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USA/1233: Daniel Ellsberg bezeichnet Obamas Kriegsstrategie als Betrug (SB)


Daniel Ellsberg bezeichnet Obamas Kriegsstrategie als Betrug

Amerikas berühmtester Friedensaktivist entlarvt das Blendwerk Obamas


Für Aufregung sorgte Barack Obama vor wenigen Tagen mit einem unangemeldeten Blitzbesuch in Kabul. Für den ehemaligen Senator aus Illinois war es das erste Mal in Afghanistan seit er vor 14 Monaten das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika von George W. Bush übernahm. In den amerikanischen Medien wird die Tatsache, daß sich Obama mit seiner erster Reise nach Afghanistan soviel Zeit gelassen hat, auf die Unzufriedenheit Washingtons mit Präsident Hamid Karsai zurückgeführt. Dem früheren CIA-Kontaktmann, der im letzten August unter dubiosen Umständen wiedergewählt wurde, wird angelastet, zu wenig gegen die bei der Regierung und den Behörden Afghanistans grassierende Korruption zu unternehmen und damit den Erfolg der Aufstandsbekämpfungsstrategie des Pentagons, die angeblich darauf hinausläuft, "die Herzen und Köpfe" der einfachen Afghanen zu gewinnen, zu gefährden.

Bei seiner kurzen Überraschungsvisite in Kabul in den frühen Morgenstunden des 28. Januar traf sich Obama mit Karsai und forderte von diesem auf der gemeinsamen Pressekonferenz größere Anstrengungen im Kampf gegen die Korruption. Danach setzte sich der Oberkommandierende der US-Streitkräfte mit seinem Botschafter in Kabul, Ex-General Karl Eikenberry, und dem ISAF-Oberbefehlshaber, US-General Stanley McChrystal, zu einer Lagebesprechung zusammen. In vergangenen November hat es Streß zwischen Eikenberry und McChrystal gegeben, nachdem eine vertrauliche Mitteilung des Botschafters, der selbst als Militär in Afghanistan gedient hatte, bekannt wurde, in der er die Eskalationsstrategie seines Kollegen als mißraten kritisierte. Als sich Obama dennoch zur Durchführung dieser Strategie entschied, stellte sich Eikenberry voll hinter die Pläne McChrystals, die eine Aufstockung der in Afghanistan stationierten US-Soldaten von derzeit rund 70.000 auf mehr als 100.000 Mann vorsehen. Mit dieser Aufstockung hofft man den Vormarsch der Taliban zu stoppen und diese entweder zur Kapitulation oder an den Verhandlungstisch zu zwingen, um dann Mitte 2011 - sozusagen nach vollendeter Mission - mit dem Abzug amerikanischer Soldaten beginnen zu können.

Vor diesem Hintergrund gehörte es einfach dazu, daß Obama bei seinem Aufenthalt in der afghanischen Hauptstadt seinen Männern und Frauen in Uniform einen kurzen Truppenbesuch abstattete, diese wegen ihres Einsatzes lobte und unter lautem Jubel verkündete, daß die USA nicht aus Afghanistan abziehen werden, solange sie dort nicht den Krieg gegen Al Kaida und ihre Verbündeten von den Taliban gewonnen und dem Land Sicherheit und einen gewissen Wohlstand gebracht haben.

In einem wirklich erhellenden Interview, das am 30. März von der angesehenen, linksliberalen US-Radiosendung Democracy Now! gebracht wurde und das auf deren Website in voller Länge nachzulesen ist, hat Daniel Ellsberg, Amerikas berühmtester Friedensaktivist, Obamas Kriegsstrategie in Afghanistan und im Irak analysiert und daran kein gutes Haar gelassen. Im Grunde genommen hat er Obama einen unverschämten Lügner genannt, dessen Versprechen, Amerikas Truppen so schnell wie möglich aus dem Zweistromland und vom Hindukusch nach Hause zu holen, nichts als Blendwerk sind.

