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BERICHT/199: Die Hartz IV Diktatur - Eine Arbeitsvermittlerin klagt an ... (SB)


"Die Schuld der Erwerbslosigkeit auf die Erwerbslosen selbst zu übertragen, bedeutet, die Verantwortung unseres Sozialstaats auf diese Menschen zu übertragen"

Lesung und Diskussion mit Inge Hannemann am 21. Juni 2015 im Eidelstedter Bürgerhaus, Hamburg


Schon immer haben sich Erwerbstätige Sorgen darüber gemacht, sie könnten ihren Arbeitsplatz verlieren. Doch seit der Einführung des Hartz-Systems im Januar 2003 ist die Sorge in beklemmende Angst umgeschlagen, birgt doch ein solcher Verlust die Gefahr, binnen eines Jahres in eine Armutsverwaltung abzurutschen, der nur schwer zu entrinnen ist. Das in vier Schritten bis Januar 2005 eingeführte Hartz-System wurde nach dem ehemaligen Personalvorstand der Volkswagen AG, Peter Hartz [1], benannt, der eine Kommission leitete, die das Sozialsystem modernisieren, das heißt im Klartext, auf die Wünsche und Begehrlichkeiten des exportorientierten Wirtschaftsstandorts Deutschland ausrichten sollte.


Nebeneinander hinter einem Tisch bei der Lesung - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ralf Peters (Bezirksvorstand der Linkspartei Eimsbüttel) und Inge Hannemann (Hamburgische Bürgerschaft)
Foto: © 2015 by Schattenblick

Das hatte im schlechtesten Sinne des Wortes durchschlagenden Erfolg. Entstanden ist "Die Hartz IV Diktatur", wie es Inge Hannemann in ihrem gleichnamigen Buch formuliert. Die Autorin hat jahrelang in Jobcentern der Bundesagentur für Arbeit gearbeitet, kennt also das System von innen her, und hat dort versucht, der streng hierarchisch organisierten Institution [2] der Arbeitsvermittlung ein menschliches Antlitz abzugewinnen. Beispielsweise hatte sie ihre Möglichkeiten, Sanktionen gegen ihre "Kunden" zu verhängen, nicht ausgeschöpft und sich außerdem mehr Zeit für die Beratung genommen. Das kam bei ihren Vorgesetzten nicht gut an, denn beim Jobcenter steht die Quote "über allem, auch über dem Arbeitssuchenden", kritisiert Hannemann das System in ihrem im Rowohlt Verlag erschienenen Buch "Die Hartz IV Diktatur - Eine Arbeitsvermittlerin klagt an" (Mai 2015). Die durchaus erfolgreiche Mitarbeiterin mußte ihren Arbeitsplatz beim Jobcenter Altona räumen, hat gegen die Versetzung geklagt und verloren. Ende 2014 stimmte sie einem Vergleich zu, so daß sie nun im Integrationsamt Akten bearbeitet und "von links nach rechts" bewegt. Den Rechtsstreit führt sie jedoch weiter.

Wie sehr sie mit ihrem Engagement gegen Behördenwillkür die Stimmung vieler Menschen trifft, wurde bei einer Lesung am 21. Juni 2015 im Eidelstedter Bürgerhaus in Hamburg deutlich. Rund 50 Personen hatten sich an diesem Sonntagvormittag eingefunden, um den von der Autorin vorgelesenen fünf Passagen aus dem Buch aufmerksam zu lauschen und mit ihr und den anderen Gästen zu den angesprochenen Themen zu diskutieren.

Die Hartz-IV-Betroffenen sitzen auf der anderen Seite des Schreibtischs des Jobcenters und bekommen regelmäßig am eigenen Leib zu spüren, was die Autorin scharf kritisiert. Obgleich für die Veranstaltung mehr als nur ein Diskussionsblock angesetzt war, reichte die Zeit nicht im mindesten, um sämtliche Wortmeldungen und Anliegen angemessen würdigen zu können. Da war zum Beispiel von Ein-Euro-Jobbern die Rede, die in der Küche eines Pflegeheims arbeiten und alle halbe Jahr ausgewechselt werden, so daß sich der Arbeitgeber das Geld für eine Festanstellung erspart. Hochqualifizierte Fachleute, die mitunter aus dem Ausland kommen, fänden keinen Job und würden ungeachtet ihrer Fähigkeiten in eben solche Ein-Euro-Jobs gedrängt, war gleich von mehreren Seiten zu vernehmen. Passend dazu schenkte eine Besucherin Inge Hannemann eine Postkarte mit einer Karikatur aus dem Jobcenter. Auf der einen Seite des Schreibtischs ein Erwerbsloser: "Ich bin Enthüllungsjournalist." Auf der anderen die Sachbearbeiterin: "Das paßt ja, ich habe hier was als Stripper." Hannemann versicherte, daß der Scherz gar nicht so abwegig ist, wie man meinen könnte.

