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BERICHT/204: Minenfeld Afghanistan - Ratio de jure oder der fortschreitende Krieg ... (SB)


Blinder Fleck im Schlepptau der Kriegstreiber

Tagung Afghanistan 2015. Frieden in Afghanistan? Vergessen? am 13. Juni 2015 in Düsseldorf


Zur Tagung "Afghanistan 2015. Frieden in Afghanistan? Vergessen?", die am 13. Juni 2015 im Bürgerhaus Bilk in Düsseldorf stattfand, hatten das Deutsch-Afghanische Friedensnetzwerk [1] und die Rosa Luxemburg Stiftung NRW [2] eingeladen. Wenngleich Besatzung, Krieg und humanitäre Katastrophe am Hindukusch andauern, ist dieser Konflikt weitgehend aus den Schlagzeilen der Medien und dem Interesse der großen Politik verschwunden. Um diesem Vergessen etwas entgegenzusetzen, wurde auf der Veranstaltung über die aktuelle Situation im Land, deren Ursachen wie auch mögliche Auswege referiert und diskutiert.

Auf den ersten Blick scheinen sich in Afghanistan bedeutsame Fortschritte abzuzeichnen. Ende 2014 wurde der Krieg nach dreizehn Jahren offiziell für beendet erklärt. Die Kampftruppen der NATO-Staaten ziehen ab, die noch im Land verbleibenden ausländischen Einheiten sollen Streitkräfte und Polizei Afghanistans dabei unterstützen, eigenverantwortlich für die Sicherheit zu sorgen. Der neue Staatspräsident Aschraf Ghani bildet gemeinsam mit seinem Hauptwidersacher Abdullah Abdullah eine Regierung der nationalen Einheit. Die westlichen Mächte, darunter insbesondere die USA und die Bundesrepublik, haben finanzielle Hilfe und Expertise für den Wiederaufbau und die Demokratisierung des Landes auch in den kommenden Jahren zugesagt. Ist Afghanistan demnach auf einem guten Weg, seine Selbständigkeit wiederzugewinnen, die Wirtschaft zu entwickeln und die sozialen Verhältnisse zu verbessern?

Wie Kristine Karch vom Deutsch-Afghanischen Friedensnetzwerk zum Auftakt der Tagung unterstrich, ist das Gegenteil der Fall. Die NATO bleibe mit 12.000 Soldaten im Land, der Krieg gehe ebenso weiter wie die Anschläge der Taliban. Die Weltbank spreche von einer desaströsen ökonomischen und sozialen Situation. Was ist aus den Frauenrechten geworden, für die der Westen angeblich in den Krieg gezogen ist? Sind die einzigen Gewinner die Warlords und Drogenhändler? Die NATO-Länder müssen ihre Verantwortung für die katastrophalen zivilen, ökonomischen und ökologischen Kriegsfolgen übernehmen, so die Forderung an die Besatzungsmäche. Die Menschen in Afghanistan müssen über die Zukunft ihres Landes selbst entscheiden können und eine Friedenslösung finden, die im Einklang mit ihrer Kultur und den Menschenrechtsdeklarationen steht. Es gelte, eine Lösung herbeizuführen, die zum Frieden nicht nur in Afghanistan, sondern in der gesamten Region beiträgt. Das Selbstbestimmungsrecht all dieser Länder müsse respektiert werden. Das Ziel eines freien und selbstbestimmten Afghanistan kann nur unter aktiver Beteiligung insbesondere der Frauen und unter breiter internationaler Solidarität der Friedens- und sozialen Bewegung erreicht werden, so Kristine Karch.


Kristine Karch am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Für ein freies und selbstbestimmtes Afghanistan!
Foto: © 2015 by Schattenblick


Wahlfarce nach dem Drehbuch Washingtons

Der Bremer Anwalt Karim Popal ist Vorstandsmitglied der deutschen IALANA [3] und vertritt die Opfer im Kundus-Prozeß. Mit Blick auf das Plenum der Tagung beklagte er eingangs den Umstand, daß offenbar die Deutschen mehr als seine etwa 5000 in Düsseldorf lebenden Landsleute an der Lage in Afghanistan interessiert seien. Befördert durch US-amerikanische Medienberichte, die im Namen des afghanischen Fernsehens verbreitet werden, neigten ins Ausland geflüchtete Landsleute immer mehr dazu, sich von der Politik abzuwenden und mit Geldverdienen zufriedenzugeben. Im europäischen Ausland leben fast eine Million Afghanen als Flüchtlinge, in den USA 800.000, in anderen Ländern über 7 Millionen und auch in Afghanistan selbst gibt es zahlreiche Binnenflüchtlinge. Es stimme ihn sehr traurig und sei unverzeihlich, daß sich seine Landsleute nur noch für Konsum und Unterhaltung in den westlichen Gastländern interessierten, nicht jedoch für die Toten und Hungrigen in Afghanistan, deren einzige Hoffnung sie seien.

