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NAHOST/1714: Israel - Netanjahu beherrscht das politische Geschäft ... (SB)


Israel - Netanjahu beherrscht das politische Geschäft ...


Nach drei Knessetwahlen innerhalb eines Jahres und wochenlangen zähen Verhandlungen, um eine neue Regierung zu bilden und einen vierten Urnengang zu vermeiden, hat sich in Israel politisch nichts zum Positiven verändert. Das Gegenteil ist der Fall. Israels politisches Geschehen wird weiterhin von Benjamin Netanjahu dominiert. Der 70jährige Netanjahu, der inzwischen Staatsgründer David Ben Gurion als Premierminister mit der längsten Amtszeit überholt hat, geht aus dem einjährigen Hickhack als ganz großer Sieger hervor. Die Opposition hat es nicht nur nicht geschafft, den Likud-Chef trotz der gegen ihn anhängigen Korruptionsverfahren zu stürzen, sondern ist selbst an dessen Gerissenheit und Überlebenswillen zerbrochen.

Bei der letzten Wahl am 2. März war der Likud zwar wieder stärkste Einzelfraktion in der Knesset geworden, doch hatte die Opposition mit 61 von 120 Sitzen eine Mehrheit der Sitze erhalten. Daraufhin beauftragte Präsident Reuven Rivlin Ex-Generalstabschef Benny Gantz vom Oppositionsbündnis Kahol Lavan (Blau-Weiß) mit der Regierungsbildung. Die seit zwölf Monaten versprochene neue Regierung ohne Beteiligung Netanjahus kam jedoch aus offen rassistischen Gründen nicht zustande. Die meisten Mitglieder von Gantz' 15köpfiger Fraktion Chosen LeJisa'el (Widerstandskraft für Israel) waren nicht bereit, einer Regierung anzugehören, die zum Überleben in der kommenden Legislaturperiode auf die ebenfalls 15 Stimmen der Gemeinsamen Liste, der Parteienallianz der arabischen Bürger Israels, angewiesen gewesen wäre.

Daraufhin ist es zu der spektakulärsten Kehrtwende in der parlamentarischen Geschichte Israels gekommen. Gantz gab am 26. März den Auftrag zur Regierungsbildung zurück und erklärte sich zur Bildung einer Notstandsregierung zusammen mit dem Likud und seinem angeblichen Erzfeind Netanjahu bereit. Am folgenden Tag ließ sich Gantz sogar vorübergehend zum Parlamentssprecher wählen, um die drohende Verabschiedung eines Gesetzesentwurfs der Opposition zu blockieren, der eine Aufhebung der Immunität Netanjahus vorsah. Dieser hätte sich dann vor Gericht verantworten müssen, was ihn zum Rücktritt aus der aktiven Politik gezwungen hätte. Zusammen haben diese beiden Schritte zum Platzen des Blau-Weiß-Bündnisses geführt. Jair Lapid von der liberalen Jesch Atid und Mosche Jaalon von der Erneuerungsbewegung Telem werfen Gantz seitdem vor, ein Verräter und Wendehals zu sein. Atid und Jaalon wollen fortan unter der ramponierten Marke Blau-Weiß zusammen mit der arabischen Gemeinsamen Liste und der säkular-nationalistischen Jisra'el Beitenu um Avigdor Lieberman von den Hinterbänken aus Oppositionsarbeit leisten.

Weil keiner der beiden Rivalen dem anderen über den Weg traut, haben die Verhandlungen zwischen Netanjahu und Gantz um die Bildung der neuen Regierung fast einen Monat gedauert. Herausgekommen ist am 20. April eine 14seitige Vereinbarung, die mit juristischen und politischen Winkelzügen nur so gespickt ist. Da bereits ein Jahr seit dem Ende der letzten Legislaturperiode vergangen ist, wird Netanjahu für die nächsten 18 Monate Premierminister und Gantz sein Stellvertreter und Verteidigungsminister. Die darauffolgenden eineinhalb Jahre soll dann Gantz Premierminister sein, wobei unklar ist, welches Amt Netanjahu in dieser Zeit bekleidet. In den ersten sechs Monaten dürfen nur Gesetze, die mit der Bewältigung der Corona-Virus-Krise oder der Annexion palästinensischen Gebietes im Westjordanland nach Maßgabe von US-Präsident Donald Trumps "Deal des Jahrhunderts" zusammenhängen, behandelt und verabschiedet werden. Kritiker sehen darin einen autoritären Schritt in Richtung einer gestärkten exekutiven Macht bei gleichzeitiger Schwächung der Beratungs- und Kontrollfunktion der Knesset.

Israels Steuerzahler wird Netanjahus "Rettungsboot" teuer zu stehen kommen. Mit 36 Ministern und Staatssekretären wird die neue Koalition die größte Administration in der Geschichte Israels. Hinzu kommt, daß viele Mitstreiter von Netanjahu und Gantz sowie die Anhänger der religiös-orthodoxen Parteien und von Naftali Bennetts rechtsradikaler Gruppierung Yamina, die ein Regierungsamt erhalten, ihr Abgeordnetenmandat aufgeben wollen, damit ein Parteikollege für sie nachrückt und in den Genuß einer Knesset-Diät kommt. Der Likud hat auf den Posten des Justizministers verzichtet. Dafür darf Netanjahu die Zusammensetzung jenes Gremiums, das den Posten des leitenden Staatsanwalts sowie die Sitze im Obersten Gerichtshof besetzt, bestimmen. Damit sorgt der trickreiche Likud-Vorsitzende, der sich seit Jahren als unschuldiges Opfer einer Rufmordkampagne der liberalen Meinungselite darstellt und die Korruptionsvorwürfe gegen seine Person durch alle Instanzen durchzufechten beabsichtigt, für einen Freispruch am Ende des juristisches Zirkusses vor.

Darüber hinaus hat Netanjahu in die Regierungsvereinbarung einen Passus schreiben lassen, der Neuwahlen zwingend vorschreibt, sollte innerhalb der nächsten Monate seine Immunität doch noch durch widrige Umstände von irgendeiner Gerichtsinstanz - und sei es nur vorübergehend - aufgehoben werden. Für diesen Fall hat Gantz seinerseits erfolgreich darauf beharrt, daß er dann automatisch geschäftsführender Premierminister wird. Gantz hofft offenbar, daß der Aufstieg zum Regierungschef ihm bei der nächsten Knessetwahl helfen wird, die Millionen enttäuschten Wähler, die bei den letzten drei Urnengängen Blau-Weiß ihre Stimmen gegeben haben, um Netanjahu loszuwerden, zu versöhnen. Diese Hoffnung dürfte vergeblich sein. Gantz hatte sich mehr als zwei Jahre lang als Mann von Prinzipien verkauft, doch am Ende als Opportunist entlarvt. Diese Wandlung wird ihren Preis haben.

Beobachter gehen davon aus, daß Netanjahu irgendwann noch vor Ende seiner achtzehn Monate als alter und neuer Premierminister Neuwahlen herbeiführen wird - sei es freiwillig oder in Verbindung mit seinen zahlreichen Korruptionsanklagen. Aktuell präsentiert sich Netanjahu als sorgenvoller, handlungsfähiger Landesvater, der umsichtig seine Schutzbefohlenen durch die Covid-19-Epidemie bringt und dabei nicht vor Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch mit der palästinensischen Hamas-Bewegung im Gazastreifen zurückschreckt. Während Netanjahu demonstrativ den Auslandsgeheimdienst Mossad auf die weltweite Jagd nach Atemgeräten, Schutzkleidern und Atemschutzmasken schickt, steht Gantz als armseliger Steigbügelhalter eines Gegners da, den in die Wüste zu schicken er versprochen hatte, doch dem er am Ende nicht gewachsen war.

25. April 2020


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