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MILITÄR/834: Wikileaks zum Wettrüsten der USA und Chinas im All (SB)


Wikileaks zum Wettrüsten der USA und Chinas im All

Transpazifische Rivalität im Bereich der militärischen High-Tech


Zwischen der Supermacht USA und dem aufstrebenden China herrscht ein gespanntes Verhältnis. Der dramatische Vormarsch der Volksrepublik auf dem wirtschaftlichen Gebiet hat bei den Amerikanern Ängste ausgelöst, die Chinesen könnten ihnen ihre langjährige Dominanz in der internationalen Sicherheitspolitik streitig machen. Daß Washington nicht bereit ist, Peking gegenüber irgendwelche Einschränkungen der Weltpolizistenrolle des US-Militärs zu akzeptieren, hat die Administration Barack Obamas in letzter Zeit erkennen lassen: erstens im vergangenen Juli, als Außenministerin Hillary Clinton auf einer ASEAN-Konferenz den "freien Schiffsverkehr ... im Südchinesischen Meer" zu einem "nationalen Interesse" der USA erklärte; und zweitens, als ungeachtet der Proteste Chinas die US-Marine Mitte Januar zusammen mit den Südkoreanern im Gelben Meer, und damit nur rund 150 Kilometer von der chinesischen Hauptstadt entfernt, ein großangelegtes Manöver abhielt. Man braucht sich nur vorzustellen, wie die Amerikaner im umgekehrten Fall reagieren würden, erklärte die Volksrepublik den freien Schiffsverkehr im Golf vom Mexiko zu einem Nationalinteresse Chinas oder stellte die Volksmarine vor der Chesapeake Bay mit einem Kriegsspiel ihre neuesten Waffensysteme zur Schau.

Recht deutlich trat die militärische Rivalität zwischen China und den USA hervor, als am 11. Januar, noch während des dreitägigen Besuchs des amerikanischen Verteidigungsministers Robert Gates in Peking und wenige Stunden vor dessen Treffen mit Präsident Hu Jintao, die Volksluftwaffe den erfolgreichen Jungfernflug ihres erstens Tarnkappen-Kampjets J-20 öffentlich bekanntgab. Vor der internationalen Presse in der chinesischen Hauptstadt zeigte sich der ehemalige CIA-Chef nach dem Treffen mit Hu über den Überraschungscoup seiner Gastgeber sichtlich gereizt. Die Verärgerung des Veteranen des Iran-Contra-Skandals hatte mehrere Gründe. Erstens hatten die Chinesen Gates dem Spott ausgesetzt, weil er 2009 persönlich erklärte hatte, die Volksrepublik würde nicht vor 2020 über ein Flugzeug, das dem F-22-Raptor der US-Luftwaffe Konkurrenz machen könnte, verfügen. Zweitens gehen die meisten Experten davon aus, daß Chinas "großer Sprung nach vorne" in der modernen Militäraeronautik auf Erkenntnisse zurückgeht, die seine Ingenieure bei der Inspektion der aus Jugoslawien herausgeschmuggelten Wrackteile eines 1999 beim Kosovo-Krieg der NATO abgeschossenen F-117-Nighthawk der US-Luftwaffe gewonnen haben.

Hinzu kommt, daß den Chinesen auch mit der Wahl des Datums des ersten Testflugs des J-20 eine gezielte Provokation an die Adresse des Pentagons gelungen war. Denn am 11. Januar 2007 hatten die Chinesen das bislang klarste Signal, sich von den Amerikanern nichts vorschreiben lassen zu wollen, gesetzt, indem sie unangekündigt einen alten, eigenen Wettersatelliten mit einer Interkontinentalrakete zerstörten. Die Vernichtung des in rund 700 Kilometer Höhe um die Erde kreisenden Objekts war eine Kampfansage an diejenigen Kräfte in den USA, die den Standpunkt vertreten, Amerikas Militär müsse die Kontrolle über den erdnahen Weltraum behalten und dürfe sie mit niemanden teilen. Der Vorgang löste im militärisch-industriellen Komplex der USA einen regelrechten Schock aus, den zu überwinden, Gates ein Jahr später, am 20. Januar 2008, einen defekten amerikanischen Spionagesatelliten ebenfalls per Rakete in kleine Teile zerschießen ließ.

Über diese beiden Ereignisse und die diplomatische Hektik, welche hinter den Kulissen nach dem Abschuß des chinesischen Satelliten tobte, berichtete am 4. Februar die in Londoner erscheinende Zeitung Daily Telegraph, Hauspostille der britischen Generalität, unter Verweis auf US-Regierungsdokumente, die das Enthüllungsportal Wikileaks freigegeben hat. Damals hatten die Amerikaner behauptet, der 30 Millionen Dollar teure Abschuß des Satelliten USA 193 durch eine SM-3-Rakete des vor Hawaii postierten Lenkwaffenzerstörers Lake Erie sei notwendig, um eine Umweltkatastrophe zu verhindern. Diese Erklärung war von Raketenexperten wie Theodore Postol in Zweifel gezogen worden, die meinten, den giftigen Treibstoff des Satelliten, Hydrazin, würde ohnehin beim Wiedereintritt in die Atmosphäre verglühen und niemals zur Erde gelangen. Die Wikileaks-Dokumente lassen erkennen, daß mitnichten der Schutz der Umwelt vor toxischem Treibstoff, sondern allein die Demonstration militärischer Macht der USA an die Adresse Chinas Sinn und Zweck des Abschusses war. Begleitet wurde die Vernichtung des USA 193 von einer geheimen Mitteilung der damaligen Außenministerin Condoleezza Rice an die Machthaber in Peking. Darin stand, daß die Regierung in Washington jede "gezielte Störung" amerikanischer Satellitensysteme, sei es staatliche oder kommerzielle, als Verletzung der Rechte der USA betrachte und sich entsprechende Gegenmaßnahmen, seien sie diplomatischer oder militärischer Natur, vorbehalte.

Die Empfindlichkeit der Amerikaner auf diesem Gebiet rührt daher, daß ihnen die meisten Satelliten im All gehören. Viele davon werden von Privatunternehmen im Bereich Telekommunikation und Medien benutzt, doch ein Großteil dient dem US-Militär zum Zwecke der Aufklärung und der Kriegsführung. Ohne Unterstützung aus dem All wären im Irak und in Afghanistan nicht nur die US-Kampftruppen am Boden, sondern wäre auch die US-Luftwaffe praktisch blind. Es könnten keine Drohnenangriffen der CIA auf Talibanziele im pakistanischen Grenzgebiet von Militäranlagen in Nevada aus mehr durchgeführt werden. Und auch das von den USA forcierte Raketenabwehrsystem, zu dem Schiffe wie die USS Lake Erie und die seegestützte SM-3-Raketen der US-Marine gehören, wäre ohne die per Satellit erfolgte Datenübermittlung unmöglich. Aus der jüngsten Depesche von Wikileaks zu diesem Themakomplex, einer Mitteilung von Rices Nachfolgerin Clinton von Januar 2010, geht hervor, daß die Chinesen offenbar an einer eigenen Raketenabwehr arbeiten und daß die Volksarmee kurz zuvor in rund 250 Kilometer Höhe eine eigene CSS-X-11-Rakete mit einer SC19-Rakete abgeschossen hatte. Vor diesem Hintergrund bekommt die von Robert Gates am 9. Januar, unmittelbar vor seinem Abflug nach Peking, ausgesprochene Warnung, "die Mülleimer der Geschichte" seien "mit Ländern gefüllt, welche die Unverwüstlichkeit der Vereinigten Staaten unterschätzt" hätten, eine gewisse Dringlichkeit.

7. Februar 2011