Dann kam Karim Popal auf sein eigentliches Thema zu sprechen, nämlich die innenpolitische Situation nach den Wahlen in Afghanistan. Wie sich gezeigt habe, trenne man inzwischen auch in den höchsten Etagen westlicher Politik Wahlen und Demokratie voneinander. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier bezeichnete die Wahl als nicht demokratisch, aber fair und friedlich, wozu er gemeinsam mit seinen Amtskollegen in den westlichen Ländern den Afghanen gratulierte. Demokratisch sei es bei diesem Urnengang tatsächlich nicht zugegangen, so der Referent, weshalb sich ihm mit Blick auf das Resultat der Kernsatz aufdränge: Vor der Wahl war nach der Wahl. Wer kandidieren durfte, wer erwünscht war und wer schließlich gewann, wurde letztlich in Washington entschieden, wo man die Milliarden für diese Inszenierung bereitstellte.

Der ehemalige Justizminister Satar Sirat sei von vielen Menschen angesprochen worden, für das Präsidentenamt zu kandidieren, wozu er sich denn auch entschlossen habe. Er sei nach Europa und in die USA gereist, wo ihn der Kongreß zu einer Konferenz eingeladen habe. Dort habe Sirat, der Absolvent einer religiösen Schule ist, erfahren, daß er unerwünscht war und einem Paschtunen den Vortritt lassen sollte. Der US-Senat habe sich für Aschraf Ghani entschieden, der seit langem in den USA lebte und Staatsbürger beider Länder war. Allerdings habe es da noch die Schura-e Nazar gegeben, aus deren Reihen der Kriegsminister Ahmad Schah Masoud stammte, der getötet und später zum Nationalhelden verklärt wurde. Diese Gruppen, die in der Mudschaheddin-Zeit lange gekämpft hatten, hätten Abdullah Abdullah zu ihrem Führer gewählt. Ihn nenne man in Afghanistan "Abdullah Abdullah den Läufer", weil er allen westlichen Politikern nachlaufe, um an die Macht zu kommen. Da die westlichen Truppen gemeinsam mit der Schura-e Nazar in Kabul einmarschiert waren und die Taliban vertrieben hatten, durfte man Abdullah Abdullah nicht übergehen, so der Referent.

Die beiden Kandidaten warfen einander Wahlfälschung vor, was auch zutraf, doch am Ende entschieden sich die Amerikaner für Aschraf Ghani, der gut Englisch spricht. Wer hat ihn gewählt? Wie Popal berichtete, habe er diverse Leute im Land gefragt, wen sie gewählt hätten. Sie wußten es nicht, erzählten aber, daß sie im Auto abgeholt worden seien, ein tolles Essen und etwas Geld bekommen und dann eben auch ihre Stimme für irgend jemanden abgegeben hätten. Darüber habe man in den deutschen Medien nichts gehört, die sich für die Wahl stark machten und vorzugsweise von Drohungen der Taliban berichteten. Aschraf Ghani wurde demnach von Menschen gewählt, die gar nicht wußten, wer er ist und was er vorhat. Im übrigen hatte keiner der beiden Kandidaten ein Wahlprogramm, so daß von einem Willen oder Auftrag der Wählerschaft ohnehin keine Rede sein konnte, so Popal.

Laut seiner aktuellen Verfassung ist Afghanistan eine Republik, die von einem vom Volk gewählten Präsidenten regiert wird. Dieser wählt die Minister aus, bildet sein Kabinett und wird vom Parlament kontrolliert. Da die Amerikaner jedoch beschlossen hätten, eine Regierung der nationalen Einheit zu etablieren, machten sie Abdullah Abdullah zum Ministerpräsidenten, den die Verfassung gar nicht vorsieht. Er selbst habe zwei Tage nach diesem nächtlichen Beschluß erklärt, er kenne seine Aufgaben zwar nicht, werde aber die Minister bestimmen. Der daraus resultierende Machtkampf sei bis heute nicht beigelegt und habe dazu geführt, daß noch immer nicht alle Minister vom Parlament bestätigt worden sind.

