Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


MILITÄR/904: US-Rüstungswahn erhöht die aktuelle Atomkriegsgefahr (SB)


US-Rüstungswahn erhöht die aktuelle Atomkriegsgefahr

Ex-US-Verteidigungsminister Perry warnt vor "nuklearem Inferno"


Durch die Stationierung von viertausend NATO-Soldaten in Polen, Litauen, Estland und Lettland und damit unmittelbar an der Grenze Rußlands und die Inbetriebnahme des amerikanischen Raketenabwehrsystems im Raum zwischen Baltikum und Schwarzem Meer hat der neue Kalte Krieg eine brandgefährliche Eskalationsstufe erreicht. US-Präsident Barack Obama, der 2009 für seine Vision einer atomwaffenfreien Welt den Friedensnobelpreis erhielt, verläßt im kommenden Januar das Weiße Haus, nicht ohne zuvor eine über 30 Jahre laufende Modernisierung des amerikanischen Nuklearwaffenarsenals auf den Weg gebracht zu haben, die rund eine Billion Dollar kosten wird. Vor wenigen Tagen hat Washington zudem mit Seoul die Stationierung von Teilen des Terminal High-Altitude Area Defense System (THAAD) in Südkorea vereinbart, das Nordkorea in die Schranken weisen, vor allem aber zur militärischen Eindämmung der Volksrepublik China beitragen soll.

Die Begründung für den Rüstungswahn der USA lieferte 2014 der damalige Pentagon-Chef Chuck Hagel bei einer Rede auf der alljährlichen Münchner Sicherheitskonferenz. Statt wie üblich die vermeintlich von den "Mullahs" in Teheran oder der Kim-Dynastie in Pjöngjang ausgehende Gefahr für Frieden und Stabilität in der Welt zu erwähnen, verwies der dekorierte Vietnamkriegsveteran und ehemalige republikanische Senator aus Nebraska ausdrücklich auf China und Rußland, die "ihre Militärs und ihre globalen Rüstungsindustrien rasch modernisieren" und dadurch "den technologischen Vorsprung" und die "Verteidigungspartnerschaften" der USA "rund um die Welt herausfordern" würden.

Daß die unbedingte Aufrechterhaltung eines "technologischen Vorsprungs" der US-Rüstungsindustrie unverantwortlich große Risiken birgt, geht aus den Äußerungen hervor, die Hagels Amtsvorgänger William Perry am 13. Juli bei einer Anhörung des verteidigungspolitischen Ausschusses des Senats in Washington machte. Perry, der Bill Clinton von 1993 bis 1997 als Verteidigungsminister diente, stellte fest:

Wir befinden uns an der Schwelle eines neuen Kalten Kriegs. Wir befinden uns an der Schwelle eines neuen nuklearen Wettrüstens und zusätzlich, aber nicht in Verbindung damit, gibt es die steigende Gefahr eines nuklearen Terrorismus und eines regionalen Atomkrieges. Aus all diesen Gründen bin ich der Auffassung, daß heute die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Katastrophe tatsächlich größer als während des Kalten Krieges ist.

Thema der Anhörung war der bereits länger bestehende Plan des Pentagons zum Bau und zur Inbetriebnahme der sogenannten Long-Range Standoff Cruise Missile (LRSO). Dieser jeweils eine Million Dollar teuere, von Boeing entwickelte Langstrecken-Marschflugkörper, der von Bombenflugzeugen abgesetzt werden soll, kann sowohl mit einem konventionellen als auch einem nuklearen Sprengkopf bestückt werden. Gerade deshalb lehnt Perry das Projekt ab. Seiner Einschätzung nach wird der LRSO "das Risiko eines Atomkrieges durch Zufall oder Fehlkalkulation" erhöhen, quasi "unvermeidlich" machen. Leider fanden die Cassandra-Rufe Perrys auf dem Kapitol kein Gehör. Kongreß und Weißes Haus befürworten beide das Projekt. Die Bewilligung und Umsetzung des LRSO-Projekts gelten als gesichert.

Auch das eingangs erwähnte ballistische Raketenabwehrsystem der USA trägt zur Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs in den kommenden Jahren bei. Obwohl von seinen Befürwortern anders ausgewiesen und betitelt, handelt es sich dabei um eine offensive Waffe. Mit Hilfe von Ballistic Missile Defense (BMD) wollen die Kriegsfalken in Washington die Zweitschlagskapazität Rußlands und Chinas ausschalten und beide Ländern der Drohung eines erfolgreichen Erstschlags der USA aussetzen. Das Vorhaben untergräbt damit die Doktrin der Mutually Assured Destruction (MAD), die jahrzehntelang die nuklearen Großmächte vor einem Atomkrieg abgeschreckt hat. Die Anhänger des Raketenabwehrsystems in den USA streben tatsächlich eine Situation an, in der sie Rußland oder China mit Nuklearwaffen bedrohen oder angreifen können, ohne befürchten zu müssen, daß ihr eigenes Land dabei ebenfalls vernichtet werden könnte.

Das größte Problem mit BMD ist neben der Tatsache, daß es erhebliche geopolitische Instabilität erzeugt, daß das System nicht funktioniert. Trotzdem werden die Abfangraketen in Silos in Alaska, Kalifornien und anderswo stationiert, die dafür erforderlichen X-Band-Radaranlagen unter anderem in Japan und der Tschechischen Republik in Betrieb genommen und die mit dem Aegis-Leitsystem ausgerüsteten Lenkwaffenzerstörer im Mittelmeer und im Pazifik positioniert.

In einem Bericht der Union of Concerned Scientists (UCS), aus dem am 14. Juli die Nachrichtenagentur Reuters zitierte, hat die angesehene US-Friedensorganisation ein vernichtendes Fazit zum Stand des BMD gezogen: "Nach fünfzehnjährigen Bemühungen, das bodengestützte Raketenabwehrsystem zu errichten, hat das System immer noch nicht eine echte Fähigkeit, die Vereinigten Staaten zu verteidigen, bewiesen." Trotz Investitionen von mehr als 40 Milliarden Dollar habe BMD bei Zweidrittel aller Tests nicht funktioniert; die wenigen erfolgreichen Tests seien das Ergebnis von Anordnungen gewesen, die mit der Wirklichkeit eines Ernstfalls rein gar nichts gemein hätten, so die Autoren des UCS-Berichts. "Statt etwas in Betrieb zu nehmen, das gut oder adäquat funktioniert, ist BMD ein Desaster gewesen. Es funktioniert überhaupt nicht", schrieben sie. Das mag in einem rein ingenieurstechnischen Sinne stimmen, läßt aber die Interessen der US-Rüstungslobby, die offenbar in der ganzen traurigen Charade am schwersten wiegen, außer acht. Für Amerikas Waffenhersteller "funktioniert" BMD seit Jahren bestens!

16. Juli 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang