Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1003: Israel beendet Free-Gaza-Aktion mit einem Blutbad (SB)


Israel beendet Free-Gaza-Aktion mit einem Blutbad

Regierung Benjamin Netanjahus läßt im Mittelmeer die Muskeln spielen


Wie befürchtet, ist der Versuch der Free Gaza Movement, die Blockade des Gazastreifens mit einem humanitären Schiffskonvoi zu durchbrechen und 10.000 Tonnen an Hilfsgütern dort hinzubringen, mit einem Blutbad zu Ende gegangen. Die rechtskonservative israelische Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu hat ihre Drohung, die geplante Anlandung der Schiffe der Freedom Flotilla im Hafen von Gazastadt mit "allen Mitteln" - O-Ton Außenminister Avidgor Lieberman - zu verhindern, wahrgemacht. In den frühen Morgenstunden des 31. Mai haben schwerbewaffnete Elitesoldaten der israelischen Streitkräfte die Schiffe gewaltsam geentert, sie unter ihre Kontrolle gebracht und sie nach Ashdod umdirigiert. Bis zu 20 Teilnehmer der Free-Gaza-Aktion, die meisten von ihnen angeblich türkischer Abstammung, sind tot und rund 60 verletzt. Einige schweben in Lebensgefahr und werden noch in israelischen Krankenhäusern behandelt. Unter ihnen soll sich Raed Salah, der Anführer der Islamischen Bewegung in Israel, befinden. Die Überlebenden werden vorerst von den israelischen Behörden festgehalten.

Mit deutlicher Verspätung war am Nachmittag des 30. Mai die Freiheitsflottille von Zypern aus gestartet. Zu diesem Zeitpunkt bestand sie nur aus sechs Schiffen. Am Tag davor waren zwei kleinere Boote, die aus Griechenland gekommen waren, auf Zypern mit Motorschaden ausgefallen. Es besteht ein Verdacht auf Sabotage. Angeblich auf Druck Israels hat die zypriotische Regierung die Passagiere beider Boote daran gehindert, das Land auf dem Seeweg zu verlassen, um sich auf die anderen Schiffe der Freedom Flotilla zu begeben. Deswegen mußten die irischen Parlamentarier, Senator Mark Daly von den Grünen und die beiden Unterhausabgeordneten Aengus O'Snodaigh von Sinn Féin und Chris Andrews von der regierenden Fianna Fáil, unverrichteter Dinge wieder nach Hause fliegen. Erst nach Intervention der deutschen und der türkischen Regierung ist es einer Gruppe europäischer Politiker, zu der die Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Inge Höger von der Partei Die Linke gehörten, gelungen, in das türkische Nordzypern zu fahren und über den dortigen Hafen Famagusta mit einem Motorboot zu der Freiheitsflotille zu gelangen. Da diese sich bereits vor der Südküste der Insel befand, hat die ganze Aktion viel Zeit gekostet und die Abfahrt verzögert.

Als sich dann in den späten Abendstunden die Flotille, die in einem Abstand von rund 40 Seemeilen parallel zur östlich gelegenen, levantinischen Küste in südliche Richtung fuhr, die Höhe Israels erreichte, liefen drei Kriegsschiffe aus Haifa heraus. Kurz vor Mitternacht erreichten sie den Schiffskonvoi der Free-Gaza-Aktivisten. Per Funk wurden die Kapitäne der Flotille aufgefordert, ihre Boote und deren Zielort zu identifizieren. Man teilte bei dieser Gelegenheit mit, daß Israel die Gewässer vor Gaza bis zu einer Entfernung von 68 Seemeilen zum Sperrgebiet erklärt hatte. Man forderte die Aktivisten auf, die israelische Hafenstadt Ashdod anzulaufen, weil nur über sie die Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen könnten.

Als der Konvoi die Aufforderung ignorierte und seinen Kurs gen Süden fortsetzte, wurden die Schiffe gestürmt. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich alle Boote der Freiheitsflotille in internationalen Gewässern; sie hatten weder die offiziell anerkannte Seegrenze von zwölf Seemeilen erreicht noch das von Israel verhängte Sperrgebiet. Wie es zu den tödlichen Schüssen an Bord der türkischen Fähre Mavi Marmara, dem mit Abstand größten Schiff der Flotille, auf dem sich rund 600 Menschen befangen, kommen konnte, ist nicht ganz klar. Das israelische Militär, das bei der Aktion unter dem Befehl von Verteidigungsminister und Ex-Premierminister General a. D. Ehud Barak stand, behauptet, die Marinesoldaten wären auf gewaltsamen Widerstand in Form von Angriffen mit Messern und Eisenstangen gestoßen und hätten erst in Reaktion darauf das Feuer eröffnet. Es gibt sogar die Behauptung, einige Aktivisten hätten geschossen. Wurde zuerst angedeutet, die Aktivisten hätten Schußwaffen an Bord gehabt, was bedeutet hätte, das zumindest einige von ihnen nicht in friedlicher Absicht unterwegs gewesen wären, so heißt es inzwischen, irgendwelche Passagiere hätten dem einen oder anderen Soldaten eine Pistole entwendet. Ob diejenigen tatsächlich irgendwelche Schüsse abgegeben haben, ist unbekannt.

