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MILITÄR/897: London tötet die ersten britischen Bürger per Drohne (SB)


London tötet die ersten britischen Bürger per Drohne

Antiterrorkrieger verabschieden sich vom Rechtsstaat


Am ersten Arbeitstag nach der parlamentarischen Sommerpause überraschte der konservative britische Premierminister David Cameron die Abgeordneten in Londoner Unterhaus am 7. September mit einer spektakulären Bekanntmachung. Demnach haben die königlichen Streitkräfte von Elizabeth II am 21. August mit einem per Drohne durchgeführten Raketenangriff in Syrien zwei britische Bürger getötet (Drei Tage später wurde ein dritter Brite in Syrien bei einer gemeinsamen amerikanisch-britischen Operation ebenfalls liquidiert). Die Bekanntgabe des ersten tödlichen Einsatzes britischer Kampfdrohnen hat in Großbritannien eine heftige öffentliche Debatte ausgelöst. Während das mächtige Militär-Establishment den Anschluß an die gängige Praxis des Verbündeten USA begrüßte und die rechte Boulevardpresse die Maßnahme als Schlag gegen "Terroristen" vom Islamischen Staat (IS) regelrecht feierte, äußerten sich Bürgerrechtler sowie linke Politiker und Publizisten besorgt über die Aktion. Zu Recht, denn hier hat Großbritannien wie zuvor die USA den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen. London hat sich den Standpunkt der neokonservativen Ideologen Amerikas zu eigen gemacht, demzufolge der "Terrorist" kein Mensch mehr sei und folglich kein Recht auf Leben genieße.

Zur Begründung des Angriffs behauptete Cameron, von den drei Getöteten, dem 21jährigen Reyaad Khan, dem 26jährige Ruhul Amin und dem 21jährigen Junaid Hussain, allesamt Einwanderkinder asiatischer Herkunft, die vor einiger Zeit dem IS-Kalifat in Syrien und dem Irak die Treue geschworen haben, sei eine "klare und unmittelbare Gefahr" - der Begriff ist klassisches Neocon-Sprech - für die nationale Sicherheit Großbritanniens ausgegangen. Khan und Amin starben, als ihr Auto in der Nähe von der IS-Hochburg Raqqa im Osten Syriens von einer Rakete getroffen wurde, die Sekunden zuvor von einer Kampfdrohne des Typs Reaper der britischen Luftwaffe abgefeuert worden war. Ein dritter IS-Kämpfer, der sich ebenfalls im Auto befand, jedoch nicht aus Großbritannien stammte, soll dabei ebenfalls ums Leben gekommen sein.

Angeblich "planten" Khan und Hussein Anschläge in Großbritannien und zwar auf der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges am 10. Mai im Londoner Westminster Abbey, an der die Königin teilnahm, sowie auf eine Zeremonie am 27. Juni in Woolwich im Südwesten Londons, bei der man dem 25jährigen Füsilier Lee Rigby gedachte, der vor zwei Jahren auf offener Straße von zwei britischen Moslems, dem 22jährigen Michael Adebowale und dem 28.jährigen Michael Adebolajo, als Vergeltung für die westliche Interventionspolitik in den Ländern der islamischen Welt mit Hackmessern brutalst ermordet wurde. Zu diesem Zweck soll Khan per Internet zu Gewährsmännern in Großbritannien in Kontakt mit gestanden haben, die er entsprechend "instruiert" hätte.

Ob die Angaben des britischen Geheimdienstes stimmen, die den Nationalen Sicherheitsrat unter der Leitung Camerons dazu veranlaßt haben sollen, Khan und Hussein per Drohne außergerichtlich hinrichten zu lassen, weiß niemand außer den Verantwortlichen selbst. Was man auf jeden Fall sagen kann ist, daß es absolut nichts Geeigneteres geben kann, um in der breiten britischen Bevölkerung einen antimuslimischen Reflex und ein Verständnis für autoritären Rechtsbruch auszulösen, als die Suggestion einer direkten Gefährdung der populären Monarchin bzw. die Erinnerung an die schockierende Ermordung Lee Rigbys.

Zweifel an der Richtigkeit der Informationen Camerons sind angebracht. Bereits im Juli und damit einen Monat vor dem besagten Raketenangriff bei Raqqa haben mehrere britische Medien den Tod Khans bei Kämpfen in Syrien gemeldet. Gegen die Behauptung des Premierministers, es habe keine andere Möglichkeit gegeben, um die von Khan und Hussein ausgehende Gefahr für Großbritannien abzuwenden, sprechen Berichte diverser Medien über die Anwesenheit britischer Spezialstreitkräfte vom berüchtigten Special Air Service (SAS) im syrisch-irakischen Kriegsgebiet. Am 2. August meldete zum Beispiel die Londoner Zeitung Sunday Express, daß bereits 120 SAS-Soldaten in Syrien unter US-Befehl an der gemeinsamen Operation Shader zwecks gezielter Angriffe auf Führungspersönlichkeiten, Stellungen und Munitionsdepots von IS teilnehmen. Am 31. August meldete MailOnline, ein achtköpfiges SAS-Team habe im Irak Fadhil Ahmad Al Hayali, die angebliche Nummer 2 in der IS-Hierarchie hinter dem selbsternannten Kalifen Abu Bakr Al Baghdadi, aufgespürt, über Tage verfolgt und schließlich mit einem Luftangriff auf sein Autokonvoi umbringen lassen.

Was das Argument Camerons betrifft, es habe sich bei dem tödlichen Drohnenangriff der Royal Air Force (RAF) um einen Akt der Landesverteidigung gehandelt, der durch Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen gedeckt sei, so sind führende Bürgerrechtler in Großbritannien nicht davon überzeugt. In der Tageszeitung Guardian äußerte sich am 8. September Kronanwalt Philippe Sands QC, Professor für internationales Recht am University College London, der 2006 in seinem Buch "Lawless World" George W. Bush und Tony Blair wegen des Einmarsches in den Irak drei Jahre zuvor des Kriegsverbrechens bezichtigte, zur Frage der Gesetzmäßigkeit des Vorgehens wie folgt:

Wer weiß das schon? Der Premierminister hat uns keine ausreichende informationsgrundlage geliefert, um darüber zu befinden, ob das, was er autorisiert hat, legal war oder nicht. Nach dem Recht auf Selbstverteidigung muß der bewaffnete Angriff unmittelbar bevorstehen und konkrete Form angenommen haben. Das Wort "geplant" deutet darauf hin, daß er nicht unmittelbar bevorstand; das Wort "instruieren" suggeriert dagegen, daß er es gewesen sein könnte. Es scheint, als übernehme das Vereinigte Königreich eine breitere und expansivere Sicht dessen, was das Recht auf Selbstverteidigung bedeutet - eine, die sich mit der Vorgehensweise der USA in ihrem "globalen Antiterrorkrieg" deckt. Es sieht alles nach einem Bruch mit der etablierten Praxis Britanniens aus, was die Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung betrifft.

Die Tötung der drei britischen IS-Dschihadisten in Syrien erfolgt in einer Phase, in der die Anwendung der Drohnentechnologie zu Kriegszwecken ein unheimliches Wachstum erfährt. Nach Recherchen des Bureau of Investigative Journalism haben die CIA und das US-Militär seit 2002 in Afghanistan, im Irak, im Jemen, in Libyen, Pakistan und Somalia mindestens 620 Drohnenangriffe durchgeführt und dabei 5460 Menschen getötet, darunter mindestens 1106 Zivilisten. Am 30. September 2011 hat die Regierung Barack Obamas im Jemen mit der Liquidierung des radikalen Predigers Anwar al-Awlaki und Samir Khans, des Herausgebers der Al-Kaida-Onlinezeitung Inspire, erstmals Bürger der USA wegen "Terrorverdachts" liquidieren lassen. Zwei Wochen später hat eine Hellfire-Rakete der CIA im Jemen Abdulrahman, den sechzehnjährigen Sohn Al Awlakis, der ebenfalls US-Bürger war, jedoch keinerlei Verbindung zu Al Kaida hatte, und neun seiner Freunde umgebracht. Wie das Wall Street Journal am 17. August berichtete, plant das Pentagon bis 2019 eine Verdopplung des Einsatzes von Aufklärungs- und Kampfdrohnen im Ausland.

Erst Ende August eröffnete die Regierung in Paris, sie führe eine eigene "kill list" der zu beseitigenden Staatsfeinde Frankreichs. In Rußland und China läuft die Drohnenproduktion für das Militär auf Hochtouren. In Deutschland hat Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in der Frage der Ausrüstung der Bundeswehr mit Kampfdrohnen eine "Debatte" in Gang gesetzt, deren Ausgang längst feststeht. Immer wieder führt Israel in Syrien, Libanon sowie im palästinensischen Gazastreifen gezielte Drohnangriffe durch. Am 7. September meldete das pakistanische Militär den ersten tödlichen Einsatz einer Kampfdrohne aus heimischer Produktion; bei der Operation im Nordwasiristan an der Grenze zu Afghanistan sollen drei führende Mitglieder der pakistanischen Taliban getötet worden sein. Vor diesem Hintergrund hat der Vorstoß Londons weniger mit der Sorge um eine nebulöse "terroristische" Bedrohung als ganz konkret damit zu tun, daß Großbritannien im Bereich der Rüstungstechnologie und in der Frage der rechtlich-operativen Einsatzfähigkeit der Streitkräfte weiterhin seine Position im internationalen Führungsfeld behaupten will.

9. September 2015


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