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NAHOST/1520: Die Türkei greift PKK-Ziele in Syrien und Irak an (SB)


Die Türkei greift PKK-Ziele in Syrien und Irak an

Sultan Erdogan läßt die Muskeln im benachbarten Ausland spielen


Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nicht lange nach dem knappen Sieg beim Referendum am 16. April über eine von ihm vorangetriebene Verfassungsänderung gewartet, um außenpolitisch die Muskeln spielen zu lassen. Am 22. und 23. April haben türkische Kampfjets Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der nordwestirakischen Gebirgsregion Sindchar und der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) am Berg Karachok im Nordosten Syriens angegriffen. Bei der Aktion wurden mindestens 70 YPG-Kämpfer getötet. Im Irak starben sechs Mitglieder der kurdischen Peschmerga der Autonomieregion Nordirak, die unter der Herrschaft des konservativen Klanchefs Massud Barsani bekanntlich ein Verbündeter Ankaras sind, infolge des "friendly fire" der Türken. Über Verluste bei der PKK ist nichts bekannt.

Nachdem die von Erdogans AK-Partei gestellte Regierung in Ankara 2015 aus innenpolitischen Gründen den Friedensprozeß mit der PKK einseitig aufgekündigt hatte, hat sich der Osten der Türkei in eine Kriegszone verwandelt. Gleichzeitig macht die Türkei aus ihrer Ablehnung der Entstehung einer Autonomieregion für die syrischen Kurden keinen Hehl. Ankara sieht in der YPG eine Ablegerin der PKK. Deshalb läuft die Türkei seit Monaten gegen die Zusammenarbeit zwischen den Demokratischen Kräften Syriens (Syrian Democratic Forces - SDF), deren Kämpfer mehrheitlich der YPG angehören, und den USA Sturm. Washington dagegen schätzt die Kampffähigkeit der SDF, hält ihnen den Rücken frei und will mit ihnen zusammen demnächst die Stadt Rakka, seit Jahren die wichtigste Hochburg der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) in Syrien, befreien. Aktuell rücken SDF-Kämpfer mit schwerem Kriegsgerät aus amerikanischer Produktion und begleitet von US-Spezialstreitkräften auf Rakka zu. Ohne die Luftunterstützung der Amerikaner hätten die syrischen Kurden 2015 die Belagerung ihrer eigenen Hochburg Kobane durch den IS vermutlich nicht überwunden.

Als im Sommer 2015 die YPG immer weiter nach Westen vordrangen und ihren Vormarsch auch am Westufer des Euphrat fortsetzte, war für Ankara die rote Linie überschritten. Unter dem Namen Operation Euphratschild marschierten vom Norden her mehrere Tausend türkische Soldaten in Syrien ein und drängten mit Hilfe von islamistischen Dschihadisten, die sich als "gemäßigte" Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) ausgaben, die YPG zurück. Zumindest konnte die Nachschublinie zwischen der Türkei und den Rebellengebieten im Osten der damals noch schwer umkämpften syrischen Handelsmetropole Aleppo aufrechterhalten werden. Als jedoch im Januar 2017 die Syrische Arabische Armee (SAA) mit Hilfe Rußlands und des Irans Aleppo wieder unter ihre Kontrolle brachte, blieb der Türkei nichts anderes übrig, als sich an den von Moskau organisierten Friedensgesprächen für Syrien in der kasachischen Hauptstadt Astana zu beteiligen. Die Tatsache, daß hinter dem Putschversuch gegen Erdogan im Juli 2016 die CIA steckte und daß Wladimir Putin den türkischen Amtskollegen rechtzeitig vor der bevorstehenden Aktion warnte, hat ebenfalls zur Abwendung Ankaras von Washington hin zu Moskau beigetragen.

Die massive Militäroperation zur Vertreibung des IS aus Mossul, der Hauptstadt der nordirakischen Provinz Ninawa, die bisher Tausende Menschenleben gekostet und Hunderttausende Zivilisten zu Flüchtlingen gemacht hat, die bevorstehende Offensive von den SDF und den US- Streitkräften gegen Rakka und die geplante Abhaltung eines Referendums über die Unabhängigkeit eines irakischen Kurdistans hat Erdogan zum Handeln gezwungen. Seit den Luftangriffen auf die YPG in Karachok und die PKK in Sindchar liefern sich die türkischen Streitkräfte an mehreren Stellen entlang der Grenze zu Syrien Artillerieduelle sowohl mit der SAA als auch mit kurdischen Rebellen. Bei den Kämpfen sollen allein am 28. April elf YPG-Kämpfer getötet worden sein. Mit einer Wiederaufnahme von Operation Euphratschild, natürlich unter einem neuen Namen, wird gerechnet. Schließlich halten sich nach wie vor rund 4000 schwerbewaffnete türkische Soldaten im Norden Syriens auf.

Am 3. Mai triff Erdogan Putin im russischen Badeort Sochi am Schwarzen Meer. Zwei Wochen später ist er bei Donald Trump zu Gast im Weißen Haus. Bei beiden Konsultationen steht Syrien auf Platz eins der Tagesordnung. Die Türkei hat dem neuen US-Präsidenten beim Konstrukt des Propagandavorwands für die Raketenangriffe des Pentagons am 6. April auf einen Luftwaffenstützpunkt der SAA in der Provinz Idlib - nämlich mittels des Vorwurfs der Verwendung von Giftgas gegen die Rebellen - stark geholfen. Türkische Ärzte behaupten, im Blut mehrerer Todesopfer sarin-ähnliche Stoffe entdeckt zu haben. Doch weder Putin noch Trump zeigt irgendeine Bereitschaft, sich auf den dringendsten Wunsch Erdogans, daß einerseits Moskau das "Regime" Baschar Al Assad und andererseits Washington die SDF samt YPG fallenläßt, eingehen zu wollen. Um sich Gehör im syrisch-irakischen Kriegschaos zu verschaffen, bleibt der Türkei offenbar nichts übrig, als die eigenen Waffen sprechen zu lassen. Ob Ankara auf dem militärischen Weg seine Position in Syrien und im Irak verbessern kann, muß sich aber erst zeigen.

29. April 2017


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