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NAHOST/1534: Erdogan-Gülen-Konflikt - Grundspaltung und Geschichte ... (SB)




Daß ein Staatsoberhaupt tausende Beamte, Polizisten, Soldaten aus dem Staatsdienst suspendiert oder verhaften läßt und damit möglicherweise auf Jahrzehnte hinaus die staatlichen Strukturen aushöhlt bzw. Journalisten, Anwälte und Kulturschaffende unter Anklage stellt, als stünde er im Krieg gegen die eigene Bevölkerung, wäre in diesem Ausmaß selbst für ein autoritäres Regime ungewöhnlich. Was treibt einen Staatsführer zu einem solchen radikalen Schlag und nahezu beispiellosen Repressionsdruck gegen die tragenden Stützen der Zivilgesellschaft? Wollte man nicht eine komplette Irrationalität unterstellen, scheint das naheliegendste Motiv noch zu sein, daß er nichts so sehr fürchtet wie die sprichwörtliche Natter im Nacken.

Erklärtermaßen ist der Islamprediger Fethullah Gülen für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan so etwas wie der Teufel in Person. Als mutmaßlicher Drahtzieher hinter dem mißlungenen Militärputsch vom 15. Juli 2016 gilt er für Erdogan ohne jeden Zweifel als Staatsfeind Nummer eins. Erwartungsgemäß hat der Westen die Massenverhaftungen in der Türkei als eklatanten Bruch mit den Richtlinien eines demokratischen Rechtsstaats verurteilt. Angesichts der Plötzlichkeit und bis auf den heutigen Tag nicht wirklich geklärten Umstände des Staatsstreiches war es mehr als verwunderlich, daß die europäischen Regierungsvertreter binnen weniger Tage Gülens religiöse Hizmet-Bewegung von jedem Verdacht einer Beteiligung an der Militärrevolte freisprachen. War die Vorstellung zu absurd, daß ein Prediger des Dialogs der Religionen, ein Humanist im Geiste und selbsterklärter Menschenfreund für ein derartiges Staatsverbrechen verantwortlich sein könnte? Bei den arabischen Muslimbrüdern zeigte sich der Westen weniger zimperlich. Auch daß Gülen in vergleichsweise kurzer Zeit ein weltumspannendes Netz von Nachhilfezentren als auch Privatschulen und -universitäten mit dem Ziel aufgebaut hatte, vor allem künftige akademische Eliten religiös zu indoktrinieren, und in der gleichen Zeit das mächtigste Medienimperium der Türkei schuf, daß bereits ein Verfahren wegen Infiltrierung der verfassungsmäßigen Organe des türkischen Staatswesens gegen ihn vor Gericht eröffnet wurde, konnte den Freibrief aus dem Westen nicht um die Breite eines Haares erschüttern.

Da schien es fast schon verschwörungstheoretisch glaubhafter zu sein, daß der dilettantische Umsturzversuch eher in die Richtung eines vom Staatspräsidenten inszenierten Putsch-Theaters ging, um so letzte Gegner im Militärapparat, aber insbesondere unliebsame Kritiker und Oppositionelle, die seinen Islamisierungskurs seit langem anprangerten, aus dem Verkehr zu ziehen. Jedenfalls hatten sich die Boulevardpresse als auch linke Publikationen im Westen sehr schnell darauf eingeschossen, in Erdogan einen mutwilligen Feind der Demokratie, einen Autokraten, Diktator und Totengräber der säkularen Türkei zu sehen. Daß auf diesem Wege allen kritischen Fragen hinsichtlich einer Verstrickung Gülens in diesen Akt versuchter Machtübernahme der Boden entzogen wurde, versteht sich von selbst. Bezeichnend war in diesem Sinne auch das geradezu untypische Lavieren westlicher Politiker. Statt der Türkei in den kritischen Stunden Beistand zu versichern, was bei einem NATO-Partner eine selbstverständliche Reaktion sein müßte, fiel der Ton eher unterkühlt bis distanziert, jedenfalls fernab jeder Bündnistreue aus.

Daß Erdogan kein Musterbeispiel eines Demokraten ist, bedarf keiner Expertise. Sein Weg vom Oberbürgermeister Istanbuls zum Kopf der AKP, vom reformwilligen Ministerpräsidenten, der in dieser Phase seiner Regierungszeit von Europas Politelite in ein Bad von Lobeshymen getaucht wurde, dann aber in einen schlechten Leumund geriet, als er sich ohne Absprache mit der EU und NATO in den Syrienkonflikt einmischte und zumindest eine zweifelhafte Rolle bei der Bekämpfung des IS spielte, hat die Türkei weiter weg von Europa geführt als je zuvor. Nicht nur auf internationalem Parkett, auch innenpolitisch verschärft sich die Krise, seit Erdogan als oberster Staatslenker, nunmehr ausgestattet mit umfangreichen Präsidialbefugnissen, im Lager seiner Kritiker mit eisernem Besen kehrt. So hatte er schon im Vorwege zum Verfassungsreferendum die innertürkische Opposition von der republikanischen CHP bis zur prokurdischen HDP, deren Parlamentsvertreter in hoher Zahl samt Parteiführung unter fadenscheinigen Anschuldigungen inhaftiert wurden, praktisch ausgeschaltet.

Ob nun die geplante Wiedereinführung der Todesstrafe oder die zunehmende Islamisierung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, die Bevölkerung der Türkei ist mittlerweile quer durch alle Gesellschaftsschichten entzweit und zerstritten. Auch die lang ersehnte, längst überfällige Lösung der Kurdenfrage dürfte, zumal selbst die kleinste politische Perspektive vom Horizont verschwunden ist, als unverhandelbar zu den Akten gelegt sein. Nicht weniger gravierend für den inneren Frieden ist die kaum zu beziffernde Zahl an Menschenrechtsverletzungen, vor allem im Südosten der Türkei, als kurdische Städte und Dörfer vom Militär beschossen und in schier unwirtliche Mondlandschaften verwandelt wurden. Dies mit dem notorischen Verweis auf den Separatismus der PKK zu rechtfertigen, mutet schon deshalb aberwitzig an, weil der auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan dem türkischen Staat bereits vor Jahren die Hand zur Friedenslösung entgegengestreckt und dem bewaffneten Kampf abgeschworen hatte.

Erdogans Bestreben, die Macht der Kemalisten vor allem in Gestalt des von hohen Militärrängen beherrschten Nationalen Sicherheitsrats zu brechen, war durchaus rational begründet. Denn dieser hatte in der Vergangenheit Parteien, die aus Sicht der laizistischen Staatsdoktrin eine allzu islamische Agenda betrieben, oft willkürlich mit Verboten überzogen, was eine politische und pluralistische Kultur unmöglich machte, auf jeden Fall jedoch eine langfristige Regierungsarbeit zum Wohle der Nation hintertrieb. Doch dieser Erfolg hat inzwischen einen faden Beigeschmack bekommen. Seit sich Erdogan wie ein Sultan in seinem prunkvollen Osmanenpalast gebärdet und in seiner nicht nachlassenden Konfliktwütigkeit eine Machtpolitik ohne Pardon und Nuancen verfolgt, scheint der Riß zwischen den säkularen und konservatisch-islamischen Kräften innerhalb der türkischen Gesellschaft unkittbar geworden zu sein.

Obgleich Erdogan den Kernpunkt des Kemalismus, die Trennung von Staat und Religion, als historisch überholt verwirft und den Islam wieder zur bestimmenden Staatsreligion erheben möchte, nimmt er im Konflikt mit Gülens Hizmet-Bewegung auf eine bizarre Art und Weise einen genuin kemalistischen Standpunkt ein. Auch wenn ihm unstillbarer Machthunger nachgesagt wird, seine Fehde mit den Gülenisten steht im Zeichen der Verhinderung einer Unterwanderung des Staates durch eine radikalreligiöse Organisation, ganz wie aus dem Lehrbuch der Kemalisten seit der Republikgründung. Gleichwohl hat Erdogan nie einen Hehl daraus gemacht, daß für ihn Westorientierung nicht zugleich bedeutet, die kulturstiftende Tradition und Identität des Islam in der langen Geschichte der Türkei zu verleugnen. Innerhalb der Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) von Necmettin Erbakan, der 1996 und 1997 den Ministerpräsidenten stellte, gehörte Erdogan eher dem Reformflügel an. Als die RP 1998 wegen anti-laizistischer Umtriebe verboten wurde, gründete Erdogan 2001 die AKP als spätes sichtbares Zeichen für seine innere Abkehr von der Milli-Görüs-Bewegung, die Erbakan 1969 mit dem Ziel ins Leben gerufen hatte, die Türkei auf politischem Wege in einen islamistischen Staat zu verwandeln.

Die im Westen in den letzten Jahren auf Biegen und Brechen verbreitete Verleumdungskampagne, Erdogan sei vom seinem Wesen her ein unverbesserlicher Islamist und daher bestrebt, mit dem Laizismus im gleichen Zuge die demokratischen Errungenschaften Atatürks abzuschaffen, wird seiner fast schon historischen Rolle in der aktuellen Krisenzeit der Türkei nicht gerecht. Um den erbitterten Widerstreit zwischen Erdogan und Gülen in seinen Grundzügen zu verstehen, kommt man nicht umhin, zu den Wurzeln des alten Konflikts in der Türkei zwischen den säkularen Kräften, deren Modernitätsverständnis sich an der europäischen Zivilisation orientiert, und konservativ-islamischen Bewegungen mit ihren altorientalischen Herrschaftsformen vorzudringen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, wer von beiden, Gülen oder Erdogan, der Gefährlichere ist für den Fortbestand der türkischen Nation im geostrategischen Minenfeld der Machtblöcke und Hegemonialinteressen, keineswegs abwegig oder irrelevant.

Sperrfeuer aus dem Sufitum

Studien zufolge habe eine über Jahrzehnte hinweg fehlgeleitete Politik der Kemalisten zu einer Verarmung großer Bevölkerungsteile in der Türkei geführt, was Aufstieg und Politisierung islamistischer Gruppen befördert habe. Dieses Erklärungskonstrukt, das mit dem sozialpolitischen Abrieb kemalistischer Reformen und Prinzipien argumentiert, weist in seinen Kernpunkten jedoch Brüche auf. So hat die Einparteienherrschaft der CHP nur bis 1950 gewährt. Danach spielte die sogenannte Atatürk-Partei bis auf kurzlebige Perioden durchweg die Rolle der Opposition und scheiterte einmal sogar an der Zehnprozenthürde. Überdies hat das Aufkommen islamistischer Bewegungen schon in der Frühzeit der türkischen Republik eingesetzt. Auch entsprang der Impuls zur Rückbesinnung auf religiöse Traditionen und Lebensweisen nicht, wie oftmals kolportiert, dem zivilen Unmut der anatolischen Landbevölkerung, die angeblich zur Scharia-Gesetzgebung zurückkehren wollte. Hinter der Dynamik zur Reislamisierung standen vielmehr elitäre Kreise innerhalb verschiedener Sufi- bzw. Derwisch-Orden, die seit alters her im Osmanischen Reich ein festes Bündnis mit der Staatsmacht geschlossen hatten und so großen Einfluß auf die Politik der Hohen Pforte ausübten. Ihre Funktion innerhalb der feudalen Strukturen bestand nicht unwesentlich darin, der osmanischen Kolonisation den Weg zu bereiten.

Entgegen der landläufigen Sicht von einem Leben in selbstgewählter Armut und mystischer Gottessuche waren die Derwisch-Bruderschaften unter den Osmanen vor allem in den urbanen Zentren und religiösen Hochburgen Istanbul und Konya zu unvorstellbarem Reichtum gelangt. Ihre Staatsnähe und Stimme in den Schlüsselpositionen der Macht nutzten sie vor allem dazu, Reformen in Verwaltung, Justiz und Militär zu hintertreiben, sofern diese gegen ihre Interessen und Machtansprüche verstießen. Indem sie die muslimische Gesellschaft unter das Joch subalterner Frömmigkeit trieben, gaben sie über Jahrhunderte islamischem Recht und den nach ihrer Lesart dem Koran entnommenen Botschaften fast schon einen institutionellen Charakter, der geeignet war, die sufische Tradition gegenüber der orthodoxen Sunna und den in ihren Augen schiitischen Ketzern als höchste aller islamischen Glaubensformen zu etablieren.

Schon in osmanischer Zeit hat es wiederholt Versuche gegeben, die infiltrative Macht der Sufi-Orden entweder zu brechen oder zu beschränken. Dies gelang bei bestimmten Orden wie den Bektaschi, deren seelsorgerischer Dienst die Janitscharen dazu antrieb, unerschrocken gegen ihre ungläubigen Feinde vorzugehen und dabei den Märtyrertod nicht zu fürchten. Als die Kerntruppen der osmanischen Armee dem Sultan gegenüber jedoch zu aufsässig wurden und notwendigen Militärreformen verweigernd im Wege standen, fiel ihre Vernichtung mit dem Ende der Bektaschi-Bruderschaften zusammen. Anders als in Europa, wo kirchliche Institutionen und staatliche Macht oft in harscher Konkurrenz zueinanderstanden und der Streit zwischen Krone und Hirtenstab durch die Säkularisierung zu Gunsten der weltlichen Herrscher entschieden wurde, kam es auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches zu keiner endgültigen Klärung der Machtfrage zwischen säkularen und religiösen Hierachien, auch deshalb nicht, weil der Sultan in seiner Person zugleich auch das Kalifenamt vereinte. Die Sufi-Orden konnten so auf Koexistenz und wechselseitigen Nutznieß gegründete operative Strukturen ausbilden und unter dem Deckmantel islamischer Traditionspflege weitreichende eigene Interessen verfolgen, bis ihnen Atatürk im Zeichen des laizistischen Staatsideals die Basis ihrer Machtpartizipation entzog.

Daß sich die Islamisten, vor allem nach Militärputschen, gerne als Opfer der türkischen Staatsgewalt präsentierten, bedient ein irreführendes Narrativ. Richtig ist allerdings, daß der kemalistische Staat in Konfliktzeiten islamistische Gruppen gegen revolutionäre linke Kräfte instrumentalisiert hat. Atheist zu sein war in der Türkei schon immer gefährlich, noch mehr galt dies für Kommunisten. Die rote Gefahr wurde nicht nur von Kemalisten beschworen. Nicht selten waren es Imame, die vor allem in die rückständigen schwarzen Türken auf dem Land den Keim der Aversion gegen die Gottlosigkeit der kommunistischen Lehre pflanzten. Die Religionsbehörde Diyanet zielte darauf, die Organisationen des politischen Islam zu kontrollieren, indem Imame nur im Staatsdienst eine Lehrbefugnis erhielten und sich Koranschulen so nicht zum Hort der Rebellion entwickeln konnten. Die Gegnerschaft zur republikanischen Staatsform bestand für radikalislamische Bewegungen jedoch immer. Solange sie die Massen im strikten Antikommunismus erzogen und halfen, den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten, drückte die Regierung ein Auge zu und sah auch darüber hinweg, wenn religiös-reaktionäre Kräfte die von der sunnitischen Hauptströmung des Islam abweichenden Ahmadiya und Aleviten unterdrückten.

Schritte in die Zukunft - Atatürks Zivilisationsprojekt

Als der Staatsgründer Mustafa Kemal 1923 die türkische Republik ausrief, war er sich der Dringlichkeit bewußt, daß die Türkei als Nation nur überleben würde, wenn sie sich gleichermaßen von den Fesseln der osmanischen Geschichte als auch der durch den Islam antizipierten Modernitätsfeindlichkeit befreite. Ob Atatürk im Grunde seines Herzens Atheist war, ist nicht bekannt. Jedenfalls hat er dem Alkohol reichlich zugesprochen. Sein fester politischer Wille, den Anschluß an den Westen auf allen Gebieten gesellschaftlicher Entwicklung und Technologie anzustreben, war nicht zuletzt Folge und Konsequenz seiner Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg. Als Offizier der osmanischen Armee hatte er sich vom hohen Organisationsgrad und Hegemonialstreben der westlichen Zivilisation überzeugen können, demgegenüber die islamische Welt nur die Rolle als potentielle Beute spielte.

Daß das Osmanische Reich in das Kanonengewitter der europäischen Mächte überhaupt hineingezogen wurde, obwohl der diplomatische Rahmen für eine Neutralitätserklärung durchaus bestand, war Enver Pascha zu verdanken, der sich als Kriegsminister entgegen der Mahnrufe eines Teils des jungtürkischen Offizierkorps, darunter auch Atatürk, auf die Seite der Mittelmächte schlug. Trotz des militärischen Erfolgs bei der Schlacht von Gallipoli und der Beruhigung an der Ostfront, als das Zarenreich durch die Oktoberrevolution aus der Weltgeschichte verschwand, war der Untergang des Vielvölkerstaats besiegelt, als die Briten in Palästina einmarschierten und der Bündnispartner Bulgarien kapitulierte, wodurch der Weg für notwendige Waffenlieferungen des Deutschen Reichs an die Osmanen versperrt war. Mit der von den Entente-Mächten zumindest geduldeten griechischen Invasion auf die Türkei im Jahre 1919 begann die große Stunde Atatürks, der den Widerstand gegen die Besatzung organisierte und als Präsident der Nationalversammlung in Ankara und als Oberbefehlshaber der türkischen Truppen die Griechen 1922 wieder aus Kleinasien vertrieb.

