Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1480: US-Luftangriff auf syrische Armee nur ein Fehler? (SB)


US-Luftangriff auf syrische Armee nur ein Fehler?

Aussicht auf Waffenstillstand in Syrien erweist sich als Fata Morgana


Bereit im Vorfeld des jüngsten Friedensfahrplans für Syrien, den nach monatelangen Verhandlungen die Außenminister Rußlands und der USA, Sergej Lawrow und John Kerry, in Genf vereinbart haben und der am 12. September in Kraft getreten ist, hagelte es Kritik seitens der Kriegstreiberfraktion in den USA, angeführt von Pentagonchef Ashton Carter. Der Plan sah eine erste Feuerpause für sieben Tage, sozusagen auf Probe, vor. In dieser Zeit sollten die Syrische Arabische Armee (SAA), russische Luftwaffe, libanesisch-schiitische Hisb-Allah-Freiwillige und iranische Militärs auf der einen Seite, "gemäßigte" syrische Rebellengruppen auf der anderen in einen Waffenstillstand treten und damit die Belieferung der Zivilbevölkerung in bestimmten, besonders umkämpften Gebieten wie des von Rebellen gehaltenen Ostteils von Aleppo mit dringend benötigen Lebensmitteln und Medikamenten ermöglichen. Sollten die ersten vorsichtigen Schritte der Deeskalation gelingen, würde am heutigen 19. September ein amerikanisch-russisches Operationszentrum zwecks Koordinierung der gemeinsamen Bekämpfung der als "terroristisch" eingestuften, sunnitischen Dschihadistenformationen Islamischer Staat (IS) und Al-Nusra-Front, die sich vor kurzem zum Schein vom Al-Kaida-"Netzwerk" getrennt und in Dschabhat Fatal Al Scham umbenannt hat, eingerichtet werden.

Gegen letzteren Punkt wehrt sich das US-Militärestablishment, das weiterhin am Ziel festhält, den Sturz des "Regimes" von Präsident Baschar Al Assad zu erreichen, mit Händen und Füßen. Ranghohe Vertreter des Pentagons, angeführt von Verteidigungsminister Carter, haben offen oder verdeckt über die Presse ihren Zweifel am Sinn und Zweck der Zusammenarbeit mit Rußland angemeldet. Ein längerer Beitrag der Nachrichtenagentur Agence France Presse vom 12. September - um nur ein Beispiel unter vielen zu geben - fing so an: "Mit tiefer Skepsis wurden am Montag im Pentagon Pläne für eine begrenzte Zusammenarbeit mit dem langjährigen Feind Rußland erwogen, doch Vertreter dort betonten, daß jede Kooperation von den Handlungen Moskaus in den kommenden Tagen abhinge."

AFP-Journalist Thomas Watkins beschrieb die Atmosphäre im US-Verteidigungsministerium wie folgt: "Pentagon-Vertreter sind über die Aussicht, selbst begrenzte Informationen mit den russischen Amtskollegen zu teilen, alarmiert, und viele hegen keinerlei Erwartung, daß Moskau seinen Teil des Friedensplans erfüllen wird." Anonym zitierte Watkins einen Pentagon-Beamten dahingehend, daß weniger der kurze Zeitrahmen als vielmehr "der abgrundtiefe Mangel an Vertrauen" gegenüber den Russen der Aspekt sei, an dem das Ganze scheitern dürfte. Unter Verweis auf den anhaltenden Streit zwischen Rußland und den USA über die Lage in der Ostukraine machte Watkins zudem den wenige Tage zuvor erhobenen Vorwurf Carters geltend, wonach unter Wladimir Putin der Kreml "den klaren Ehrgeiz, die Prinzipien der internationalen Ordnung zu erodieren", habe.

Vor diesem Hintergrund kann man das, was am Nachmittag des 17. September im Osten Syriens am Rande des Flughafens Deir ez-Zor, der seit über einem Jahr von IS-"Terroristen" belagert wird, geschah, keinen Zufall nennen. Eine SAA-Stellung auf einer strategisch wichtigen Berghöhe über dem Flughafen wurde eine Stunde lang aus der Luft von Maschinen der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition angegriffen. An der Operation nahmen amerikanische, australische und dänische Kampfjets sowie offenbar britische Kampfdrohnen vom Typ Reaper teil. Entgegen ersten Annahmen kamen offenbar nicht alle Flugzeuge aus dem Irak; die Dänen sollen vom NATO-Luftwaffenstützpunkt Incirlik gestartet sein. Die Angreifer warfen auch Phosphorbomben ab, die Fleisch, Haut und Knochen zerfressen und deshalb international geächtet werden. Eingesetzt wurden neben F-16s auch A-10-Thunderbolts, die sehr tief fliegen, damit die Besatzung aus nächster Nähe den Feind am Boden mit Bordkanonen zusammenschießen kann. Am Ende der Operation, die fast eine Stunde dauerte, waren 83 syrische Soldaten tot und mehr als 100 verletzt. Die Verantwortlichen im taktischen Luftwaffenhauptquartier (Combined Air and Space Operations Center - CAOC) der USA auf dem Fliegerhorst Al Udeid in Katar haben den blutigen Vorfall als Ergebnis einer tragischen Verwechslung abgetan und behauptet, sie hätten angenommen, Fahrzeuge und Anhänger des IS ins Visier zu nehmen.

In der selben Nacht hat Rußland eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats einberufen, an der es wenig diplomatisch zuging. Rußlands UN-Botschafter Witali Tschurkin stellte die Behauptung, das Ziel des Angriffs seien IS-Stellungen bei Deir ez-Zor gewesen, in Frage mit dem Argument, bis dato hätten die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten in der Anti-IS-Koalition kein einziges Mal der SAA bei Kämpfen gegen die Kalifatsanhänger geholfen - warum sollten sie jetzt plötzlich damit beginnen und nicht zwei Tage warten, um gemeinsam mit Rußland solche Operationen durchzuführen? Der russische Spitzendiplomat äußerte offen den Verdacht, daß das Pentagon mit dem spektakulären Angriff auf die SAA den Kerry-Lawrow-Friedensplan habe torpedieren wollen. Barack Obamas UN-Botschafterin Samantha Power hat die Unterstellung Tschurkins als gemein und unzulässig abgetan und ihrerseits Rußland und das "Assad-Regime" für sämtliches Unheil in Syrien in den letzten fünf Jahren verantwortlich gemacht. Der besonders aggressive Auftritt von Power überrascht wenig, denn sie gilt neben Hillary Clinton als profilierte Verfechterin der "humanitären Kriegsführung" und hat damit beste Chancen auf einen Platz in der künftigen Administration der ehemaligen First Lady, sollte die Demokratin im November die Präsidentenwahl gegen den Republikaner Donald Trump gewinnen.

Dafür, daß Tschurkin mit seinem Verdacht richtig liegt, sprechen Ausführungen des israelischen Nachrichtenportals DEBKA File, dem eine besondere Nähe zum Mossad nachgesagt wird. In einem DEBKA-Bericht vom 17. September hieß es: "Das Pentagon und die US-Armee führen die Befehle ihres Oberkommandierenden Barack Obama bei der Umsetzung des Abkommens zur militärischen Zusammenarbeit, das am 12. September von Secretary of State John Kerry und Rußlands Außenminister Sergej Lawrow in Genf beschlossen wurde, nicht aus" - angeblich weil das geplante gemeinsame Vorgehen gegen IS und Al Nusra den Russen "zu viele Gelegenheiten böte, die Kampfmethoden und -taktiken der US-Marine und -Luftwaffe unter echten Kriegsbedingungen zu studieren". Dies dürfte sicherlich eine Überlegung der US-Militärs sein. Entscheidender dürfte jedoch die Weigerung der "Regimewechsel"-Befürworter in Washington sein, ernsthaft gegen die "Terroristen" in Syrien vorzugehen, um die Gegner Assads nicht allzusehr zu schwächen. DEBKA-File macht zudem eine interessante Anmerkung, warum es vermutlich niemals zu einer tatsächlichen Zusammenarbeit zwischen Amerikanern und Russen in Syrien kommen wird: "Laut Quellen aus Washington behauptet Verteidigungsminister Ashton Carter, daß er nicht gegen ein Gesetz, das vom Kongreß verabschiedet wurde, verstoßen kann. Damit meint er das Gesetz, das als Reaktion auf die Annektierung der Krim-Region der Ukraine sämtliche militärischen Kontakte zu Rußland verbietet."

19. September 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang