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MILITÄR/929: Rüstung - USA starten durch ... (SB)


Rüstung - USA starten durch ...


Mit seiner Ankündigung am 20. Oktober am Rande einer Wahlkampfveranstaltung der Republikaner in Nevada, die USA treten vom Washingtoner Vertrag über Nukleare Mittelstreckenraketen, weitläufig nach dem englischen Titel Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty auch INF-Vertrag genannt, zurück, hat Präsident Donald Trump bei Rüstungskontrollbefürwortern und Kriegsgegnern in aller Welt sowie der politischen Klasse in Europa Entsetzen und Angst ausgelöst. Jenes 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnete Abkommen sollte die nukleare Aufrüstung in Europa mit Pershing II Missiles auf seiten der NATO und SS-4- bzw. SS-5-Raketen auf seiten der Streitkräfte des von der Sowjetunion angeführten Warschauer Pakts beenden und somit die Atomkriegsgefahr aus Europa verbannen. Mit der einseitigen Aufkündigung des INF-Vertrags durch die Amerikaner ist diese Gefahr wieder auferstanden.

Trump begründete seine umstrittene Entscheidung mit dem Argument, die Russen verstießen seit Jahren gegen den Vertrag, also gebe es keinen Grund, warum sich die USA daran halten sollten. Statt darüber zu jammern wie Vorgänger Barack Obama, werde er dem Kreml die Stirn bieten, so der stets von sich eingenommene New Yorker Baulöwe. Tatsächlich hat Obama Ende Juli 2014 in einem Brief an den russischen Amtskollegen Wladimir Putin Moskau bezichtigt, gegen den INF-Vertrag, der Erforschung, Besitz und Indienststellung ballistischer Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometer verbietet, verstoßen zu haben.

Das angebliche Fehlverhalten Rußlands reicht in das Jahr 2008 zurück. Damals haben die russischen Streitkräfte begonnen, eine zweistufige Rakete vom Typ RS-26 zu testen, die sowohl in einer Langstrecken- als auch in einer Mittelstreckenversion entwickelt wird. Nur letztere jedoch würde die Richtlinien des INF-Vertrages verletzen. Obwohl bis heute Unsicherheit darüber herrscht, welche Version getestet worden war, hat Mitte Juli 2014 das Principals Committee, bestehend aus Präsident, Außen- und Verteidigungsminister, dem Nationalen Sicherheitsberater, dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs und dem CIA-Chef, aufgrund irgendwelcher Geheimdiensterkenntnisse den Verstoß Moskaus formell festgestellt.

Interessanterweise stand damals nicht in erster Linie die RS-26-Rakete, sondern der Marschflugkörper P-500 Basalt im Mittelpunkt der amerikanischen Kritik. Der P-500 - auch 9M728 genannt - ist eine Hyperschall-Lenkwaffe, die ursprünglich für den Kampf gegen gegnerische Kriegsschiffe entwickelt wurde. In der seegestützten, völlig unumstrittenen Version trägt er einen 950 Kilogramm schweren Sprengkopf, der gehärteten Stahl durchbrechen kann. Nun werfen die USA Rußland vor, den P-500, der nur eine Reichweite von 550 Kilometer hat, in Kombination mit der Mittelstreckenrakete Iskander, dem Nachfolgemodell der Scud, getestet zu haben und unterstellen Moskau, die Indienstnahme dieser Waffe vorzubereiten und von Kaliningrad aus ganz Westeuropa atomar bedrohen zu wollen. In besagter Kombination soll der P-500 angeblich mit einem 350 Kilogramm schweren Atomsprengkopf ausgerüstet werden, in dessen Reichweite die meisten Hauptstädte der europäischen NATO-Mitgliedsländer gerieten. Das aus kurzer bis mittlerer Entfernung abgefeuerte Geschoß könne wegen der kurzen Flugzeit von dem westlichen Raketenabwehrsystem nicht abgefangen werden, so das Szenario der US-Generalität.

