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NAHOST/1209: Kurdistan grenzübergreifend im Aufruhr (SB)


Kurdistan grenzübergreifend im Aufruhr

Schaffen die Kurden Iraks, Syriens und der Türkei einen eigenen Staat?



Die 25 bis 30 Millionen Kurden bilden die größte ethnische Gruppe auf der Welt ohne einen eigenen Staat. Als die Briten und Franzosen nach dem für sie erfolgreich ausgegangenen Ersten Weltkrieg das besiegte Osmanische Reich untereinander aufteilten und die bis heute gültigen Staatsgrenzen des Nahen Ostens auf dem Reißbrett schufen, gingen die Kurden trotz gegenteiliger Zusicherungen Londons und Paris' leer aus. Fast einhundert Jahre später sieht es aus, als entsteht langsam zwar, aber sicher ein eigenständiger kurdischer Staat. Die anhaltende Instabilität des Iraks der Nach-Saddam-Hussein-Ära, der blutige Bürgerkrieg in Syrien und der Kampf der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im türkischen Ostanatolien deuten in diese Richtung.

Seit einigen Tagen stehen sich irakische Streitkräfte und kurdische Peschmerga-Kämpfer in der Nähe der nordirakischen Städte Kirkuk und Khanakin kampfbereit gegenüber. Die Peschmerga sind die Truppen der seit 1970 existierenden kurdischen Autonomieregion des Iraks und die einzige Streitmacht des Landes, die nicht dem Verteidigungsministerium in Bagdad untersteht. Anlaß des Streits ist die Gründung eines neuen Tigris-Kommandos der irakischen Streitkräfte mit Sitz in Kirkuk, das für die gleichnamige Provinz sowie die Nachbarprovinzen Salaheddin and Diyala zuständig sein soll. Kirkuk bildet das Zentrum der Ölindustrie des irakischen Kurdistans. Hatte Saddam Hussein zuletzt durch die Ansiedlung von Arabern und die Verdrängung der Kurden versucht, Kirkuk zu "arabisieren", so steht die 1,5 Millionen Einwohner zählende Stadt seit dem Einmarsch der US-Streitkräfte 2003 und dem Sturz des früheren Baath-"Regimes" wieder unter der De-Fakto-Kontrolle der kurdischen Autonomiebehörde.

Ungeachtet der Verabschiedung einer neuen Landesverfassung 2005 hat man sich über die endgültigen Grenzen der Provinz Kirkuk und ihres Platzes im föderalen System der Republik Irak nicht einigen können. Lange Zeit stand die Idee einer Volksbefragung im Raum, doch dazu ist es wegen des Streits darüber, wer daran überhaupt teilnehmen dürfte, bis heute nicht gekommen. Schließlich waren nach der Eroberung des Iraks durch die Angloamerikaner 300.000 Kurden nach Kirkuk zurückgekehrt, während 100.000 Araber die Provinz aus Angst vor Repressalien verließen. Seit einigen Monaten führt die Zentralregierung um den schiitischen Premierminister Nuri Al Maliki mit den Behörden in Erbil, Hauptstadt der autonomen Kurdenregion, einen erbitterten Streit um die Aufteilung der Einnahmen aus dem Ölexport. In Absprache mit Washington haben sich die westlichen Energieunternehmen Exxon, Chevron und Total aus der Ölförderung im Südirak zurückgezogen und sich im Norden des Zweistromlandes niedergelassen, weil die Kurden, angeführt von ihrem Präsidenten Massud Barsani, ihnen günstigere Bedingungen anbieten. Bagdad hält die Verträge Erbils mit besagten Ölmultis für illegal und hat deshalb die irakisch-türkische Ölpipeline geschlossen. Aus diesem Grund muß derzeit das Öl aus dem irakischen Kurdistan mit Tankwagen in die Türkei transportiert werden.

Mit der Öffnung des neuen Tigris-Kommandozentrums und der Entsendung entsprechender Truppenkontingente nach Kirkuk hat Maliki den Machtanspruch Bagdads unterstrichen. Im Gegenzug haben die Kurden Hunderte Peschmerga in die geteilte Stadt entsandt und damit ihrerseits demonstriert, daß sie sich nicht ohne weiteres dem Willen Bagdads beugen werden. Wie instabil die Lage ist, zeigt der Doppelbombenanschlag auf das Büro der Demokratischen Partei Kurdistans in Kirkuk, der am 14. November neun Menschenleben forderte und 38 Personen zum Teil schwer verletzte. Drei Tage später kam es zwischen irakischen Soldaten und Peschmerga-Kämpfern in der Stadt Tuz Khurmato, die 170 Kilometer nördlich von Bagdad liegt, zu einer Schießerei, die einer Person das Leben kostete. Man hofft, daß Barsani und Maliki zu einer friedlichen Lösung gelangen, die weiteres Blutvergießen verhindert. Doch danach sieht es momentan nicht aus.

Der Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien wirkt sich destabilisierend auf die ohnehin komplizierten ethnischen und religiösen Verhältnisse im Irak aus. In Ostsyrien befinden sich die Aufständischen derzeit auf dem Vormarsch. Am 21. November haben sie einen wichtigen Artilleriestützpunkt nahe der Stadt Mayadin in der ölreichen Provinz Deir Ez Zor erobert. Einige der Grenzübergänge zum Irak stehen bereits unter ihrer Kontrolle. Auch in der nordöstlichen Provinz Al Hasaka, die im Norden am Südosten der Türkei und im Osten am irakischen Nordwesten grenzt, erzielen die Rebellen Erfolge gegen die Truppen Baschar Al Assads. Doch hier geraten sie auch an die in Syrien lebenden Kurden, die sich bisher aus dem Bürgerkrieg herausgehalten haben und ihn als Gelegenheit sehen, weitreichende Autonomie von Damaskus zu schaffen.

Am 19. und am 20. November kam es in der Stadt Ras Al Ain, nahe der türkischen Grenze, zu Gefechten zwischen Angehörigen der Freien Syrischen Armee (FSA) und bewaffneten Mitgliedern der kurdischen Demokratischen Unionspartei. 29 Menschen - vier kurdische Kämpfer, ein kurdischer Politiker und 24 Mitglieder der islamistischen Al-Nusra-Front und der Miliz Gharba Al Scham - kamen dabei ums Leben. Am selben Tag erteilte Saleh Muslim, Chef der Demokratischen Unionspartei Kurdistans einer Zusammenarbeit seiner Gruppe mit der neuen, am 11. November im Doha gegründeten Syrischen Nationalkoalition, die vom Westen als Exilregierung hofiert wird, eine Absage. Die Vertreter des neuen Dachverbands der syrischen Opposition seien von der Türkei und Katar handverlesen und dienten in erster Linie ausländischen Interessen, so Muslim.

Was die ausländische Einmischung in den Syrien-Konflikt betrifft, so spielt die Türkei hier bekanntlich eine führende Rolle. Über türkisches Territorium erhalten die Anti-Assad-Milizen einen Gutteil ihrer Waffen, Munition und ausländischen Kämpfer. Der New York Times zufolge koordiniert die CIA von einem geheimen Stützpunkt nahe dem NATO-Luftwaffenstützpunkt in der Stadt Incirlik die Ausrüstung der Rebellen und versucht damit angeblich zu verhindern, daß schwere Waffen wie Anti-Panzer- und Luft-Boden-Raketen aus libyschen, katarischen und saudischen Beständen in die Hände von al-kaida-nahen "Extremisten" gelangen.

Ankara beantragte am 21. November bei der NATO in Brüssel die Aufstellung von Patriot-Abwehrraketen an der Grenze zu Syrien. Mit jenem System könnte die NATO über den Nordwesten Syriens eine Flugverbotszone errichten und den Aufständischen damit in der nur 45 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegenden Handelsmetropole Aleppo zum Sieg über die Regierungstruppen verhelfen. Angesichts dieser Entwicklung wundert es nicht, daß Ankara plötzlich Bereitschaft zeigt, Gespräche mit der "terroristischen" PKK zu führen. Zuvor hatten Hunderte PKK-Gefangene am 18. November ihren 68tägigen Hungerstreik aufgegeben. Dem Ende des Hungerprotestes waren Gespräche zwischen PKK-Chef Abdullah Öcalan, der seit 1999 auf der Insel Imrali im Isolationshaft sitzt, und Vertretern des türkischen Geheimdienstes vorausgegangen. Offenbar will die Regierung in Ankara die Bekämpfung der Autonomiebestrebungen der türkischen Kurden, die in den letzten 28 Jahren rund 40.000 Menschen das Leben kostete, herunterfahren, bevor man sich in ein Militärabenteuer in Syrien stürzt.

23. November 2012