Ein Besucher gab zu bedenken, daß das Lohnniveau in Deutschland in den letzten zehn Jahren durch Hartz IV "massiv" gesunken sei, und eine Frau erklärte, sie möchte nicht als "Kundin" des Jobcenters bezeichnet werden. Sie sei auch keine Bittstellerin, sondern eine "Bürgerin" und wolle dort nichts kaufen; sie hätte ein Anrecht auf Hartz IV. Einer der Organisatoren von der Eimsbütteler Linkspartei empfahl, immer eine Begleitperson zum Jobcenter mitzunehmen, um sich dort Rückhalt zu verschaffen - ein Rat, dem von verschiedenen Seiten beigepflichtet wurde. Erwerbslose und Erwerbstätige müßten zusammenstehen, nur so könne der Entsolidarisierung der Gesellschaft Einhalt geboten werden, lautete eine der Forderungen, die ebenfalls viel Zuspruch fand.

In der Pause, in der das lebhafte Gespräch bei Kaffee und selbstgebackenem Apfelkuchen unvermindert in kleineren Gruppen fortgesetzt wurde, war von stundenlangen Wartezeiten beim Jobcenter, der anschließenden kurzen Abfertigung und vor allem von der Verweigerung rechtmäßiger Forderungen sowie den empfindlichen Leistungskürzungen beim Nicht-Einhalten bestimmter Behördenvorgaben die Rede.


Drei kleine Stapel mit Hannemanns Buch - Foto: © 2015 by Schattenblick

"Die Hartz IV Diktatur" - ein rotes Tuch für die Chefetage der Armutsverwaltung
Foto: © 2015 by Schattenblick

Im Februar dieses Jahres wurde Inge Hannemann auf der Liste der Linkspartei in die Hamburgische Bürgerschaft gewählt und hat dort ihren alten Juso-"Kollegen" Olaf Scholz (SPD) wiedergetroffen, der inzwischen die Karriereleiter bis zum Ersten Bürgermeister der Hansestadt hinaufgeklettert ist. Die Autorin erinnerte sich: Viel erreicht haben wir damals als Jusos nicht, aber zumindest konnten wir laut auf den Topf schlagen. Der einzige, der gebremst hat, war Olaf Scholz. Schon damals sei er "der König" gewesen. "Seitdem begleitet er mich", schmunzelte sie.

In ihrem Buch und auch bei der Lesung betonte Hannemann, daß längst nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jobcenters kaltherzig sind, aber daß es unter ihnen eben auch solche gäbe, die bedenkenlos Leistungskürzungen vornehmen - nicht zuletzt weil das System mit dem ständigen Controlling, also der Berichterstattung der Leistungsdaten nach oben, so angelegt sei, daß für die erwerbslosen Menschen, um die es ja eigentlich gehen sollte, nicht viel Zeit bliebe.

Hier im Eidelstedter Bürgerhaus zeigte sich sehr deutlich der Zorn der Menschen auf das System, aber zugleich auch eine hohe Bereitschaft, sich einzusetzen und die "Fehlentwicklung" wieder in Ordnung zu bringen. Beidem hat Inge Hannemann mit ihrem Buch eine Stimme verliehen, indem sie das Geschehen in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang einordnet und bewertet. Ihre Kernforderungen, die teilweise vorgelesen, teilweise im folgenden aus dem Buch ergänzt wurden, lauten zusammengefaßt:

- Sofortige Abschaffung jedweder Sanktionspraxis: Die Jobcenter sind schnell dabei, Leistungen zu kürzen, wenn beispielsweise von den Arbeitssuchenden ein Termin nicht wahrgenommen wird. So ein Versäumnis müsse aber nicht bedeuten, daß die Person den Termin "vergessen" hat, wie es im Jobcenter-Jargon heißt und automatisch unterstellt wird, sondern es könnten dafür berechtigte Gründe vorliegen. Mehr Menschlichkeit im Umgang mit den "Kunden" lautet deshalb die Forderung Hannemanns nicht nur an dieser Stelle.

- Rückkehr zu dem alten System aus Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld, die sich am letzten Nettolohn orientierten, sowie Sozialhilfe, um auf dieser Basis schlußendlich auch dieses System noch zu verbessern. Das habe zwar auch Sanktionen gekannt, "aber nicht so drastische wie bei Hartz IV", sagte Hannemann.

- Anhebung des Regelsatzes: Die Betroffenen sollten sich beispielsweise auch eine "kulturelle Teilhabe", wie vom Grundgesetz gefordert, leisten können, was nicht gegeben ist, wenn sie für diesen Zweck mit zehn Euro im Monat abgespeist werden.

- Abschaffung von "Zwangsarbeit": Menschen dürfen nicht gezwungen werden, eine Arbeit anzunehmen, die sie nicht machen wollen. Das schließt die Abschaffung von Ein-Euro-Jobs oder gar, wie Anfang des Jahres von Hamburg eingeführt, der Null-Euro-Jobs ein.

- Ende der faktischen "Residenzpflicht": Menschen, die sich länger als einen Tag von ihrem Wohnort entfernen, dürfen nicht mehr genötigt werden, sich zuvor beim Jobcenter abzumelden.

- Durchsetzung des grundgesetzlich verankerten Rechts auf Wohnungs- und Niederlassungsfreiheit ebenso wie auf Unverletzlichkeit der Wohnung.

- Keine Jagd nach guter Quote, Abschaffung der statistischen Schönfärberei: Jobcenter sind immer darauf bedacht, eine gute Quote zu erreichen, und sei es durch äußerst zweifelhafte Maßnahmen wie die des Hamburger Jobcenters, das Menschen zu regelmäßigen Spaziergängen (6000 Schritte) verdonnert hat. Mit dem eigentlichen Auftrag der Jobcenter, Menschen zu unterstützen, damit sie einen regulären Arbeitsplatz erhalten, hat das nichts zu tun.

- Ende des "Controlling" in seiner heutigen Form: In ihrem Buch "Die Hartz IV Diktatur" schreibt Hannemann zu dem aus der Wirtschaft entlehnten "Controlling": "Der Versuch, soziale Arbeit in betriebswirtschaftliche Zahlen umzuwandeln, ist meiner Ansicht nach einer der fatalsten Fehler, die bei der Sozialreform gemacht wurden, und bis heute Ursache der gröbsten Missstände." (S. 138)

- Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich auf 30 Stunden, "so daß die Menschen wieder würdig arbeiten und auch würdig leben können".

- Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.


Beim Signieren - Foto: © 2015 by Schattenblick

Persönliche Widmung - das Markenzeichen von Inge Hannemann
Foto: © 2015 by Schattenblick

Inge Hannemann und eine Besucherin, die sich zu Wort meldete und auf die hartz-kritische Website wir-sind-boes-hamburg.de aufmerksam machte, beziehen sich in ihrer Kritik an dem bestehenden System nicht zuletzt auf das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, dessen vorangestellte Grundwerte sie durch das Hartz-Regime als verletzt ansehen. Als Beispiel wurde Artikel 1, Absatz 1 genannt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Wenngleich hier nicht bestritten werden soll, daß beruhend auf dem Grundgesetz eine andere, menschlichere Gesellschaft vorstellbar ist, sei an dieser Stelle allerdings gefragt, ob nicht die Väter und Mütter des Grundgesetzes mit dem Begriff "Würde" einen Wert eingebracht haben, der so breit interpretierbar ist, daß er die Einführung des wirtschaftsfreundlichen Hartz-Elendsregimes nicht zu verhindern vermochte. Schließlich ist es eine Frage der Definition und damit der Definitionshoheit, was unter "Würde" verstanden wird.

Beispielsweise könnte man bereits jegliche Form von Lohnarbeit als menschenunwürdig bezeichnen. Auch wenn es sich heute viele Menschen nicht vorstellen können, aber in der menschlichen Geschichte wurden immer wieder emanzipatorische Denkansätze entwickelt, in denen die Produktionsbedingungen nicht so beschaffen waren, daß Arbeit mit Lohn gekoppelt war. In der heutigen arbeitsteiligen Gesellschaft dagegen müssen die Menschen ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, sie werden zu Lohnempfängern, um das eigene Überleben und gegebenenfalls das ihrer Familie zu sichern. Der "Markt" hat inzwischen weltumspannende Ausmaße angenommen: Der Bauer in Argentinien konkurriert mit dem Bauern in Bayern, der Versicherungsangestellte in New York mit dem in Accra, der Automechaniker in Tschechien mit dem in China. Vom Standpunkt der Unternehmer aus betrachtet, die der systemisch bedingten sinkenden Profitrate durch Expansion und Verschuldung, vor allem aber durch das Herunterdrücken der Löhne und Gehälter zu entkommen trachten, verhilft die Konkurrenz unter den Anbietern von Arbeitskraft zumindest zu einem Zeitgewinn bis zum Kollaps.

Die Käufer jener Arbeitskraft haben somit ein vitales Interesse daran, den Preis für diese "Ware" zu drücken. Zu diesem Zweck liefert ihnen das am Existenzminimum gehaltene Heer von Erwerbslosen ein potentes Bedrohungspotential, so daß die Arbeiter bei der Stange bleiben. Wer würde sich schon freiwillig beispielsweise von einer Zeitarbeitsfirma in irgendeinen mies bezahlten Job drücken lassen, wenn nicht ständig das Damoklesschwert einer noch übleren Erwerbslosenexistenz im Hartz-Regime über ihm schwebte? Und noch grundsätzlicher gefragt: Wer würde sich überhaupt zur Lohnarbeit verpflichten, wenn nicht die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen schon weit im Vorfeld so in Stellung gebracht worden wären, daß ihm als Alternative faktisch nur die Obdachlosigkeit bliebe?

Hannemann schreibt im 20. Kapitel mit dem Titel "Was ich langfristig fordere - oder: Visionen für eine Neuordnung des Arbeitsmarkts", daß es ihrer Erfahrung nach für viele Menschen mit mehr Streß verbunden ist, "vierzig Stunden in der Woche untätig zu sein", als zu arbeiten (S. 254). Damit spricht sie einen Punkt an, der häufig unterschlagen wird, nämlich daß auch die Erwerbslosigkeit mit einer hohen Belastung einhergeht und regelrecht krank macht, mitunter noch schneller als die Berufstätigkeit. Die berechtigte Kritik Hannemanns an dem vorherrschenden Arbeitsmarktsystem könnte jedoch noch tiefer greifen, wenn der Unterschied zwischen freiwilliger und fremdbestimmter Arbeit herausgearbeitet, beziehungsweise wenn nicht Arbeit mit Lohnarbeit gleichgesetzt würde.

Hartz IV fungiert nicht zuletzt als Soziallabor, in dem getestet wird, wie in einem der reichsten Länder der Welt Millionen Menschen dauerhaft unter prekären Bedingungen gehalten werden können, ohne daß ihre Empörung über diesen Zustand in ein Aufbegehren mit dem Ergebnis eines Umsturzes der Verhältnisse mündete. Die "Hartz IV Diktatur" stellt jedoch nicht das Ende der Unterwerfung dar. Mit dem Abschluß von Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA (TTIP) und Kanada (CETA), insbesondere aber mit TISA, dem "Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen" (Trade in Services Agreement), über das gegenwärtig rund zwei Dutzend Staaten verhandeln, wird der Wert der Arbeit extrem verringert.


Plakatankündigung mit Aufschrift: 'Hartz IV Betroffene wehren sich. Erfahrungsaustausch und gemeinsames Frühstück. Jeden 3. Mittwoch im Monat von 9.30 Uhr bis 11.30 Uhr, Erdgeschoß im Raum 'Club'.' Unterschrift: Die Linke, Bezirksverband Eimsbüttel, www.die-linke-eimsbuettel.de - Foto: © 2015 by Schattenblick

Gemeinsam gegen Behördenschikane
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Peter Hartz hatte schon 1996 in seinem Buch "Das atmende Unternehmen - jeder Arbeitsplatz hat seinen Kunden" Konzepte zur schönen neuen Arbeitswelt entworfen, die den Fordismus ablösen und die Erwerbstätigen zu sich selbstverwirklichenden Unternehmern in eigener Sache machen sollte. Fünf Jahre darauf legte er mit dem Buch "Die Job-Revolution: wie wir neue Arbeitsplätze gewinnen können" nach. Das strotzte nur so vor Rhetorik aus der Werbebranche und stellte einen Ausbund an Erfindungsreichtum im Herauskitzeln von Leistungsbereitschaft zwecks Steigerung der Produktivität dar. Das prädestinierte den langjährigen Personalvorstand Hartz dazu, von der damaligen rot-grünen Bundesregierung als Leiter der Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" eingesetzt zu werden.

[2] Von 2002 bis 2004 war der Oberstleutnant der Reserve der Bundeswehr Florian Gerster Vorsitzender des Vorstands der Bundesanstalt für Arbeit (BA). Er gab den Stab an seinen früheren Kameraden Oberst der Reserve Frank-Jürgen Weise weiter, der die BA bis heute führt.

27. Juni 2015


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