Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1543: Zerstörung Mossuls symbolisiert das Ende des Iraks (SB)


Zerstörung Mossuls symbolisiert das Ende des Iraks

Kein Ende des interkonfessionellen Grauens im Zweistromland in Sicht


Ende Juni hat der irakische Premierminister Haider Al Abadi die Zurückeroberung von Mossul, nach Bagdad die zweitgrößte Stadt des Iraks, verkündet. Bei der gigantischen Militäroperation, die im vergangenen Oktober begonnen hatte, sollen rund 10.000 Kämpfer der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS), welche die Hauptstadt der mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinz Ninawa seit Juni 2014 besetzt hielten, getötet worden sein. Doch der Preis dafür, die Kontrolle über Mossul zurückerlangt zu haben, dürfte sich als sehr hoch erweisen. Womöglich wird dieser Sieg als das Ereignis in die Geschichtsbücher eingehen, welches das eigentliche Ende des irakischen Staats markierte.

Weite Teile der einst zwei Millionen Einwohner zählenden Metropole am Euphrat sind aufgrund von wochenlangem Flächenbombardement und Artilleriebeschuß völlig zerstört. Wo sich einst die historische Innenstadt mit ihren engen Gassen und jahrhundertealten Häusern befand, findet man heute nur einen gigantischen Trümmerberg vor. Das Wahrzeichen Mossuls, die Große Moschee des Al Nuri mit ihrem im 14. Jahrhundert gebauten Minarett namens Al Habda, "Der Bucklige", von wo aus im Juni 2014 IS-Chef Abu Bakr Al Baghdadi das Kalifat ausgerufen hatte, existiert nicht mehr. Die berühmten Bauwerke haben die IS-Dschihadisten in der letzten Phase der Kämpfe in die Luft gejagt, um dem Gegner den Sieg zu vergällen.

Am 19. Juli berichtete im Londoner Independent der langjährige Kriegskorrespondent Patrick Cockburn nach einem Besuch in der Region, daß kurdische Militärauswerter die Zahl der beim Kampf um Mossul getöteten Zivilisten auf 40.000 bezifferten. Als Hauptquelle dieser schockierenden Information nannte Cockburn den kurdischen Politiker Hoshyar Zebari, der dem Irak in den letzten Jahren verschiedentlich als Außen-, Finanz- und Stellvertretender Premierminister gedient hat. Die Nachricht von den ungeheuren Verlusten seitens der Zivilbevölkerung bei der Schlacht um Mossul ist in den westlichen Medien auf keine nennenswerte Resonanz gestoßen, vielleicht deshalb, weil an der Operation neben der regulären irakischen Armee, schiitischen Milizionären und sunnitischen Stammeskämpfern auch die Luftwaffe und Spezialstreitkräfte der USA beteiligt waren. Vermutlich wird man niemals genau wissen, wie viele Zivilisten und IS-Kämpfer bei der Belagerung und Einnahme von Mossul ums Leben kamen. Derzeit sind zahlreiche Planierraupen dabei, den Schuttberg samt den zahlreichen darin verborgenen Leichen plattzuwalzen.

Aktuell sieht die Lage in und um Mossul absolut düster aus. Hunderttausende Flüchtlinge, die in provisorischen, schlecht versorgten Zeltstädten wohnen, können nicht heimkehren, weil es ihre früheren Häuser nicht mehr gibt. Armeeangehörige und schiitische Milizionäre nehmen männliche sunnitische Stadtbewohner fest und trennen sie von ihren Familien, um sie wegen des Verdachts der IS-Mitgliedschaft zu überprüfen. Zahlreiche Festgenommene kehren von der Prozedur nicht lebend zurück, ihre geschundenen Leichen tauchen später im Euphrat auf. Eine Welle an Vergeltungsaktionen, wie sie die sunnitische Bevölkerung nach der Rückeroberung Tikrits, Ramadis und Falludschas ertragen mußte, zeichnet das Leben in und um Mossul aus und trägt am allerwenigsten dazu bei, ein harmonisches Miteinander von Sunniten und Schiiten herbeizuführen.

In einem Interview, das mit Muktada Al Sadr an dessen Wohnsitz in der schiitischen Pilgerstadt Nadschaf geführt wurde und am 30. Juli bei der Onlinezeitung Middle East Eye erschienen ist, hat der einstige Radikalprediger vor den Folgen einer Fortsetzung des sunnitisch-schiitischen Bürgerkriegs im Irak gewarnt. Noch im April hatte Al Sadr, der einer langen Linie einflußreicher schiitischer Gelehrter entspringt, die Auflösung der schiitischen Milizen und ein Gewaltmonopol der staatlichen Streitkräfte gefordert. Gegenüber MEE erklärte Al Sadr: "Ich mache mir Sorgen, daß die Niederlage des IS nur der Anfang einer weiteren Phase ist. Der Vorschlag entspringt meiner Angst vor einem konfessionellen und ethnischen Konflikt nach der Befreiung Mossuls. Den will ich vermeiden. Ich bin auf die irakische Vielfalt sehr stolz, doch ich befürchte, daß wir einen Völkermord an einigen ethnischen und konfessionellen Gruppen erleben könnten."

Am Erscheinungstag des MEE-Interviews brach der unter den armen Schiiten sehr populäre 43jährige Al Sadr auf Einladung aus Riad zu seinen ersten Besuch Saudi-Arabiens auf. Am Flughafen von Dschidda wurde er von Thamer Al Sabhan empfangen, der im Februar als saudischer Botschafter im Irak wegen offener Kritik an den schiitischen Volksmobilisierungskräften des Landes verwiesen worden war. Später kam es zu einer Audienz Al Sadrs bei Kronprinz Mohammad, dem 30jährigen saudischen Verteidigungsminister und designierten Nachfolger des erkrankten König Salman.

Obwohl Al Sadr Ende der Nuller Jahre seine religiösen Studien in der iranischen Pilgerstadt Ghom absolviert hat, gilt er als irakischer Nationalist und Gegner eines allzu starken Einflusses des Irans im Zweistromland. Mit dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins 2003 verloren die Sunniten ihre Vormachtstellung im irakischen Staatswesen. Seitdem hat die schiitische Mehrheit in Bagdad das Sagen. Als Premierminister von 2006 bis 2014 hatte Nuri Al Maliki enge Verbindungen zum Iran gepflegt. Der umtriebige Chef der schiitischen Dawa-Partei ist heute Stellvertretender Präsident und nutzt von diesem Posten aus jede Gelegenheit, die Position seines Nachfolgers als Premierminister Al Abadi zu torpedieren. Interessanterweise war Al Maliki Ende Juli nach Moskau gereist, wo er unter anderem Gespräche mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow führte.

Al Maliki und Al Sadr führen seit längerem einen Kampf um die Macht im Lager der irakischen Schiiten. Während sich Al Maliki mit Teheran im Rücken zu einer echten Inklusion der Sunniten in das politische Leben des Iraks der Nach-Saddam-Hussein-Ära als unfähig erwiesen hat, tritt Al Sadr für die konfessionelle Versöhnung ein, um die staatliche Einheit des Landes doch noch zu retten. Die Gefahr eines Auseinanderbrechens des Iraks scheint Al Maliki nicht sonderlich zu kümmern. Womöglich sieht er sich bereits als Anführer eines zwar formell unabhängigen, aber nach Teheran ausgerichteten schiitischen Staates auf dem Territorium des heutigen Südiraks. Die Reise Al Sadrs nach Dschidda spricht für dessen Bemühungen um eine Dämpfung der konfessionellen Spannungen im Irak sowie rund um den Persischen Golf. Doch solange sich Saudi-Arabien und der Iran feindlich gegenüberstehen und Washington einen "Regimewechsel" in Teheran anstrebt, gehen die Chancen auf ein Abflauen der Gewalt im Irak gegen null. Schlimmer noch - sollte die neue US-Regierung von Donald Trump wie angedroht das seit 2016 bestehende Atomabkommen mit dem Iran aufkündigen und zum Angriff übergehen, steht dem Nahen Osten ein Blutvergießen bevor, das die bisherigen Kriege im Irak, Syrien und im Jemen in den Schatten stellen wird.

3. August 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang