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MILITÄR/847: US-Feldwebel Calvin Gibbs - Kein Soldat wie jeder andere? (SB)


Als schwarzes Schaf von einem Militärgericht abgeurteilt


Der Angriffskrieg gegen Afghanistan und das nun schon zehn Jahre währende Besatzungsregime gehen wie jede derartige neoimperialistische Offensive mit zahllosen Grausamkeiten einher. Den geostrategischen Übergriff zu rechtfertigen erfordert ein hohes Maß an Denkkontrolle, da Zweifel an der Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit dieses Feldzugs systematisch kleingehalten und ausgemerzt werden müssen. Lassen sich einzelne Greueltaten dennoch nicht vertuschen, macht man aus der Not eine Tugend und kontrastiert sie mit einer postulierten Legitimität regulärer Kriegsführung, die auf diese Weise unterfüttert wird.

In Tateinheit mit der politischen und militärischen Regie der Kriegsführung überzeichnen die Mainstreammedien justitiabel vorgeführte Täter wie den 26 Jahre alten US-amerikanischen Feldwebel Calvin Gibbs als pathologische Monstrosität, habe er doch unbewaffnete Zivilisten "aus purer Mordlust" umgebracht. [1] Man weist ihn als Anführer eines "Kill Teams" aus und bezeichnet ihn als "Mörder in Uniform", ohne im naheliegenden Übertrag der Frage nachzugehen, ob nicht Tausende andere Besatzungssoldaten im Prinzip genauso handeln.

Gibbs stand als Rädelsführer einer fünfköpfigen Gruppe vor Gericht, die laut Anklage zwischen Januar und Mai 2010 in der südlichen afghanischen Provinz Kandahar drei unbewaffnete Zivilisten auf besonders brutale Weise mit Gewehren und Granaten umgebracht haben soll. [2] Die Soldaten posierten auf Fotos neben den Leichen und behielten Finger und Zähne ihrer Opfer als Trophäen, um sie, wie Gibbs im Prozeßverlauf einräumte, befreundeten Soldaten zu schenken oder mißliebige Kameraden damit einzuschüchtern. Der Hauptangeklagte beteuerte zwar, lediglich einen der drei Afghanen getötet und dabei in Notwehr gehandelt zu haben, doch widersprach der Militärstaatsanwalt dieser Darstellung: Demnach soll Gibbs Waffen bei den getöteten Afghanen abgelegt haben, um einen Angriff vorzutäuschen.

Neben Calvin Gibbs waren vier weitere US-Soldaten angeklagt, von denen sich drei im Gegenzug für Strafmilderungen schuldig bekannten und zu Haftstrafen verurteilt wurden. Zwei von ihnen sagten gegen ihn aus. Gibbs ist bislang der einzige der Gruppe, der sich einem Militärprozeß stellte. Er wurde nun vor einem Militärgericht auf dem Stützpunkt Lews-McChord nahe Seattle im US-Bundesstaat Washington nach nur vierstündigen Beratungen der Jury in allen 15 Anklagepunkten für schuldig befunden, darunter des vorsätzlichen Mordes in drei Fällen. Dem 26jährigen droht demnach lebenslange Haft mit der Möglichkeit einer Entlassung im Falle guter Führung nach zehn Jahren, so daß er relativ glimpflich davonkommen dürfte. Das Verfahren gegen den fünften mutmaßlichen Mittäter steht noch aus. [3]

Wären die Aufnahmen der bei den getöteten Afghanen posierenden Soldaten nicht an die Öffentlichkeit gelangt, hätte kein Hahn nach den Opfern und Tätern gekräht. Durch seine Publizität schadete der Fall jedoch dem Ansehen der US-Armee ähnlich wie die 2004 aufgedeckten Mißhandlungen von Gefangenen im Gefängnis Abu Ghraib während des Irakkriegs. Die Konzentration auf Gibbs als Haupttäter und die zügige Prozeßführung sind zweifellos dem Bestreben geschuldet, ihn in aller Deutlichkeit zu sanktionieren und zugleich zum verwerflichen Ausnahmefall zu erklären. Der Angeklagte habe seine Einheit und letztlich die USA verraten, argumentierte der Militärstaatsanwalt. In seiner Schlußbemerkungen vor der Urteilsverkündung sprach er Gibbs mit den Worten an, mit denen der Feldwebel seine afghanischen Opfer bezeichnet haben soll. "Hier ist der Wilde", sagte LeBlanc und zeigte auf Gibbs. "Staff Sergeant Gibbs ist der Wilde."

Indem Calvin Gibbs als "Wilder" klassifiziert und ausgegrenzt wird, hält man demgegenüber eine fiktive zivilisierte Kriegsführung hoch, die mit schwarzen Schafen wie ihm nichts gemein habe. Dabei haben er und seinesgleichen nur umgesetzt, was man ihnen über das Feindbild Islam gepredigt und wozu man sie nach Afghanistan geschickt hat. Wie in jedem Guerillakrieg existiert keine greifbare Grenze zwischen dem kämpfenden Widerstand und der Zivilbevölkerung, so daß der Besatzungssoldat letzten Endes in jedem Afghanen den "Taliban" sieht. Die militärische Führung macht es vor, wie man bei der Jagd auf bestimmte Zielpersonen bedenkenlos Dutzende Unbeteiligte mit Bomben und Raketen abschlachtet, bis die stets vorgehaltene Behauptung, man habe konkrete Akteure des Gegners im Visier gehabt, zur Standardformel der Kriegspropaganda gerinnt. Wo zivile Opfer routinemäßig zu Aufständischen umdeklariert werden, kann man einem Soldaten wie Gibbs vieles vorwerfen, doch sicher nicht, daß er mit seiner Auffassung von angemessener Kriegsführung aus der Reihe getanzt sei.

Neben den Luftangriffen der Besatzungsmächte, die wie das auf deutschen Befehl verübte Massaker bei Kundus viel Staub aufgewirbelt haben, fordern die der afghanischen Bevölkerung besonders verhaßten nächtlichen Überfälle der US-Sonderkommandos unablässig ihren Blutzoll. Wie aus der Beantwortung einer Frage des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele von den Grünen an die Bundesregierung hervorgeht, wurden dabei mit 1410 verdeckten Operationen allein zwischen dem 28. Januar und 29. April 2011 im Bereich des unter deutscher Führung stehenden Regionalkommandos Nord 485 Verdächtige getötet und 2169 Personen gefangengenommen. 479 Operationen hätten dem Ziel "capture or kill" gedient. Da den Pressemitteilungen der internationalen Besatzungstruppe ISAF zu entnehmen ist, daß laut einer Studie im Durchschnitt nur zehn Prozent dieser Operationen im Bereich des Regionalkommandos Nord stattfinden, muß man von einer immens hohen Opferzahl für ganz Afghanistan ausgehen. Die Autoren kamen in ihrer Mitte Oktober vorgelegten Untersuchung zu dem Schluß, daß in den letzten beiden Jahren im Schnitt jeden Tag 2,38 Personen bei derartigen Operationen getötet wurden. [4]

Fügt man Berichte wie jenen der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) hinzu, in dem von erdrückenden Beweisen die Rede ist, daß die afghanischen Sicherheitsbehörden Gefangene systematisch foltern, schrumpfen Calvin Gibbs und Konsorten fast schon zum Regelfall der Kriegsführung eines langjährigen Besatzungsregimes und seiner einheimischen Kollaborateure zusammen. Der Bericht der UNAMA beruht auf Befragungen von 379 Häftlingen in 47 verschiedenen Gefängnissen und kommt zu dem Schluß, daß Geheimdienst und Sicherheitskräfte in mindestens sieben Haftzentren Foltermethoden anwenden, wobei unter den Opfern auch Kinder seien.

In welchem Ausmaß die NATO-Truppe ISAF an den Vorfällen beteiligt war, geht aus dem Bericht nicht hervor. In einem im September veröffentlichten ersten Bericht der UNAMA war bereits von alltäglicher und systematischer Folter in Gefängnissen der Polizei und des Geheimdienstes die Rede. Daraufhin hatte die Militärallianz angekündigt, sie werde vorerst keine Gefangenen mehr an bestimmte afghanische Haftanstalten überstellen. Zweifellos wirft eine derart verbreitete Anwendung von Folter in einem von den USA unterstützten und mitfinanzierten Gefängnissystem ernste Fragen über eine mögliche Komplizenschaft amerikanischer Behörden auf, wie es die New York Times in einem Beitrag ausdrückte. Des weiteren müsse untersucht werden, inwieweit die NATO von Informationen profitiert hat, die mittels Folter erlangt wurden. [5]

Überraschung vorzutäuschen, Empörung zu simulieren und unter Krokodilstränen gründliche Untersuchungen samt Bestrafung der Verantwortlichen anzumahnen, gehört zum Handwerkszeug moderner Kriegsführung und deren medialer Abspiegelung in der Ära der Menschenrechtskriege. Die seit Jahrzehnten eingebleute Doktrin, man führe Kriege nur noch in allerbester Absicht, nämlich zur Verteidigung der Menschenrechte, Durchsetzung der Demokratie und Beförderung des Fortschritts in kulturell rückständigen Regionen, kappt die Erinnerung an die kolonialen und imperialistischen Grausamkeiten. Sie treibt die Legalisierung westlicher Intervention voran und wirft einen Schleier der Amnesie über die Realität aktueller Waffengänge, der ernüchternde Rückschlüsse auf die eigentlichen Konsequenzen des Informationszeitalters nahelegt.

Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/graeuel-in-afghanistan-us-feldwebel-wegen-mordes-schuldig-gesprochen-1.1186418

[2] http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-11/soldat-mord-afghanistan

[3] http://www.welt.de/politik/ausland/article13710714/US-Soldat-wegen-Zivilistenmordes-schuldig-gesprochen.html

[4] http://www.jungewelt.de/2011/11-10/063.php

[5] http://www.jungewelt.de/2011/10-12/026.php

11. November 2011