Auf die Ernennung Atatürks zum Staatspräsidenten folgte, angelehnt an europäische Vorbilder, die Modernisierung der Türkei. Aus Sicht Atatürks war ein radikaler Schnitt ohne Übergänge und Fristen, der die Strukturen und Institutionen der alten Ordnung wie in einem gordischen Knoten zerschlug, einzig zielführend, um auf Augenhöhe mit den Siegermächten der Entente verhandeln zu können. Nach der Abschaffung des Sultanats wurden bald darauf Derwischklöster und religiöse Gerichtshöfe geschlossen, das Amt des Kalifen 1924 aufgelöst und das Schulwesen einem Erziehungsministerium unterstellt. Der Herkulesaufgabe, aus dem osmanischen Untertanen einen mündigen Bürger zu machen, stand eine streng religiöse Lebensweise im Wege, die sich über Jahrhunderte zu einem jede Fortschrittlichkeit erstickenden Fatalismus verhärtet hatte. Diese Verkrustung wieder aufzubrechen machte ein Verbot der religiösen Bruderschaften und Orden, die unter den Osmanen zu einem wirksamen Machtfaktor geworden waren und dem Willen zum Aufbruch in eine neue Zukunft aufgrund ihrer religiösen Verhaftungen feindlich gegenüberstanden, unerläßlich. Atatürk wußte, daß die Geistlichkeit notfalls das Volk gegen seine Reformen aufwiegeln würde, weswegen er sie, wo nötig, bis aufs Blut verfolgte. Ein Zurück in die Fußstapfen des Islam hätte die junge Republik ihren äußeren Feinden preisgegeben und die Chance vertan, eine Souveränität wiederzuerlangen, die das Osmanische Reich schon lange vor seinem Zusammenbruch eingebüßt hatte. Der Weg von einem Offizier zu einem Staatsmann, auf dessen Schultern die Verantwortung für eine ganze Nation ruht, gestaltet sich nie reibungslos und ohne Verluste, doch die Zeit verlangte nach radikalen Schritten.

Wichtiger noch, als den Islam im Sinne eines strikten Laizismus aus dem öffentlichen Leben der Türkei zu verbannen, war es, den Menschen ein identitätsstiftendes Nationalgefühl zu geben. In der Abkehr vom osmanischen Vielvölkerstaat, der die inneren Konflikte zwischen den Ethnien und Religionen oft nur mit starker Hand und Repressionen bändigen konnte, war die türkische Identität zwar ein von oben verordnetes Regulativ, was Minderheitenrechte, aber keineswegs Eigenheiten regionaler Kultur und Tradition ausschloß. 1923 gab es in der Türkei nur noch eine Volkszugehörigkeit. So sollte denn auch der Stolz, Türke zu sein, keinen Blut-und-Boden-Nationalismus begründen, sondern dem in der Verfassung verankerten untrennbaren Volk die höchste Legitimität zusprechen. Daß Atatürk nicht dem dunkel-diffuse Herkunftslegenden mystifizierenden Turanismus anhing, weist in diese Richtung. Eine Balkanisierung, soviel ist sicher, wäre über kurz oder lang zum Sargnagel für die türkische Republik geworden. Vereinheitlichung war dennoch die Form, in die die junge Türkei gegossen werden sollte. Dazu gehörte auch das Türkische als Landes- und Amtssprache. Der schon 1925 vorgenommene Kalenderwechsel von der islamischen Jahreszählung zur christlichen Zeitrechnung als auch zehn Jahre später die Einführung des Sonntags zum arbeitsfreien Tag anstelle des für die Muslime heiligen Freitags und des lateinischen Alphabets 1928 bildeten unverzichtbare Eckpunkte im Generalplan der von Mustafa Kemal zügig vorangetriebenen Westorientierung. Die bis dahin an dem Koran orientierte Rechtsprechung wurde durch das Schweizer Zivilrecht, das deutsche Handelsrecht und das italienische Strafrecht ersetzt. Daß er den Koran ins Türkische übersetzen ließ und damit nachholte, was Martin Luther für die Deutschen geleistet hatte, war kein Bruch in seinem Fortschrittsdenken. Wenn die Türken schon den Koran in ihre Hände nahmen, sollte sie wenigstens wissen, was drinsteht. Dennoch konnte er sich nicht damit durchsetzen, daß in den Moscheen nicht mehr auf Arabisch, sondern auf Türkisch gebetet wurde.


Quellenangaben:

Ceyhun, Ozan, Politik im Namen Allahs:
https://issuu.com/aypa/docs/politik-im-namen-allahs

Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Die Fethullah-Gülen-Bewegung in Deutschland: https://www.bundestag.de/blob/415274/2af148cebcf872537ad7a68408bc6ba/wd-1-072-08-pdf-data.pdf

Agai, Bekim, Fethullah Gülen - Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker?: https://de.qantara.de/inhalt/fethullah-guelen-ein-moderner-tuerkisch-islamischer-reformdenker?

Ghadban, Ralph, Die Sufi-Dimension der Gülen-Bewegung: http://www.ghadban.de/de/wp-content/data/die-sufi-dimension-der-gülen-bewegung1.pdf

9. Juli 2017


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