zu komplettieren. Das unter Putin wiedererstarkte Rußland stellt die NATO jedoch vor ungeahnte Probleme, die einer differenzierten Vorgehensweise bedürfen. Die Aufnahme ehemaliger Staaten des Warschauer Pakts bis an die Grenze Rußlands vervollkommnete zwar die Einkreisung, wozu sich die Raketenabwehrpläne gesellten. Da die Brachialgewalt jedoch vorerst an ihre Grenzen stößt und ein strategisches Bündnis zwischen Rußland und China der denkbar schwerste Rückschlag für die NATO wäre, erfordert der Umgang mit Moskau sehr viel mehr Fingerspitzengefühl als noch vor zehn Jahren.

Barack Obama war in seinen Äußerungen darauf bedacht, die Eskalation zurückzuschrauben und Rußland wenn möglich in die eigenen Pläne wie etwa die Sanktionen gegen den Iran einzubinden. Nach Ende des Georgien-Konflikts wurde der NATO-Rußland-Rat wiederbelebt, und im April unterzeichneten Obama und Dmitri Medwedew in Prag ein neues START-Abkommen. Der Forderung von russischer Seite, endlich Nägel mit Köpfen zu machen und Rußland eine Mitgliedschaft in der NATO anzutragen, wird man jedoch nicht nachkommen. Als der russische Botschafter Dmitri Rogosin einen solchen Schritt in einem ZDF-Interview anregte, räumte er ein, daß die Wahrscheinlichkeit einer Mitgliedschaft gering sei, ein solches Angebot aber dennoch eine Geste des Vertrauens wäre. Da das transatlantische Bündnis Rußland jedoch nicht zum Partner haben, sondern auf lange Sicht nach wie vor unterwerfen will, beschränkt man sich auf die taktische Option einer Kooperation, die es noch zu präzisieren gilt: "Zusammenarbeit innerhalb des Bündnisses und zwischen der NATO und anderen Partnern, besonders Rußland, ist höchst wünschenswert."

Dazu heißt es im vorgelegten Bericht: "Obwohl das Bündnis weder eine militärische Bedrohung Rußlands ist noch Rußland als Bedrohung der NATO begreift, bestehen weiterhin Zweifel auf beiden Seiten über die Absichten und die Politik des jeweils anderen." Empfohlen wird eine wesentlich intensivere Zusammenarbeit zwischen der NATO und Rußland beispielsweise in Fragen der Abrüstung und Raketenabwehr oder Bekämpfung von Drogenhändlern und Piraten. Da vor allem die baltischen und osteuropäischen Staaten angesichts ihre Nähe zu Rußland konkrete Zeichen der Verteidigungsbereitschaft fordern, sollen sie mit Übungen, einsatzfähigen Truppen, Notfallplanungen und Versorgungsplänen beruhigt werden, womit die NATO ihre Präsenz an der russischen Grenze weiter verstärkt. [2]

Die Doppelzüngigkeit im Umgang mit Rußland zeigt das Beharren auf einer Raketenabwehr an dessen unmittelbarer Peripherie: "Der Schutz vor einem möglichen Raketenangriff des Irans ist der Ausgangspunkt für etwas, was für die NATO zu einer unerläßlichen militärischen Aufgabe geworden ist." Die Raketenabwehr stehe in Europa "voll im Zusammenhang mit der NATO". Dem deutschen Wunsch nach einem Abzug der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen soll nicht entsprochen werden. Dazu heißt es in dem Papier, solange es Atomwaffen gebe, brauche die NATO verläßliche Nuklearwaffen "mit einer breit angelegten Verantwortung für Stationierung und operationelle Unterstützung". Daher sollte "jede Veränderung der geografischen Veränderung der nuklearen Stationierungen der NATO in Europa" ebenso wie andere wesentliche Entscheidungen nur vom gesamten Bündnis beschlossen werden.

Die neue Strategie des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses für das 21. Jahrhundert treibt die Entgrenzung seiner Zugriffsansprüche voran: "Es gibt eine Notwendigkeit, die NATO-Streitkräfte aus einer machtvollen, aber statischen Aufstellung des kalten Krieges hin zu einer flexibleren, mobileren und wendigeren zu verändern. (...) Die NATO muß beweglich und effizient genug sein, um weit entfernt agieren zu können." Um den politischen Willen für Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets zu stärken, müsse die NATO darauf achten, daß alle Mitgliedstaaten sich des Schutzes ihres eigenen Territoriums gewiß sein könnten. [3] Wenn die zwölfköpfige Expertengruppe erklärt, daß die NATO "keineswegs die einzige Antwort auf alle Probleme der internationalen Sicherheit" sei, kann von selbstauferlegter Beschränkung keine Rede sein. Der Strategieentwurf zielt darauf ab, die eigene Überstreckung zur vermeiden und auf dem Weg zum Jahr 2020 internationale Partnerschaften einzuspannen. Die NATO könne bei einem "vernetzten" Ansatz von militärischen und zivilen Maßnahmen als "wesentlicher Organisator von gemeinsamen Anstrengungen" fungieren. Das läuft in der Konsequenz auf das Regime eines übermächtigen Kriegsherrn hinaus, der eigenhändig oder kraft seiner Vasallen die ganze Welt zu seinem Jagdrevier erklärt.

Anmerkungen:

[1] Die NATO sucht ihre neue Strategie. Kann eine Cyberattacke zum Bündnisfall werden? (17.05.10)
http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/1/0,3672,8072289,00.html

[2] NATO-Experten überarbeiten Strategie (17.05.10)
http://www.zeit.de/newsticker/2010/5/17/iptc-bdt-20100517-194-24865278xml?

[3] Einsätze der NATO auch außerhalb des Bündnisgebiets (17.05.10)
http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/nato-einsaetze-der-nato-auch-ausserhalb-des-buendnisgebiets_aid_508967.html

17. Mai 2010