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NAHOST/1621: Syrien - Israel schießt quer ... (SB)


Syrien - Israel schießt quer ...


Nur wenige Stunden nachdem sich in Sotschi Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan auf die Einrichtung einer 15 Kilometer breiten demilitarisierten Zone in der Provinz Idlib, der letzten Rebellenhochburg in Syrien, geeinigt hatten, kam es an der syrischen Mittelmeerküste zu einem hochbrisanten Vorfall, der die Bemühungen der Präsidenten Rußlands und der Türkei um eine Beendigung des Syrienkriegs zunichte zu machen drohte. Bei einem israelischen Luftangriff auf Ziele in den beiden Hafenstädten Tartus und Latakia wurde eine russische Aufklärungsmaschine abgeschossen, die daraufhin ins Mittelmeer stürzte. Alle 15 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Nun fragen sich alle Beobachter, wie es zum Abschuß der Iljuschin-20M durch eine S-200-Rakete der syrischen Luftabwehr kommen konnte und welche Folgen das tödliche Ereignis haben könnte.

Im Vorfeld der erwarteten und quasi in letzter Minute von Moskau und Damaskus abgeblasenen Großoffensive zur Rückeroberung von Idlib war vielfach von einem möglichen "Giftgasanschlag" die Rede. Die Regierungen der USA, Frankreichs und Großbritanniens behaupteten, im Besitz von Hinweisen auf den bevorstehenden Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die Syrische Arabische Armee (SAA) zu sein und drohten mit eventuellen militärischen Vergeltungsmaßnahmen. Ihrerseits berichteten Moskau und Damaskus von angeblichen Vorbereitungen der Rebellen sowie westlicher Geheimdienste in Idlib für eine Falsche-Flagge-Operation, welche den Streitkräften der USA, Frankreichs, Großbritanniens und eventuell Deutschlands in der Region einen Vorwand zum Großangriff auf die SAA liefern sollte, um deren Vormarsch in Idlib zu stoppen - offenbar mit dem Ziel, den Syrienkrieg noch weiter am Leben zu erhalten. Das Säbelrasseln ging so weit, daß US-Präsident Donald Trump und seine UN-Botschafterin Nikki Haley mit einer massiven Gegenreaktion drohten, falls die Zivilbevölkerung in Idlib unter den Luftangriffen und dem Artilleriebeschuß auf Rebellenziele dort zu stark in Mitleidenschaft gezogen würde.

Bereits im August hatte James Jeffrey, der neue, von Außenminister Mike Pompeo ernannte Sondergesandte der USA für Syrien, eine Kehrtwende der bisherigen Politik Washingtons verkündet. Hatte Trump nach dem Einzug ins Weiße Haus im Januar 2017 wiederholt den Wunsch geäußert, die 2.500 im Osten Syriens illegal stationierten US-Soldaten nach Hause zu holen, ließ Jeffrey, der unter George W. Bush und Barack Obama Botschafter in der Türkei respektive dem Irak gewesen ist, die Welt wissen, daß die amerikanischen Streitkräfte im syrischen Kurdengebiet sowie in Al Tanf nahe des strategisch wichtigen Länderdreiecks Syrien-Irak-Jordanien es mit ihrer Anti-IS-Mission "nicht eilig" hätten, sondern diese "bis auf weiteres" fortsetzen würden. Jeffrey kündigte an, die US-Streitkräfte würden in Syrien bleiben, bis alle iranischen Soldaten und Militärberater nach Hause zurückgekehrt seien und eine "stabile Ordnung" - das heißt natürlich ohne Präsident Baschar Al Assad und sein "Regime" - errichtet wäre.

Wie virulent die alten Regimewechselpläne Hillary Clintons trotz ihrer Niederlage bei der US-Präsidentenwahl 2016 sind, zeigten nicht nur die Äußerungen Jeffreys, sondern auch zwei hochaggressive Beiträge in der New York Times, dem wichtigsten Sprachrohr des US-Imperialismus, am 14. September. Während im Leitartikel die NYT-Chefredaktion die "humanitäre Katastrophe" beklagte, die im Norden Syriens angeblich bevorstand, forderte der neokonservative Kolumnist Bret Stephens eine großangelegte Militärintervention dort unter der Überschrift "Um den Iran mattzusetzen, rettet Idlib". Um eine erfolgreiche Großoffensive der SAA in Idlib zu verhindern, sollten die US-Streitkräfte "alles, was von der syrischen Luftwaffe übrig geblieben ist, zerstören und die Start- und Landebahnen, welche der Iran zur Versorgung seiner eigenen Truppen benutzt, zerbomben". Sollte sich Assad danach weiter regen, sollten seine Präsidialpaläste als nächstes dran sein. Danach Assad selbst. Bis dahin hätte man ihm Warnungen genug zukommen lassen, so der ehemalige Chefredakteur der Jerusalem Post.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich eine beachtliche NATO-Seestreitmacht, bestehend aus amerikanischen, britischen, französischen, kanadischen und griechischen Kriegsschiffen, im östlichen Mittelmeer in Position gebracht. Auch auf den Luftwaffenstützpunkten der Amerikaner am Persischen Golf sowie der Briten auf Zypern standen westliche Kampfjets und Bomber zum Einsatz in Syrien - diesmal nicht gegen die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS), sondern gegen die SAA sowie deren iranischen und russischen Verbündeten - bereit. Doch die Vereinbarung von Sotschi, mittels derer Erdogan bis zum 15. Oktober Zeit gewonnen hatte, um die Rebellen in Idlib teilweise zu entwaffnen sowie die "Gemäßigten" von den "Extremisten" zu trennen, hat der NATO den Wind aus den Segeln genommen.

Nur vor diesem Hintergrund ist der israelische Luftangriff, wenige Stunden nachdem Putin und Erdogan in Sotschi vor die Weltpresse getreten waren, um das überraschende Ergebnis ihrer Beratungen zu präsentieren, überhaupt zu verstehen. Dem israelischen Verteidigungsministerium zufolge galten die Raketenangriffe einem Institut in Latakia, wo hochmoderne Waffen für die Iraner bzw. der schiitisch-libanesischen Hisb-Allah-Miliz entweder entwickelt oder gelagert wurden. Mit ähnlichen Argumenten hat Israel die rund 200 Luftangriffe, die seine Kampfjets in den letzten 18 Monaten in Syrien - wie zuletzt auf ein Gebäude auf dem Areal des internationalen Flughafens von Damaskus am 15. September - durchgeführt haben, begründet. Wie dem auch sei. Interessant am Vorfall von Latakia ist der Umstand, daß nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums auch die französische Fregatte Auvergne Raketen auf Ziele an der syrischen Küste abgefeuert hat, was den Schluß nahelegt, daß es sich hier nicht um eine reine Anti-Iran-Aktion handelte.

Ob der Abschuß der Iljuschin-20M als Teil der Provokation geplant war oder einfach in der Hitze des Gefechts erfolgte, wird man möglicherweise niemals erfahren. In einer ersten Stellungnahme hat am Vormittag des 18. September Igor Konaschenkow, der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskaus, den Piloten der vier israelischen Kampfjets vorgeworfen, sich radartechnisch hinter der russischen Propellermaschine bei ihrem Landeanflug auf den Fliegerhorst Hmeimim versteckt und damit die Iljuschin-20M gezielt "in die Schußlinie" des syrischen Luftabwehrsystems gebracht zu haben. In einem Telefonat mit Amtskollege Avigdor Lieberman warf der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigiu den Israelis "unverantwortliches Handeln" sowie eine Nicht-Einhaltung der bilateralen Absprachen für den syrischen Luftraum vor. Angeblich hätte das israelische Militär die russischen Stellen in Syrien erst eine Minute vor Beginn des Raketenangriffs überhaupt darüber in Kenntnis gesetzt und diesen damit nicht genug Zeit gegeben, entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

Mit einem eigenen Telefongespräch mit Putin wenig Stunden später ist es Benjamin Netanjahu gelungen, die Wogen etwas zu glätten. Israels Premierminister hat zwar behauptet, daß die israelischen Kampfjets längst wieder im eigenen Luftraum gewesen seien, als der Abschuß der syrischen Rakete auf das russische Spionageflugzeug erfolgt ist, gleichzeitig hat er sein Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck gebracht, sein tiefstes Beileid für die Angehörigen der Getöteten bekundet und angeboten, den eigenen Luftwaffenchef nach Moskau zu schicken, um den Ablauf der Vorgänge in allen Einzelheiten aufzuklären. Am Abend bei einer Pressekonferenz im Kreml mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán sprach Putin von einer "Kette tragischer Umstände", die zu dem Unglück von Latakia geführt hätte. In dieser Situation demonstriert Rußland Besonnenheit und Umsicht. Eine Überreaktion dürfte genau das sein, was Putins und Assads Feinde wollten. Im Syrienkrieg hat der Kreml durch die Einigung mit Ankara in der Idlib-Frage einen weiteren Etappensieg erzielt, den er offenbar durch ein Überbewerten des Vorfalls von Latakia nicht zu verspielen gedenkt.

19. September 2018


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