Aus dem Bildmaterial, das der arabische Nachrichtensender Al Jazeera und die von der türkischen Hilfsorganisation IHH mittels an Bord der Mavi Marmara angebrachten Kameras über die erste Phase der Erstürmung ausgestrahlt haben, sowie aus dem Blogs von mitgereisten Journalisten wie Abbas Al Lawati von der arabischen Zeitung Gulf News, lassen sich einige Rückschlüsse ziehen. Vor dem Auftauchen der Israelis waren keine bewaffneten oder militärisch gekleideten Personen unter den Passagieren zu sehen, sondern lediglich Zivilisten diversen Alters aus verschiedenen Nationen. Fast alle hatten aus Sicherheitsgründen Schwimmwesten angelegt. Die Soldaten seilten sich von Hubschraubern auf das Schiff ab beziehungsweise kletterten von Schnellbooten aus über die Reling an Bord.

Kurz bevor die Live-Reportage Al Jazeeras von der Mavi Marmara unterbrochen wurde, berichtete der Reporter Mohamed Vall, daß inzwischen zwei Passagiere der Fähre erschossen worden seien. Auf dem Boot herrschte allgemeines Durcheinander. Man konnte hören, wie die Schiffsleitung über die Lautsprecheranlage die Passagiere in mehreren Sprachen, darunter Englisch, aufforderte, sich in ihre Kabinen zu begeben bzw. ihre Sitzplätze einzunehmen und auf keinem Fall Widerstand zu leisten, denn die Soldaten schössen scharf und man habe dem nichts entgegenzusetzen. Laut dem Al-Jazeera-Reporter Vall hatte die Schiffsbesatzung bereits eine weiße Fahne gehißt. Im Hintergrund waren noch lautes Knallen zu hören, das sowohl von Schüssen, aber auch von Blendgranaten oder Tränengaskanister verursacht worden sein könnte.

Die Verantwortung für die Todesfälle liegt auf jedem Fall auf Seiten der Israelis. Sie haben einen Akt der Piraterie auf hoher See begangen. Die Passagiere der zum Konvoi gehörenden Schiffe hatten jedes Recht, sich gegen den Übergriff zu wehren, und sei es auch mit Waffengewalt. Wegen Überfällen auf hoher See führen viele Schiffsbesatzungen Waffen mit sich, die sie beim Einlaufen in jedem Hafen deklarieren müssen. Daraufhin werden die Waffen vom Zoll kontrolliert und bis zum Auslaufen entweder versiegelt oder von Bord genommen.

Es ist möglich, daß sich einige junge Männer unter den Passagieren vorgenommen haben, sich nicht alles gefallen zu lassen und sich den israelischen Soldaten in den Weg zu stellen. Vielleicht haben sie versucht ihnen die Waffen zu entreißen. Möglicherweise in einem solchen Handgemenge sind die Schüsse gefallen. Sollten einige der Passagiere die Waffen der Angreifer an sich genommen und auf sie das Feuer eröffnet haben, so hätten sie dazu auch das Recht gehabt - nämlich das der Selbstverteidigung, das jedem Menschen zusteht, auch denjenigen, die für die Sache der Palästinenser eintreten.

Bis das Gegenteil bewiesen ist, muß man davon ausgehen, daß die Israelis niemanden einfach hingerichtet haben. Doch indem die Regierung Netanjahu mit bewaffneten Spezialstreitkräften eine mit mehreren hundert Menschen besetzte Fähre gegen deren Willen kaperte, hat sie billigend in Kauf genommen, daß es Tote und Verletzte geben würde.

In einer ersten offiziellen Stellungnahme hat am Vormittag des 31. Mai Danny Ayalon, der Stellvertretende Außenminister Israels, den Organisatoren des Konvois, denen er unterstellte, mit dem "globalen Dschihad, Al Kaida und Hamas" unter einer Decke zu stecken, vorgeworfen, sie hätten es mit der geplanten Landung in Gaza auf eine "ungeheure Provokation" abgesehen. Am selben Vormittag wurde im irischen Rundfunk RTÉ Dr. Zion Evrony, Israels Botschafter in Dublin, vom Radiomoderator Pat Kenny direkt gefragt, was an der "Provokation" der Menschenrechtler überhaupt so schlimm gewesen sei, daß man deren Schiffe in internationalen Gewässern militärisch angreife und für einen solchen blutigen Vorfall sorge. Evronys Antwort: Wäre es der Freedom Flotilla gelungen, Gaza zu erreichen, wären weitere Schiffe gekommen; Israels Blockade des von der Hamas regierten Landstrichs wäre zusammengebrochen. Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß Israel, wie vom Schattenblick befürchtet, ein Exempel statuiert hat, das abschreckende Wirkung haben sollte und haben wird. Nachdem die offiziellen Beileidsbekundungen über die Toten von der Mavi Marmara verhallt sind, wird sich vermutlich kein europäischer Staat mehr finden, der es seinen Bürgern oder denen eines anderen Landes gestattet, eine Seefahrt nach Gaza zu riskieren.

31. Mai 2010