2017 setzten Pentagon und Kongreß Gerüchte in die Welt, wonach die russischen Streitkräfte eine noch modernere Version des P-500, die 9M729, bereits auf Iskander-Raketen in Kaliningrad stationiert hätten. Die Enthüllung, für die bis heute jede Bestätigung durch konkrete Belege fehlt, diente Hardlinern unter Amerikas Militärs und Politikern dazu, um den Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag zu fordern. Das Fehlen positiver Beweise für die vermeintliche russische Perfidie hängt nicht zuletzt mit dem Umstand zusammen, daß quasi mit dem Amtsantritt von Trump das Open-Skies-Abkommen, mittels dessen die amerikanischen und russischen Militärs das Territorium des jeweils anderen Landes überfliegen dürfen, um die Einhaltung bestehender Rüstungsabkommen zu kontrollieren und nach verdächtigen Aktivitäten Ausschau zu halten, nicht mehr zur Geltung kommt.

2017 gingen die Kontrollflüge um die Hälfte zurück. In diesem Jahr fanden bislang keine statt. Auslöser der destabilisierenden Entwicklung war ein Streit um neue Sensoren der russischen Spähflugzeuge, wodurch sich das US-Militär benachteiligt sah und deshalb die entsprechenden Fluggenehmigungen verweigerte. So gesehen wissen Amerikas und Rußlands Rüstungskontrolleure seit Anfang dieses Jahres praktisch nicht mehr, was sich auf dem Territorium des Gegners in Sachen Atomwaffen überhaupt abspielt. Vor diesem Hintergrund war die markige Antwort von Trumps Botschafterin bei der NATO, Kay Baily Hutchinson, am 2. Oktober auf Fragen von Journalisten in Brüssel zum Thema INF-Vertrag, die USA würden die 9M729-Rakete - die ehemalige republikanische Senatorin aus Texas konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob diese bereits in Betriebe genommen wurde oder sich immer noch in der Entwicklung befindet - "ausschalten" eine höchst unverantwortliche Kriegsdrohung, die Amerikas Spitzendiplomatie tagelange Mühen kostete, sie wieder zu entschärfen.

Hinter dem Entschluß zum Austritt der USA aus dem INF-Vertrag wird der Nationale Sicherheitsberater John Bolton vermutet. Der frühere für Rüstungskontrolle zuständige Staatssekretär im Außenministerium und ehemalige UN-Botschafter George W. Bushs gilt schon länger als prinzipieller Gegner von allem, was Amerikas militärische Handlungsfähigkeit irgendwie einschränkt. Von Bolton ist nicht zu erwarten, daß er ein offenes Ohr für die Beschwerde Moskaus haben wird, der Aufbau des amerikanischen Raketenabwehrsystems in Europa gefährde die Sicherheit Rußlands und verstoße selbst gegen den INF-Vertrag, weil die in Polen und Rumänien stationierten Abfangraketen auch gegen russische Ziele am Boden in Mittelstreckenreichweite eingesetzt werden können. Schließlich hat er als Mitglied der Bush-Regierung 2002 den Austritt der USA aus dem ABM-Vertrag durchgesetzt, damit das Pentagon in Asien angeblich gegen Nordkorea und in Europa angeblich gegen den Iran sein umstrittenes Raketenabwehrsystem installieren konnte.

Die wiederholte Bitte Moskaus um eine schriftliche Garantie, daß jenes System nicht gegen Rußland gerichtet sei, hat Washington jahrelang verweigert. Erst als sich 2014 pro-westliche Kräfte in der Ukraine unter dem Tarnmantel einer "Demokratiebewegung" an die Macht putschten und die Krim-Krise Moskau und Washington entzweite, wollen die Amerikaner die Schutzmöglichkeiten des Raketenabwehrsystems vor Rußland "entdeckt" haben. Doch wer das glaubt, wird selig. Nach dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag wollen nun die USA bodengestützte, nuklearbestückte Mittelstreckenraketen rund um China positionieren. Südkorea, Japan, Taiwan und die Philippinen fallen einem als mögliche Stationierungsorte sofort ein. Nach Angaben der britischen Tageszeitung Guardian erstickt John Bolton im nationalen Sicherheitsrat aktuell jeden Ansatz, den New-START-Vertrag, den Obama 2010 mit dem damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew, der im Januar 2021 ausliefe, zu verlängern. Fällt auch dieses Abkommen weg, dann fällt die Menschheit in die abrüstungspolitische Steinzeit zurück.

22. Oktober 2018


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