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NAHOST/1174: Explosion der Gewalt auf der Halbinsel Sinai (SB)


Explosion der Gewalt auf der Halbinsel Sinai

Blutiger Angriff zwingt Ägyptens Präsident Mursi in die Defensive



In den letzten Tagen ist es auf der ägyptischen Halbinsel Sinai zu einer wahren Explosion der Gewalt gekommen, an der sich die Streitkräfte Israels und Ägyptens auf der einen Seite und unbekannte Aufständische auf der anderen beteiligen. Die Ereignisse in Sinai stellen den neuen ägyptischen Präsidenten Muhammed Mursi vor erhebliche Probleme. Er muß dort das Gewaltmonopol des ägyptischen Staates durchsetzen. Gleichzeitig darf er sich dabei nicht zur Marionette des eigenen Militärapparats, das trotz des von der ägyptischen Demokratiebewegung erzwungenen Rücktritts des langjährigen Diktators Hosni Mubarak im Februar 2011 immer noch der wichtigste Machtfaktor am Nil ist, degradieren lassen.

Vor dem Hintergrund der politischen Instabilität in Ägypten ist es in den letzten 18 Monaten auf der Sinai-Halbinsel immer wieder zu vereinzelten Raketenangriffen und Bombenanschlägen auf die israelischen Grenzanlagen entlang des palästinensischen Gazastreifens und der Negev-Wüste sowie auf die Pipeline, über die Israel Erdgas von seinem südlichen Nachbarn bezieht, gekommen. Mit dem Vorfall in der Nacht vom 5. auf den 6. August hat jedoch die Gewalt in Sinai eine völlig neue Dimension erreicht. Mehr als ein Dutzend als Beduine verkleidete Männer haben einen ägyptischen Militärposten mit Bomben und Granaten überfallen, 15 Soldaten getötet und mehrere Panzerfahrzeuge erbeutet. Mit zwei davon sind sie anschließend zum israelischen Grenzposten Kerem Shalom gefahren, um auch diesen anzugreifen bzw. eventuell den einen oder anderen israelischen Soldaten zu entführen. Doch die Israelis, die nach eigenen Angaben geheimdienstliche Erkenntnisse über den bevorstehenden Überfall besaßen, haben die Attacke mit Artillerie und dem Einsatz von Kampfflugflugzeugen zurückgeschlagen und sieben der Angreifer getötet. Sie selbst hatten keine Verluste zu beklagen. Ein Angehöriger der ägyptischen Streitkräfte, den die Angreifer als Geisel bzw. Fahrer verschleppt hatten, ist hierbei ebenfalls ums Leben gekommen.

In Ägypten war der Schock über den Tod der 16 Soldaten - die schwersten Verluste seit dem Yom-Kippur-Krieg gegen Israel im Jahr 1973 - groß. Präsident Mursi hat für den 7. August Staatstrauer angeordnet, demonstrativ die Verletzten im Militärkrankenhaus besucht und Vergeltung gegen die Verantwortlichen der Bluttat versprochen. Doch stellt sich die Frage, um wen es sich hierbei überhaupt handelt. Bisher hat sich keine Gruppe zu der Operation bekannt. Nach Angaben des israelischen Militärs kamen die Attentäter aus dem Sinai. Demnach könnten es salafistische Gegner des Friedensabkommens mit Israel gewesen sein. Laut den ägyptischen Militärbehörden kamen die "Terroristen" durch unterirdische Tunnel aus dem Gazastreifen, die seit Jahren für den Schmuggel von Lebensmittel und anderen Waren des alltäglichen Bedarfs aus Ägypten für die eingeschlossenen Palästinenser benutzt werden (Ihrerseits hat die palästinensische Hamas-Bewegung jede Verwicklung ihrer Kämpfer in den Vorfall bestritten und die Tötung der ägyptischen Soldaten aufs schärfste verurteilt).

Beide Erklärungsmuster bringen Mursi in Schwierigkeiten. Ägyptens neuer Präsident und führendes Mitglied der lange Zeit verbotenen Moslembruderschaft hat sich zwar zum Friedensabkommen mit Israel bekannt, setzt sich jedoch für die Aufhebung der Abriegelung des Gazastreifens ein. Er versucht zudem, die in Gaza regierende Hamas-Bewegung, die übrigens eine Schwesterorganisation der ägyptischen Moslembruderschaft ist, aus der politischen Isolation zu führen - sehr zur Verärgerung Tel Avivs.

Nach dem verheerenden Überfall an der Grenze zum Gazastreifen hat das ägyptische Militär mit schwerem Baugerät wieder begonnnen, die Tunnel unbegehbar zu machen. Die in den vergangenen Monaten herrschende Lockerung des Grenzverkehrs zwischen Ägypten und dem Gazastreifen wurde vorerst aufgehoben. Am 8. August holte das ägyptische Militär sogar zum Gegenschlag aus. Nachdem in den frühen Morgenstunden unbekannte Täter wieder Schüsse auf Grenzposten abgegeben haben, wurden sie in ihren Fahrzeugen aus Kampfhubschraubern der ägyptischen Armee mit Raketen beschossen. Nach Angaben aus Kairo wurden auf einem Schlag 20 mutmaßliche "Terroristen" getötet.

Über die jüngste Entwicklung in Sinai scheint die israelische Regierung um Premierminister Benjamin Netanjahu nicht ganz unglücklich zu sein. Beim Interview mit dem Radiosender der israelischen Streitkräfte am 7. August erklärte Vizepremier und Geheimdienstminister Daniel Meridor, durch den blutigen Anschlag auf den Armeestützpunkt hätte "Mursi gelernt, daß der Terror ihnen [die Ägypter - Anm. d. SB-Red.] genauso schadet wie uns". Die Selbstzufriedenheit Meridors und die Tatsache, daß die israelischen Behörden offenbar Vorkenntnisse vom Überfall am 5. August hatten, lassen die Reaktion der ägyptischen Moslembruderschaft auf das Geschehen als nachvollziehbar erscheinen. In einer offiziellen Stellungnahme haben die Parteikollegen von Präsident Mursi den Mossad bezichtigt, den Vorfall inszeniert zu haben, um den demokratischen Aufbruch in Ägypten zu vereiteln. Mit ihrem verschwörungstheoretischen Ansatz stehen Ägyptens Moslembrüder nicht allein da. Am 6. August stellte das mossadnahe Internetportal Debkafile die These auf, palästinensische Extremisten aus dem Gazastreifen und/oder Al-Kaida-Anhänger auf der Sinaihalbinsel hätten den Angriff im Auftrag des Irans, der sich an Israel wegen dessen Unterstützung der militanten Gegner des syrischen Präsidenten Bashar Al Assad habe rächen wollen, ausgeführt.

8. August 2012