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MILITÄR/828: Besatzungsmächte feilen an ihrer Afghanistanstrategie (SB)


NATO-Gipfel soll mehrere wichtige Weichen stellen


Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten haben Afghanistan angegriffen und ein Okkupationsregime errichtet, um sich dort dauerhaft festzusetzen. Soweit von Abzug die Rede ist, dessen avisierter Zeitpunkt ein ums andere Mal in die Zukunft verschoben wird, betrifft dies das Gros der Kampftruppen, die für andere Kriegsschauplätze freigesetzt werden sollen. Unabhängig davon errichtet man massive Stützpunkte für die Stationierung von Kontingenten der Streitkräfte und Geheimdienste, die den Ertrag der Feldzüge von heute als Voraussetzung der Kriege von morgen konsolidieren.

Da die Dauerpräsenz der westlichen Mächte weder den Afghanen, noch der Bevölkerung in den kriegführenden Ländern schmackhaft gemacht werden kann und massiven Widerstand auf den Plan zu rufen drohte, führt man unablässig den Rückzug im Munde, auch wenn dessen vorgesehene Teile selbst nach neun Kriegsjahren am Hindukusch immer wieder vertagt werden müssen. Bislang wurden nicht weniger, sondern immer mehr Truppen nach Afghanistan entsandt und die Verbündeten stärker in die Pflicht genommen. Die Doktrin, man könne nur dann an Abzug denken, wenn man zuvor mit geballter Faust zugeschlagen habe, hat sich freilich bereits im Irak ad absurdum geführt, sofern man für bare Münze nimmt, daß Frieden, Sicherheit und Wohlstand geschaffen werden sollen.

Hochrangige US-Militärs erwähnen kaum noch den ominösen Juli 2011 als Zeitpunkt, an dem Präsident Barack Obama zufolge der Truppenrückzug beginnen soll. Statt dessen spricht man lieber von 2014 und bedient sich dabei der Frist, die sich Hamid Karsai als Statthalter in Kabul gesetzt hat, um die Sicherheit in Afghanistan vollständig mit einheimischen Kräften zu gewährleisten. Zwar ist diese Terminierung nicht minder fiktiv, doch liegt sie weiter in der Zukunft und entlastet somit vom Druck, binnen kurzem eine weitere Propagandaformel zum Abzug kreieren zu müssen. Daß es dabei zum Zwist mit dem afghanischen Präsidenten kommt, ist unvermeidlich, was nicht so sehr an den beiderseitigen Lügen, Tücken und Verdrehungen liegt, als vielmehr der Doppelstrategie von Teilabzug und Dauerpräsenz geschuldet ist.

Als Karsai kürzlich die Forderung erhob, die Besatzungstruppen sollten ihre Eingriffe in das Alltagsleben seiner Landsleute zurückfahren und insbesondere auf die gefürchteten und verhaßten nächtlichen Überfälle der klandestinen Spezialkommandos verzichten, reagierte General David Petraeus "erstaunt und enttäuscht". Indessen weiß man nur zu gut, daß Karsai vor allem für das afghanische Publikum gesprochen hat und seinen Part der Scharade mit beträchtlichem Erfolg in Szene setzt. Agierte er allzu offensichtlich als bloße Marionette des Besatzungsregimes, wäre sein Schicksal längst besiegelt. [1]

Verteidigungsminister Robert Gates hat längst die Bedeutung des Juli 2011 mit den Worten relativiert, daß US-Truppen natürlich auch über den nächsten Sommer hinaus in Afghanistan weiterkämpfen müßten. Falls die Taliban glaubten, sie müßten nur abwarten, bis die Amerikaner abgezogen sind, hätten sie sich getäuscht. Sie würden ihr blaues Wunder erleben, wenn die US-Streitkräfte auch im Herbst präsent seien, um Jagd auf sie zu machen. Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon gehe es unter anderem darum, den von Karsai genannten Zeitpunkt des vollständigen Transfers der Sicherheitsaufgaben zu bestätigen.

Unterdessen denken die US-Militärs nicht im Traum daran, auf die nächtlichen Überfälle zu verzichten. Wie der Chefkoordinator des Pentagons für die Kriegsführung in Afghanistan und Pakistan, Brigadegeneral John Nicholson, auf einem Symposium der Streitkräfte im Oktober unterstrich, setze man die Einsätze der Sonderkommandos mit beispielloser Intensität und außerordentlichem Erfolg fort. Alle 24 Stunden töte oder verhafte man zwischen drei und fünf feindliche Anführer der mittlere Ebene sowie 24 Kämpfer. Dank dieser Rate schwäche man die Führungsstrukturen des Gegners und dessen Kontrolle des Landes. Von den ermordeten, verschleppten, mißhandelten und bedrohten Zivilisten sprach Nicholson natürlich nicht.

Auf dem NATO-Gipfel stehen weitere wichtige Weichenstellungen auf der Agenda, die den Afghanistankrieg unmittelbar betreffen. So will man mit Rußland die Vereinbarung treffen, daß künftig nicht nur Truppen, Treibstoff und technisches Gerät, sondern auch militärische Güter über russisches Gebiet transportiert werden dürfen. Geplant ist zudem eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Anbaus und Schmuggels von Drogen, da die Abhängigkeit von diesen Importen aus Afghanistan in Rußland epidemische Ausmaße angenommen hat. Seit dem Einmarsch der NATO im Jahr 2001 habe sich die Mohnanbaufläche um ein Mehrfaches vergrößert, macht die russische Drogenbehörde den westlichen Mächten harsche Vorwürfe. [2]

Grundsätzlich sieht die neue Strategie der NATO vor, Moskau stärker einzubinden und auf diese Weise aus einem künftigen Gegner in einen kontrollierbaren Vasallen zu verwandeln. Umgekehrt hat Präsident Dmitri Medwedjew den Entwurf eines Europäischen Sicherheitsvertrags vorgelegt, der aus Sicht der USA und osteuropäischer NATO-Staaten die Allianz schwächen würde. Daß im Zuge der Verhandlungen Moskau der NATO in Afghanistan weitergehende Hilfe gewährt, ist aus politischen und ökonomischen Gründen nicht auszuschließen. Da das westliche Militärbündnis auch in Afghanistan bis an die Grenze Rußlands vorgedrungen ist, bleibt Moskau keine andere Wahl, als sich auch dort im Umgang mit der NATO zu positionieren. An warnenden Stimmen im eigenen Land, daß die Zusammenarbeit mit der NATO Rußland noch nie genutzt habe, fehlt es in diesem Zusammenhang nicht.

Was den Zeitplan der Besatzer in Afghanistan betrifft, hat jüngst der frühere britische Botschafter in Kabul, Sir Sherard Cowper-Coles, aus seiner Perspektive Klartext gesprochen. Wie er am 9. November vor dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten erklärte, müßten ausländische Kräfte und Organisationen noch ein halbes Jahrhundert am Hindukusch präsent bleiben, um dem Land im gewünschten Sinn auf die Beine zu helfen. Ziehe man die britischen Hals über Kopf ab, würden unweigerlich Chaos und Bürgerkrieg die Folge sein. [3]

Cowper-Coles, der mehr als 30 Jahre lang als Diplomat im Dienst des britischen Imperialismus stand, weiß, wovon er spricht, auch wenn seine unverblümt ausposaunte Zeitperspektive vielen als kontraproduktiv erscheinen dürfte, die insgeheim die Einschätzung teilen, daß man so lange in Afghanistan bleiben solle. Er war von 2001 bis 2003 während der Intifada Botschafter in Israel und bis 2006 britischer Chefdiplomat in Saudi-Arabien. Zwischen Mai 2007 und April 2009 residierte er in Kabul, wobei er bereits seit Februar 2009 das Amt des Sondergesandten für Afghanistan und Pakistan im britischen Außenministerium bekleidete.

Im Oktober 2008 wurden in der französischen Presse Auszüge aus einer vertraulichen Unterredung zwischen Cowper-Coles und dem stellvertretenden Botschafter Frankreichs in Afghanistan, Francois Fitou, veröffentlicht, bei der der Brite die Einschätzung äußerte, das korrupte Regime Karsais bräche ohne ausländische Unterstützung augenblicklich zusammen. Wolle man die verheerende Sicherheitslage nicht noch schlimmer machen, solle man Karsai durch einen "akzeptablen Diktator" ersetzen. Dies sei die einzig realistische Perspektive, auf die man die Öffentlichkeit in Europa und den USA vorbereiten müsse.

Groß war der Ärger in Washington und die Peinlichkeit in London, und als Cowper-Coles Anfang dieses Jahres die Strategie der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan für verfehlt erklärte und sich für Verhandlungen mit den Taliban aussprach, war das Maß seiner unerwünschten Offenheit voll. Man entband ihn von seiner Aufgabe, was ihn freilich nicht daran hinderte, in Interviews mit britischen Medien seiner Besorgnis Ausdruck zu verleihen und gegenüber der BBC Vergleiche zur militärischen Niederlage der US-Streitkräfte im Vietnamkrieg zu ziehen. Diese Einschätzung aus dem Munde eines ehemaligen diplomatischen Hardliners könnte daran erinnern, daß das strategische Kalkül der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan keineswegs die einzig relevante Größe im Zuge des unablässigen Feldzugs bleiben muß.

Anmerkungen:

[1] Afghanistan: Is 2014 the new 2011 for Pentagon war planners? (16.11.10)
The Christian Science Monitor

[2] NATO erwartet von Russland Kooperation in Afghanistan. Emsige Verhandlungen vor dem Gipfel in Lissabon (18.11.10)
Neues Deutschland

[3] Former British ambassador forecasts 50-year foreign role in Afghanistan (18.11.10)
World Socialist Web Site

18. November 2010