Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

USA/1274: Biden erklärt Assange zum "High-Tech-Terroristen" (SB)


Biden erklärt Assange zum "High-Tech-Terroristen"

Vizepräsident wird seinem Ruf als Washingtons Schwafelmeister gerecht


In einem sehr empfehlenswerten Interview, das am 17. Dezember in der Internetausgabe der US-Politzeitschrift The Nation erschienen ist, hat Barbara Koeppel an Matthew Hoh die Frage gestellt, warum die USA nach mehr als neun Jahren in Afghanistan immer noch Krieg führen. Schließlich hatte Hoh 2004 bis 2007 im Irak zunächst als Mitglied eines zivilen Wiederaufbauteams des US-Außenministeriums gearbeitet und später als Offizier der Marineinfanterie gedient und sein Rücktritt im September 2009 als ranghöchster US-Diplomat in der umkämpften afghanischen Provinz Nangarhar aus Protest gegen den sinnlosen Krieg am Hindukusch hatte weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Die Antwort des Ex-Diplomaten und Ex-Soldaten mit umfassender Fronterfahrung auf die Frage Koeppels war aufschlußreich wie erschreckend zugleich.

Hoh warf den Politikern in Washington aus beiden großen Parteien vor, in Fragen des Krieges und des "Terrorismus" politische Spiele zu betreiben. Die Republikaner schürten absichtlich die Ängste vieler Mitbürger, die nichts von der Außenwelt gesehen hätten, mit Horrorszenarien nach dem Motto, besser man bekämpfe die "Terroristen" im Übersee statt in den Straßen Amerikas. Und weil die USA eine sehr militärische Gesellschaft seien, versuchten die Demokraten, sich stets der Position der Republikaner anzunähern aus Angst, letztere könnten sie als "weich" oder "wankelmütig" in Sachen der nationalen Sicherheit darstellen. Um sich nicht den Vorwurf einzuhandeln, er habe eigenhändig den Krieg gegen die Taliban "verloren", habe sich zum Beispiel Ende letzten Jahres der neue US-Präsident Barack Obama gezwungen gesehen, dem Wunsch seiner Generalität nach einer kräftigen Truppenaustockung in Afghanistan stattzugeben, so Hoh.

Ein Paradebeispiel dessen, was Hoh unter Washingtoner Politspielen in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik versteht, lieferte in den letzten Tagen US-Vizepräsident Joseph Biden. Der ehemalige Senator aus Delaware hatte, je nachdem ob seine Demokraten oder die gegnerischen Republikaner über die Mehrheit im Oberhaus des US-Kongresses verfügten, lange Jahre entweder den Vorsitz oder den stellvertretenden Vorsitz des außenpolitischen Ausschusses im Senat inne. Wegen Bidens außenpolitischen Erfahrung - weniger hinsichtlich der internationalen Beziehungen als vielmehr der Art, wie im Senat Deals gemacht werden -, hat Obama ihn im Sommer 2008 nach dem Sieg bei den demokratischen Vorwahlen über Hillary Clinton zu seinem "running mate" und Vizepräsidentskandidaten gekürt. Im Grunde genommen ist Biden so etwas wie der klassische Washingtoner Insider, an dem in der Außen- und Sicherheitspolitik niemand vorbeikommt. Deswegen ist sein Verhalten in den letzten Tagen so bezeichnend und erwähnenswert.

Am 15. Dezember war Biden extra nach New York gefahren, um den Part des Vorsitzenden zu übernehmen, als im Hauptquartier der Vereinten Nationen der Sicherheitsrat nach rund 20 Jahren die diplomatischen, finanziellen und wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Irak aufhob. Anläßlich des historischen Ereignisses gab er dem Nachrichtensender MSNBC ein Interview, das erst am nächsten Tag ausgestrahlt wurde. In dem Interview fragte Moderatorin Andrea Mitchell Obamas Vize unter anderem nach seiner Meinung zu der seit dem 28. Oktober laufenden Veröffentlichung amerikanischer Botschaftsdepeschen. Bereits zu Beginn der sogenannten "Cablegate"-Affäre hatte Außenministerin Clinton die Veröffentlichungen als "Angriff auf die internationale Gemeinschaft" hochstilisiert, während republikanische Schreihälse wie Mitch McConnell, Newt Gingrich und Sarah Palin den Wikileaks-Gründer Julian Assange zum "Informationsterroristen" stempelten und seine Gefangennahme wegen Spionage oder Liquidierung durch die CIA verlangten. Gegenüber Mitchell gab sich Biden zum Thema Wikileaks vollkommen koulant. Der Inhalt der Depeschen sei zwar an manchen Stellen "peinlich", doch habe ihre Veröffentlichung der Arbeit des US-Diplomatie "keinen nennenswerten Schaden" zugefügt, erklärte er unter Verweis auf den herzlichen Empfang, der ihm wenige Stunden zuvor seitens der versammelten Auslandsvertreter im UN-Hauptquartier zuteil worden war. Unter den bisherigen Veröffentlichungen befände sich "nichts, was eine andere Nationen dazu veranlaßt hätte, zu sagen, 'Sie haben uns belogen, wir trauen Ihnen nicht mehr, sie behandeln uns nicht fair'", so der Vizepräsident.