Das Urteil des 78jährigen, ehemaligen Offiziers der US-Marineinfanterie läßt sich nicht einfach als Polemik abtun. Unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, im Auftrag von deren Verteidigungsminister Robert McNamara hat Ellsberg in den sechziger Jahren als ranghoher Pentagonmitarbeiter und RAND-Experte die militärische Lage in Vietnam bis ins kleinste Detail analysiert. Obwohl ursprünglich selbst ein Anhänger der "Domino-Theorie", wonach die USA den Kommunismus in Vietnam aufhalten müßten, wenn er sich in ganz Südostasien ausbreiten sollte, kam er durch seine Arbeit in Südvietnam zu dem Schluß, daß der Krieg nicht nur sinnlos, sondern auch nicht einmal zu gewinnen sei. Als er 1970 dem Kongreß und der New York Times die hochbelastenden "Pentagon-Papiere" über die wahre Geschichte des US-Engagements in Indochina zuspielte, verlieh dies der Antikriegsbewegung enormen Auftrieb. Henry Kissinger, damals Nationaler Sicherheitsberater, nannte Ellsberg den "gefährlichsten Mann Amerikas". Der von Präsident Richard Nixon in Reaktion auf die peinliche Veröffentlichung angeordnete Einbruch bei Ellsbergs Psychiater, um Material für eine Anklage wegen Staatsverrats in die Hand zu bekommen, gilt als Auftakt des späteren Watergateskandals.

Im Gespräch mit Amy Goodman und Anjali Kamat von Democracy Now! warf Ellsberg Obama vor, den gleichen Fehler wie seinerzeit Nixon zu machen, nämlich einen Krieg der Vorgängerregierung zu übernehmen, der nicht zu gewinnen ist, und diesen trotzdem aus Gründen der vermeintlichen Glaubwürdigkeit Amerikas eskalieren zu lassen. Für die Amerikaner und besonders für die Afghanen würden sich die Folgen dieser Entscheidung als "tragisch" erweisen, so Ellsberg. Obamas Forderung an Karsai nach Eindämmung der Korruption tat er als Augenwischerei ab, die lediglich Symbolcharakter habe. Er verglich Eikenberrys im letzten Jahr publikgewordene, realistische Einschätzung der desaströsen Lage in Afghanistan mit den Pentagon-Papieren und zeigte sich enttäuscht, daß Obama die Warnungen des eigenen Vertreters in Kabul in den Wind geschlagen hat. Die schärfsten Worte gab Ellsberg von sich, als Kamat ihn um seine Bewertung jener Eskalationsstrategie bat, die 2007/2008 unter US-General David Petraeus - jetzt CENTCOM-Chef - im Irak funktioniert haben soll und nun unter McChrystal in Afghanistan zur Anwendung kommt. Dazu Ellsberg:

Ich bin mit jener Aufstandsbekämpfungstheorie sehr vertraut, denn an genau der Strategie arbeitete ich viele Jahre in Vietnam. Mein Job dort bestand darin, den "Fortschritt" dieser Strategie - besser gesagt, den völligen Mangel an Fortschritt - zu messen. Zu diesem Zweck habe ich 38 von 43 Provinzen Südvietnams besucht und anschließend über den Stillstand dort berichtet. Obwohl McNamara die Berichte las und verstand, hielt man an der Legende vom "Fortschritt" fest, genau wie es heute Obama tut.

Es wird die Tatsache geflissentlich ignoriert, daß das wichtigste Rekutierungsargument unserer Gegner in Afghanistan die Anwesenheit ausländischer Soldaten ist. Und wenn wir die Zahl der Soldaten erhöhen, verstärken wir dieses Argument. Und mit jedem getöteten Gegner, der die Besatzer aus seinem Land verjagen wollte, und mit jedem Luftangriff auf irgendwelche Hochzeitsgesellschaften oder Trauerfeiern treiben wir nur noch mehr junge Männer in den Aufstand, so daß wir niemals gewinnen werden, egal was Präsident Obama sagt. Wenn er sagt, daß wir kurzfristig nicht aufgeben werden, hat er recht. Leider werden wir sogar viele Jahre dort sein.

Auch wenn es mir nicht leicht fällt, dies zu sagen, glaube ich, daß Präsident Obama in Bezug auf Afghanistan - wie übrigens auch auf den Irak - das amerikanische Volk genauso belügt, wie es die Präsidenten Kennedy, Johnson und Nixon, unter denen ich gedient habe, bezüglich Vietnam taten. Ich meine, daß das falsch ist, wenn er zum Beispiel erklärt, wie er es in seiner Rede zur Lage der Nation vor zwei Monaten tat, daß er alle US-Soldaten, nicht nur die Kampftruppen, bis Ende 2011 aus dem Irak abziehen wird, und daß er auch noch weiß, daß es falsch ist. Er hat weder einen Plan noch die Absicht, jemals alle von amerikanischen Soldaten und Söldnern betriebenen Basen im Irak zu räumen. Während Obamas zweiter Amtszeit, bzw. nachdem jemand anderes die Wahl 2012 gewonnen hat, wird sich herausstellen, daß wir künftig im Irak zwischen 30.000 und 50.000 Soldaten dauerhaft stationiert haben werden. Ich rede hier von langfristiger Planung, die auch die Zukunft unserer Kinder betrifft.

In der gleichen Rede zur Lage der Nation hat Obama den Schluß nahegelegt, daß es bei der Erhöhung der Zahl der in Afghanistan stationierten US-Soldaten um 30.000 bis 40.000 Mann auf rund 100.000 um eine einmalige Aufstockung handelt. Und das trotz der Tatsache, daß Botschafter Eikenberry ihn gewarnt hatte, daß es die Situation verschlimmer und nicht verbessern, die Karsai-Regierung noch mehr von uns abhängig machen und den Zeitpunkt eines eventuellen Abzuges noch weiter in die Zukunft verschieben würde. Mit 100.000 eigenen Soldaten und mehreren Zehntausend NATO-Soldaten in Afghanistan werden wir bald die Truppenstärke erreicht haben, welche die Sowjets dort hatten und mit der auch sie nach zehn Jahren scheiterten. Die Annahme, daß es sich hier um die letzte Bitte McChrystals um zusätzliche Soldaten handelte, ist absurd. McChrystal wollte ursprünglich 80.000 weitere US-Soldaten haben und auch nur als erstes Kontingent.

Nach meinem Verständnis der Aufstandsbekämpfungslehre, das mindestens so gut oder so schlecht wie das von Petraeus und McChrystal sein dürfte, um deren Stellungnahmen diesbezüglich aufzugreifen, wären für ein Land von der Größe Afghanistans Hunderttausende Soldaten erforderlich. Die zusätzlichen Soldaten sind seitens der afghanischen Armee nicht zu erwarten. Dort desertieren die jungen Männer praktisch genauso schnell, wie man sie rekrutiert. Des weiteren sind sie nicht besonders motiviert, auf der Seite von Ausländern zu kämpfen, ähnlich den südvietnamesischen Soldaten, mit denen ich früher zusammen gearbeitet habe. Also wird man diese Lücke nicht füllen können.

Daraus folgt, daß die Soldaten, die aus dem Irak abgezogen werden, während wir die Truppenstärke dort von ursprünglich 130.000 auf 30.000 bis 50.000 reduzieren, eine kurze Zeit zu Hause mit ihren Eltern, Ehepartnern und Kindern werden verbringen können, bevor man sie nach Afghanistan entsendet. Ich glaube, daß wir in vier Jahren mehr Soldaten in Afghanistan stehen haben werden als in zweien. Das hat die amerikanische Öffentlichkeit noch nicht begriffen. Wenn Leute versuchen, die Kosten des Afghanistaneinsatzes zu berechnen, kommen sie auf Schätzungen, die bei rund einer Billion Dollar liegen. Das Doppelte dürfte der Fall sein. Es werden noch mehr Soldaten dorthin verlegt werden. Jene Schätzungen basieren auf der Annahme, daß wir alle Soldaten aus dem Irak abziehen werden. Das wird nicht passieren.

1. April 2010