Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1238: Israel heizt den Bürgerkrieg in Syrien kräftig an (SB)


Israel heizt den Bürgerkrieg in Syrien kräftig an

Luftangriffe auf Damaskus - Syrienkonflikt wird internationalisiert



Durch die jüngsten israelischen Luftangriffe auf Ziele nahe Damaskus in den frühen Morgenstunden des 3. und 5. Mai droht der seit zwei Jahren anhaltende Bürgerkrieg in Syrien zwischen Regierungstruppen und bewaffneter Opposition zu einem Regionalkonflikt auszuufern, dessen Ausgang niemand mit Sicherheit vorhersagen kann - außer natürlich, daß er Zerstörung und Leid in einem ungeheuren Ausmaß mit sich brächte. Die von diversen Nachrichtensendern ausgestrahlten, von Privatpersonen aus einer Entfernung von mehreren Kilometern aufgenommenen Bilder vom zweiten Angriff, die einen gigantischen pilzförmigen Feuerball über der syrischen Hauptstadt aufsteigen zeigen, lassen berechtigte Befürchtungen vor einem Atomkrieg aufkommen.

Bis zur Stunde herrscht noch Unklarheit über Ziel und Umfang der beiden Angriffe. Bei der ersten und deutlich kleineren Operation soll die israelische Luftwaffe in der Nähe des internationalen Flughafens von Damaskus entweder eine Lagerhalle oder einen Lastwagenkonvoi mit Raketen aus dem Iran für die schiitische Hisb-Allah-Miliz im Libanon zerstört haben. Beim zweiten Angriff, der eine solche Explosionswelle verursachte, daß sie als Erdbeben von der Stärke zwei bis drei auf der nach oben offenen Richter-Skala registriert wurde, sollen das Ziel mehrere Militärinstallationen auf dem 1150 Meter hohen Berg Kassioun gewesen sein, unter anderem die Forschungsanlage Jamraya. (Gegen letzteres Objekt hatten die Israelis bereits im Januar einen Angriff geflogen.) Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte hierzu eine nicht namentlich genannte Quelle bei den westlichen Geheimdiensten mit den Worten: "Beim Angriff in der gestrigen Nacht, genauso wie bei dem davor, ging es um Fateh-110-Raketen, die vom Iran auf dem Weg zur Hisb Allah waren."

Bereits am 21. April hatte Israels Verteidigungsminister Moshe Ya'alon in bezug auf Syrien von drei "roten Linien" gsprochen, deren tatsächliches oder auch potentielles Überschreiten Tel Aviv zum Handeln zwingen würde: Erstens, ein grenzübergreifender Angriff der syrischen Streitkräfte; zweitens, das Gelangen von Chemiewaffen in den Besitz der Rebellen; drittens, die Weitergabe hochmoderner Waffen an die Hisb Allah. Nach Ansicht von Militärexperten erfüllen die iranischen Fateh-110-Raketen letztere Kategorie. Im Vergleich zu den bisherigen Scud-Raketen der Hisb Allah haben sie eine weitaus höhere Zielgenauigkeit. Darüber hinaus verfügt die Fateh-110 über einen Feststoffantrieb, wodurch sie leicht und schnell von einem geparkten Lastwagen abgefeuert werden kann. Sie hat eine Nutzlast von 500 bis 600 Kilogramm Sprengstoff und kann damit beim Einschlag nicht nur ein Gebäude, sondern einen ganzen Häuserblock in Schutt und Asche legen. Mit einer Reichweite zwischen 250 und 300 Kilometern könnte eine solche Waffe in den Händen der Hisb-Allah-Miliz eine ernste Bedrohung für die israelischen Großstädte Jerusalem und Tel Aviv darstellen.

Es gibt auch Hinweise, wonach der Zweck der Angriffe weniger in der Unterbrechung des Waffennachschubs für die Hisb Allah als vielmehr in der Schwächung der Kampfkraft der syrischen Streitkräfte bestanden hat, die gerade in den letzten Wochen nach Meinung aller Beobachter deutliche Erfolge gegen die Aufständischen, besonders im Raum der strategisch wichtigen Stadt Homs, erzielen konnten. Nach Angaben des russischen Nachrichtensenders Russia Today wurden vor allem beim zweiten Angriff Garnisonen und Waffendepots der 104. und 105. Brigade der syrischen Revolutionsgarden und damit der treuesten und kampfstärksten Truppen Assads zerstört. Nach Schätzungen sollen 150 bis 500 syrische Soldaten bei der gewaltigen Detonation auf dem Berg Kassioun ums Leben gekommen sein.

Die Größe der Explosion beim zweiten Angriff spricht dafür, daß hier ungeheure Mengen Treibstoff und Munition auf einen Schlag vernichtet wurden. Ob tatsächlich iranische Fateh-110-Raketen dabei waren, wissen vermutlich nur die Syrer selbst. Es gibt Spekulationen, wonach die Israelis bei dem Angriff bunkerbrechende Raketen gegen unterirdische Waffendepots verwendet haben. Dies berichteten am 5. Mai sowohl Nahost-Korrespondent Ian Black in der Online-Version der britischen Tageszeitung Guardian als auch der israelische Analytiker Ben Caspit bei der Online-Zeitung Al-Monitor. Die Frage, von wo aus die Israelis ihre Waffen abgefeuert haben, wird derzeit heiß diskutiert. Erkenntnissen zufolge haben die an der Operation beteiligten Flugzeuge libanesisches Territorium überquert. Doch möglicherweise haben sie ihre Lenkwaffen ausgesetzt, ohne in den syrischen Luftraum einzudringen.

Durch den Erfolg der Operation sehen sich im Westen die Befürworter der Einrichtung einer Flugverbotszone zur Unterstützung der syrischen Rebellen - allen voran der republikanische Senator aus Arizona, Vietnamkriegsheld John McCain - im Aufwind. Ihnen zufolge ist die syrische Luftabwehr längst nicht so gut wie befürchtet und könnte von der NATO durch gezielte Angriffe auf die wichtigsten Flugabwehrbatterien und Radaranlagen schnell "degradiert" werden. Wie die New York Times am 6. Mai in der Printausgabe berichtet, diskutieren Vertreter der USA, Großbritanniens und Frankreichs bereits seit Tagen "im Geheimen" die Möglichkeit einer ähnlichen Vorgehensweise in Syrien wie vor zwei Jahren in Libyen gegen das "Regime" Muammar Gaddhafis.

Die israelischen Angriffe auf Ziele in Syrien stellen jedenfalls eine deutliche Eskalation des dortigen Konfliktes dar. Nicht nur hat die Regierung in Damaskus von einem "Kriegsakt" gesprochen und Vergeltung angekündigt, auch der Iran hat wissen lassen, seine Unterstützung für das säkulare Baath-"Regime" in Damaskus zu verstärken. Währenddessen lassen die Rebellen ihrerseits nichts unversucht, um die Möglichkeit einer friedlichen Lösung zu torpedieren. Wie UN-Vertreterin Carla del Ponte am 5. Mai bekanntgab, sprechen bisherige Beweise dafür, daß die Aufständischen und nicht die regulären syrischen Streitkräfte vor einigen Wochen sarinhaltiges Giftgas eingesetzt haben.

Am 2. Mai ist bekannt geworden, daß salafistische Extremisten unter den Rebellen den Schrein zu Ehren von Hujr bin Uday al-Kindi nahe Damaskus überrannt und die Überreste des von den Schiiten verehrten Freundes des Propheten Mohammed geschändet haben. In einem am 4. Mai in der Beiruter Zeitung Daily Star erschienenen Bericht hieß es, die Nachricht von der Schleifung des Al-Kindi-Schreins hätte Empörung bei den Schiiten im ganzen Nahen Osten ausgelöst. Die Zuspitzung des Konfliktes zwischen Iran, Syrien und der Hisb Allah auf der einen, den USA, Großbritannien, Frankreich, Israel, Jordanien, Katar, Saudi-Arabien, der Türkei und Al Kaida bzw. der Al-Nusra-Front auf der anderen Seite ist vorprogrammiert.

6. Mai 2013