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NAHOST/1111: Zwist zwischen Türkei und Israel verschärft sich (SB)


Zwist zwischen Türkei und Israel verschärft sich

Ankara will Israel vor dem Internationalen Gerichtshof verklagen


Mehr als ein Jahr nach dem Überfall israelischer Marinestreitkräfte auf die Gazahilfsflotilla in den frühen Morgenstunden des 31. Mai 2010 im östlichen Mittelmeer hat sich der Streit darüber zwischen Israel und der Türkei immer noch nicht gelegt. Im Gegenteil, er verschärft sich. Ankara beharrt auf eine Entschuldigung aus Tel Aviv dafür, daß bei der Erstürmung des größten Schiffs der damaligen Flotilla, der türkischen Fähre Mavi Marmara, neun Türken, von denen einer gleichzeitig die Staatsbürgerschaft der USA besaß, erschossen wurden. Wegen der kategorischen Weigerung der Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu, mehr als ein Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck zu bringen, wurde kürzlich am 2. September Gabby Levy, Israels Botschafter in Ankara, des Landes verwiesen.

Anlaß für die drastische Entscheidung, die vom türkischen Außenminister Ahmet Davutoglu auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben wurde, war die vorzeitige Veröffentlichung von Auszügen des entsprechenden Berichts einer Untersuchungskommission der Vereinten Nationen unter der Leitung des ehemaligen neuseeländischen Premierministers Geoffrey Palmer in der New York Times. Über das Ergebnis der Untersuchung ist Ankara alles andere als glücklich, nicht nur weil darin die von der türkischen Regierung geforderte Entschuldigung Tel Avivs fehlt, sondern auch, weil das Vorgehen der israelischen Soldaten beim Entern der Mavi Marmara lediglich als unverhältnismäßig kritisiert, die Kaperung ausländischer Schiffe in internationalen Gewässern, da sie auf dem Weg in den Gazastreifen sein könnten, aus Rücksicht auf die von Israel geltend gemachte "terroristische" Bedrohung jedoch als zulässig befunden wird.

Deswegen hat Davutoglu am 3. September einen Gang Ankaras vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag angekündigt. Auf diese Weise will die Türkei erreichen, daß Israels maritime Blockade des Gazastreifens für illegal erklärt wird. Doch nicht nur das. Um den ungehinderten Schiffsverkehr im südöstlichen Mittelmeer durchzusetzen, sollen dort demnächst türkische Handelsschiffe von der eigenen Marine geschützt werden. Ob dadurch in naher Zukunft eine erneute Gazahilfsflotte mit militärischer Begleitung ins See sticht, ist unklar. Fest steht, daß der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan in den kommenden Wochen über den Landweg, das hieße von Ägypten aus, in den Gazastreifen reisen will, um seine Solidarität mit den 1,5 Millionen Menschen dort zu zeigen und Kritik an der Belagerungspolitik Israels zu üben. Aus türkischen Regierungskreisen heißt es, man suche nach dem "geeignetsten Zeitpunkt" für eine solche Mission. Vorstellbar wäre dies am Rande der geplanten Beratungen Erdogans mit der neuen Militärführung in Kairo am 12. September und damit am Vorabend der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die vom 13. bis zum 22. September in New York abgehalten wird.

Die Konfrontation zwischen der Türkei und Israel findet vor dem Hintergrund erhöhter Instabilität im Nahen Osten statt. Der Sturz Hosni Mubaraks in Ägypten, der NATO-Krieg gegen Muammar Gaddhafi in Libyen, die Niederschlagung der demokratischen Oppositionsbewegung in Bahrain, die Unruhen in Jemen und vor allem die blutigen Auseinandersetzungen zwischen oppositionellen Kräften und der Regierung von Präsident Baschar Al Assad in Syrien - einschließlich der davon abhängigen politischen Krise im Libanon - lassen der Türkei als einziger NATO-Mitgliedsstaat mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung größeres geopolitisches Gewicht zukommen. Die Popularität von Premierminister Erdogans konservativ-islamischer Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), die im Juni von den türkischen Wählern zum dritten Mal hintereinander mit einem Regierungsmandat ausgestattet wurde, hängt nicht nur mit dem anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch mit dem selbstbewußten Umgang Ankaras mit Tel Aviv zusammen.

Die rechtskonservative Netanjahu-Regierung sieht sich mit großen Problemen konfrontiert, von denen die Ungewißheit über den neuen politischen Kurs Ägyptens nur eines von vielen ist. In wenigen Tagen wollen die Palästinenser vor der UN-Generalversammlung ihren eigenen Staat ausrufen und von ihr anerkennen lassen. Wenngleich nicht mit der Erteilung der UN-Vollmitgliedschaft zu rechnen ist, könnte die erwartete Aufwertung der palästinensischen Entität ihren politischen Führern erlauben, ebenfalls vor dem Internationalen Gerichtshof Klage gegen Israel einzureichen. Aus dieser Möglichkeit rührt angeblich ein Großteil der Ablehnung Israels gegenüber dem Vorhaben der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) her. Interessanterweise hat sich die Türkei gleichzeitig mit der Ausweisung des israelischen Botschafters bereit erklärt, im Osten des Landes die für das von den USA forcierte Raketenabwehrsystem der NATO notwendigen Radaranlagen installieren zu lassen.

Das geplante System, dessen Erprobung bisher wahre Unsummen gekostet hat und das dennoch nicht als ausgereift gilt, soll das NATO-Gebiet vor feindlichen Raketen aus dem Iran schützen. Gerade dieser Tage gehen die Militärs der Türkei und des Irans - angeblich in Absprache - mit voller Härte gegen Stellungen der kurdischen Rebellengruppen PKK und PJAK im Norden des Iraks vor. Auf allen Seiten kommt es zu Toten und Verletzten. Gleichzeitig sind Ankara und Teheran unterschiedlicher Meinung über die Entwicklung in Syrien. Während die Türken die Übergriffe des Assad-Regimes anprangern, sehen die Iraner Damaskus als Opfer islamistischer Kräfte, die von Saudi-Arabien und den USA unterstützt werden. Jedenfalls dürfte die Entscheidung der Erdogan-Regierung, einige Komponenten des US-Raketenabwehrsystems bei sich aufstellen zu lassen, ihr einen gewissen Schutz vor dem zu erwartenden Druck aus Washington, Ankara möge im Streit mit Israel klein beigeben, bieten.

5. September 2011