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NAHOST/1210: Moslembruder Mursi wird Ägyptens neuer Diktator (SB)


Moslembruder Mursi wird Ägyptens neuer Diktator

Islamisten versuchen die demokratische Revolution am Nil zu kapern



21 Monate nach dem Sturz des langjährigen Diktators Hosni Mubarak haben die Ägypter einen neuen Diktator. Am 22. November hat der im Juni gewählte Präsident Mohammed Mursi ein weitreichendes Dekret erlassen, das ihn über die Gesetze des Landes stellt. Gegen die Amtsanmaßung Mursis, die einem stillen Staatsstreich gleichkommt, ist es am 23. November in Kairo, Alexandria und anderen Städten Ägyptens zu massiven Protesten gekommen, die zum Teil noch andauern. Die urbane Arbeiter- und Mittelschicht, die im vergangenen Jahr Mubaraks Militärdiktatur in die Knie zwang, befürchtet, daß Mursis sunnitische Moslembrüder die demokratische Revolution kapern und daraus eine islamische machen wollen. Die Befürchtung ist nicht unbegründet. Schließlich haben die schiitischen Mullahs um Ajatollah Ruhollah Khomeini 1979 im Iran nach dem Sturz des Schahs durch einen Volksaufstand genau dies gemacht.

Der Zeitpunkt für den Vorstoß Mursis war geschickt gewählt. Am 21. November war es dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens gelungen, die eine Woche lang dauernden Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern um den Gazastreifen zu beenden (am selben Tag konfiszierten ägyptische Soldaten einen Lastwagen voller Waffen und Munition aus Libyen auf der Sinai-Halbinsel). Mursi hatte seine erste diplomatische Bewährungsprobe meisterhaft bestanden und die Befürchtungen Washingtons, die neue von der Moslembruderschaft dominierte Regierung am Nil würde sich am Friedensabkommen mit Israel nicht halten, zerstreut. Deshalb war Mursi am 22. November in der New York Times von US-Präsident Barack Obama als pragmatischer und verläßlicher Partner über den grünen Klee gelobt worden. Dadurch waren die rund 1,3 Milliarden Dollar Finanzhilfe, die Kairo jedes Jahr von den USA erhält und die größtenteils an das ägyptische Militär geht, gesichert. Folglich darf sich Mursi künftig auf jenen Sicherheitsapparat stützen, der Mubarak drei Jahrzehnte lang die Treue hielt. Bereits am 20. November hatte Mursi mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ein 4,8 Milliarden Dollar schweres Darlehen ausgehandelt, das den defizitären ägyptischen Haushalt für eine Weile über Wasser halten soll.

Überschattet vom Krieg um den Gazastreifen hatte sich der gesellschaftliche Konflikt in Ägypten in den vergangnen Tagen drastisch zugespitzt. Am 18. November kamen drei Demonstranten durch Schüsse ums Leben, als die ägyptische Armee die kleine Nilinsel Kursayah im Süden Kairos von Hausbesetzern mit brutaler Gewalt räumte. Bei einer Protestaktion gegen die fehlenden strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen für den Tod von 42 Demonstranten bei Straßenschlachten mit Armee und Polizei vor einem Jahr, kam es am 21. November in Kairo erneut zu Gewaltausbrüchen, bei denen das Büro des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera in Flammen aufging. Die Protestierer warfen dem im Golfemirat Katar angesiedelten Sender vor, eine tendenziöse Berichterstattung zugunsten der Moslembruderschaft auszustrahlen.

Mit dem Erlaß vom 22. November will Mursi den Widerstand gegen seine Pläne und seine Vorstellungen, wie Demokratie in Ägypten aussehen könnte, brechen. So hat er den Generalstaatsanwalt Abdel Maguid Mahmud wegen angeblicher Verschleppung von Ermittlungen gegen Mitglieder des früheren Mubarak-"Regimes" entlassen. Zudem verfügte er, daß der Oberste Gerichtshof weder die Entscheidungen des Präsidenten noch die Rechtmäßigkeit des Gremiums, das derzeit die neue Verfassung Ägyptens ausarbeitet, in Frage stellen darf. Gerade letzte Verfügung läßt Befürchtungen vor einer "islamischen Revolution" aufkommen, denn in den vergangenen Monaten hatten die säkularen und christlichen Vertreter das verfassungsgebende Gremium aus Protest verlassen, weil darin die Mehrheit aus Moslembrüdern und Salafisten keinen Konsens suchen, sondern die islamische Rechtsprechung Scharia zum Fundament des Staates machen wollen.

Mursi behauptet, er handele im Sinne "alle Ägypter" und wolle lediglich die demokratische Revolution gegen die alten Mubarak-Kräfte im Staatsapparat durchsetzen. Seine Beteuerungen lassen jedoch an Glaubwürdigkeit vermissen. Während Zehntausende Menschen am 23. November auf dem Tahrir-Platz gegen die selbstherrliche Initiative Mursis protestierten, ließ sich dieser vor dem Präsidentenpalast von Hunderten eigener Anhänger, die meisten von ihnen arme Leute vom Land, welche die Moslembruderschaft mit Bussen in die Hauptstadt transportiert hatte, feiern. Bereits am 17. November war Mursi am Anspruch, als Staatsoberhaupt das ganze ägyptische Volk zu repräsentieren, kläglich gescheitert, als er demonstrativ der Inthronisierung von Tawadros II, dem neuen Papst der orthodoxen koptischen Kirche, in der Sankt-Mark-Kathedrale in Kairo fernblieb. Die Ägypter werden es nicht leicht haben, ihren neuen Pharao, der das Militär, die Moslembruderschaft und die stets gewaltbereiten Salafisten hinter sich zu haben scheint, loszuwerden.

24. November 2012