Doch wie es der Zufall will, wurde das MSNBC-Interview in den USA gerade ausgestrahlt, als am 16. Dezember die Live-Bilder von der Freilassung Assanges, den die Behörden in Schweden wegen zweier Beschwerden der sexuellen Belästigung befragen wollen, in London auf Kaution international über die Mattscheiben liefen. Durch die zeitliche Nähe entstand für die Republikaner eine hervorragende Angriffsmöglichkeit, die These zu plazieren, daß während Amerikas aktueller "public enemy number one" gerade einen Etappensieg über das Land der Freien und die Heimat der Mutigen feiere, das PR-Desaster vom Weißen Haus verkannt und heruntergespielt werde. Um die zu erwartende Angriffswelle im Keim zu ersticken, schlug am nächsten Tag Biden, der ohnehin eine lange Geschichte von Fällen, in denen er durch unüberlegte Äußerungen ins Fettnäpfen getreten ist, in Sachen Wikileaks eine glatte 180-Grad-Wendung ein.

In einem Interview für die Politsendung Meet the Press, die für die Ausstrahlung am 19. Dezember zwei Tage vorher aufgenommen wurde, deren Abschrift zumindest portionsweise am selben Abend auf der Website von NBC zu lesen war, übernahm Biden die Sprachregelung der republikanischen Rechten praktisch eins zu eins, in dem er Assange zu einem "High-Tech-Terroristen" stempelte. Im krassen Widerspruch zu seiner Äußerung am UN-Hauptquartier in New York behauptete Obamas Stellvertreter plötzlich, der australische Wikileaks-Gründer habe "das Leben und die Berufe von Menschen in anderen Teilen der Welt [vornehmlich US-Diplomaten - Anm. d. Red.] geschadet und gefährdet."

Nicht genug, daß er damit Assange praktisch auf die gleiche Stufe wie gesuchte "Topterroristen" wie Osama Bin Laden und Aiman Al Zawahiri stellte, in der Sendung Meet the Press fuhr Biden abstruseste Verschwörungstheorien auf, um die Präsenz der US-Streitkräfte am Hindukusch und die Fortsetzung des Krieges in Afghanistan zu rechtfertigen. Schließlich stand das Interview Bidens mit Dick Gregory von Meet the Press im US-Sonntagsfernsehen im Schatten jenes Lageberichts der Obama-Regierung zum Thema Afghanistan, den der Präsident am Donnerstag zuvor der Öffentlichkeit präsentiert und in dem er - im Gegensatz zur Meinung vieler Experten, auch derjenigen bei den US-Geheimdiensten - tatsächlich "Fortschritt" im Kampf gegen die Taliban und ihre Verbündeten zu erkennen gemeint hatte. Angesichts der Dürftigkeit des bei der Umsetzung der Aufstandsbekämpfungsstrategie des ISAF-Oberkommandeurs US-General David Petraeus vorzuweisenden "Fortschritts" behauptete Biden nun, Amerikas Streitkräfte führten Krieg in Afghanistan und die CIA führe Drohnenangriffe auf Taliban-Ziele im pakistanischen Grenzgebiet, damit Al Kaida die Regierung in Islamabad nicht stürze und in den Besitz von Pakistans Atomwaffenarsenal gelange.

Dieser Erklärungsversuch, der dem manichäischen Weltbild der US-Neokonservativen entspringt, mag dem amerikanischen Durchschnittsbürger einleuchten, hat mit der Wirklichkeit aber herzlich wenig zu tun. Die Chancen, daß die paschtunischen Stammeskrieger um Mullah Muhammed Omar und Hakimullah Mehsud in der Lage wäre, die Macht in Pakistan an sich zu reißen und sich dschihadtechnisch atomar aufzurüsten, ist absoluter Nonsens. Die Gefahr besteht jedoch durchaus, daß es in Pakistan zu einem erneuten Militärputsch kommt, der von islamistisch geprägten Offiziere angeführt wird. Doch gerade diese Gefahr ist es, zu deren Verwirklichung die US-Politkaste mit der fortgesetzten Destabilisierung Afghanistans zwecks eines niemals zu erzielenden militärischen Sieges, völkerrechtlich illegalen CIA-Raketenangriffen auf Ziele in Pakistan, die viele Zivilisten töten, und Washingtons einseitiger Ausrichtung zugunsten Indiens einschließlich der Ignorierung des von Neu-Delhi zu verantwortenden Unterdrückung der muslimischen Mehrheitsbevölkerung im indischen Teile Kaschmirs selbst kräftig beiträgt.

21. Dezember 2010