Was haben diese Wahlen in Afghanistan gebracht? Nichts! Was hat sich geändert? Nichts! Diese deprimierende Bilanz belegte der Referent unter anderem damit, daß der Urnengang Milliarden verschlungen habe, während es andererseits keine vernünftigen Straßen, keine Fabriken, kein Regierungsprogramm und kein Programm der Ministerien gebe. Die Justiz sei korrupt, auch die alte Generalstaatsanwaltschaft weiter im Amt, die Großgrundbesitzer säßen im Parlament und lobten die NATO.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Karim Popal Foto: © 2015 by Schattenblick

Die vier zentralen Probleme des Landes hätten sich durch die Wahl nicht verringert, sondern eher noch verschärft. Das gelte für die Sicherheitslage, die sich durch den Truppenabzug verschlechtert habe. In den ersten drei Monaten 2015 gab es offiziellen Angaben zufolge 69 zivile Opfer von Drohnenangriffen, allein in der letzten Woche vor der Tagung 79. In der Provinz Herat wird im Schnitt alle fünf Minuten ein Mensch entführt, meist um Lösegeld zu erpressen. Laut Amnesty International fällt landesweit alle fünf Minuten ein Mensch einem Anschlag, Drohnenangriff oder Bombardement zum Opfer.

Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal. Ohne internationale Geldgeber könnte die Regierung nicht länger als zwei Tage weiterbestehen. Noch immer werden die Gehälter von Soldaten und Polizisten vom Ausland bezahlt. Gerüchten zufolge soll der Gouverneur von Masar-e Scharif über 56 Millionen Dollar allein auf Bankkonten deponiert haben, und den beiden Brüdern Ahmad Schah Massouds sage man nach, sie hätten 128 Millionen Dollar auf Konten in Paris.

Die Drogenproduktion ist um 25 Prozent gestiegen. Afghanistan bleibt weltweit der größte Mohnproduzent, doch seit der Wahl schweigt man kurzerhand darüber. Inzwischen sieht man in Kabul überall Drogenabhängige, was früher nicht der Fall war, so der Referent.

Das vierte Problem ist die politische Lage im Land. Demokratisierung, freie Betätigung von Journalisten, Parteienbildung, Information der Zivilgesellschaft - alles gescheitert, so Popal. Gebe irgendein Mullah die Parole aus, eine Frau habe gegen den Koran verstoßen, kämen Hunderte Männer auf die Straße und schlügen diese Frau tot, wie erst jüngst in Kabul geschehen. Die Bevölkerung sei betrogen worden, eine demokratische Wahl habe nicht stattgefunden, der Friede bei der Wahl sei nur ein gekaufter gewesen.


Frauenrechte zwischen Konvention und Selbstverbrennung

Die afghanische Journalistin Fereshta Noori lebt seit 2010 in den Niederlanden, hat in vielen sozialen Projekten gearbeitet und an zahlreichen Konferenzen teilgenommen. Ihr Vortrag zum Thema "Entwicklung der Frauen- und Menschenrechte", der hier in Auszügen wiedergegeben wird, wurde von der Sozialwissenschaftlerin Wahida Kabir übersetzt. Fereshta Noori regte insbesondere an, die Lage der Frauen in Afghanistan im Rahmen einer Konferenz umfassender zu behandeln, verbindliche Ergebnisse zu formulieren und diese der Gesellschaft zu präsentieren.

Sie grüßte alle Frauen, die gegen rückständige Überzeugungen und Beziehungen kämpfen, besonders aber jene, die mit Mut und Tat auf den verschiedensten Ebenen gegen Gewalt, Unterdrückung und Frauenfeindlichkeit rebelliert und dafür ihr Leben gelassen haben. Sie grüßte auch alle Männer und Frauen auf der ganzen Welt, die sich gegen Tyrannei, Ausbeutung und Unterdrückung gestellt und die Herausforderung angenommen haben, dem etwas entgegenzusetzen. Den Frauen blieben zu allen Zeiten die bittersten Kapitel einer Geschichte vorbehalten, in der Männer als Herrscher die Helden waren und Frauen ihnen lediglich als schöne Geschöpfe Gottes in der Natur zur Belustigung dienten. Diese Art des Umgangs mit Frauen setze sich auch heute in vielen Teilen der Welt fort.

An dieser Stelle solle die Rede von Millionen von Frauen sein, die jenseits der westlichen Welt noch immer in mittelalterlichen Umständen leben. In vielen Ländern gelten Frauen als eine Ware, die zum Kauf und Verkauf steht und zur Belustigung der Männer dient, jener rückständigen Männer, die nicht wahrhaben wollen, daß Frauen als Menschen mit Würde und Rechten zu sehen sind und nicht als schwache und wertlose Geschöpfe der Gesellschaft. Trotz alledem wurden von Frauen und Menschrechtsaktivisten Tabus gebrochen und große Opfer erbracht, was den Männern immer noch ein Dorn im Auge sei.

Afghanistan sei weithin nur in Begriffen von Krieg, Zerstörung, Gewalt und Verletzung der Menschen- und Frauenrechte bekannt, wie man das täglich in den Medien lesen könne. Es habe jedoch seit langem spürbare Anstrengungen von Menschen gegeben, sich für die Frauenrechte einzusetzen. Zuweilen seien diese Bemühungen leider nur von kurzer Dauer gewesen und durch rückständige Kräfte im Keim erstickt worden. Diese nutzten die kulturelle Unwissenheit und Rückständigkeit der Bevölkerung aus, um die Erfolge gezielt zum Scheitern zu bringen. Das habe dazu geführt, daß sich die afghanische Frau zwischen Schule, Universität, Arbeit und Hausarbeit in ihren eigenen vier Wänden verirrt hat. Manchmal sagte man ihr, du bist frei und kannst ohne Burka aus dem Haus zur Schule oder zur Arbeit gehen und wirst nicht bis zum 16. Lebensjahr zwangsverheiratet. Dann wieder durfte sie nur in Vollverschleierung das Haus verlassen, da sie andernfalls ungehorsam gegenüber der Religion und Gottes Geboten wäre. Durch diesen Zwiespalt war es nicht möglich, errungene Rechte langfristig in der Tradition der afghanischen Bevölkerung zu verankern.


Nebeneinander auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wahida Kabir (links) und Fereshta Noori (rechts)
Foto: © 2015 by Schattenblick

Vor mehr als sechs Jahrzehnten hat die internationale Gemeinschaft die Menschenrechte durch eine Konvention politisch und zivilrechtlich geschützt. Darin steht, daß alle Menschen frei auf die Welt kommen, gleiche Rechte haben und mit Würde behandelt werden sollen. Weniger bekannt dürfte sein, daß 1993 die internationale Konferenz zum Thema Menschenrechte in Wien beschlossen hat, Gewalt gegen Frauen als Verletzung des Menschenrechts aufzufassen. Zur selben Zeit seien Frauen in Afghanistan mit modernsten Waffen aus europäischer, amerikanischer oder russischer Produktion erschossen worden, weil man ihnen vorgeworfen habe, unangemessen gekleidet zu sein. Während 189 Länder in der historischen Konferenz der Vereinten Nationen dafür stimmten, die Frauenrechte weltweit zu schützen, seien im großen Sportstadion von Kabul Frauen hingerichtet worden, weil sie mit Männern zusammensein wollten, die sie liebten, so die Referentin.

Wir waren gute Zuschauer in diesen Jahren! Angesichts dieses Schweigens habe sich eine Stimme erhoben, die unter den Resolutionen der internationalen Frauenrechte bis zur Unhörbarkeit verborgen war, nämlich jene der Frauen ihres Landes. Jener Frauen, die sich mit dem Benzin der 38 Staaten verbrennen, die in Afghanistan einmarschiert sind, obgleich sie kein Afghane dazu gebeten hat. Diese Länder haben Milliarden für ihr eigenes Wohlergehen ausgegeben und in den Wüsten Afghanistans ihre Kühlschränke mit Wein gefüllt. Die Zahl der Selbstverbrennungen in der vom Krieg heimgesuchten Heimat sei von höherer Bedeutung als Nachrichten über El Classico in Spanien oder NBA-Spiele in den USA. Die Männer und Frauen, die hier leben, haben nicht die Schreie des jungen Mädchens gehört, das unter Schlagstöcken und Fußtritten von Männern und respektlosen Vagabunden getötet und anschließend verbrannt wurde.

Junge Mädchen verbrennen sich, damit sie nicht mit Männern zwangsverheiratet werden, die viermal so alt sind wie sie und wahrscheinlich noch vier weitere Frauen haben und sie später nicht arbeiten oder studieren lassen. Die Anzahl der Selbstverbrennungen von Frauen ist höchst alarmierend und stetig steigend: Seit 2001, als die internationale Gemeinschaft vollmundig angekündigt hat, Frauenrechte zu etablieren und zu schützen, haben Hunderte Mädchen und junge Frauen in der Selbstverbrennung und Selbsttötung die einzige Rettung vor Unterdrückung gesehen. Diese Taten führen zum Tod, doch wenn der Versuch scheitert, wünschen sie sich tausendmal den Tod, wenn sie in den Spiegel schauen. Die meisten sind bereits mit 20 gestorben und werden doch erst mit 70 beerdigt, so Fereshta Noori.


Türöffner der Eroberer

Der Marburger Politikwissenschaftler Matin Baraki, bekannt aus zahlreichen Beiträgen zur Situation im Nahen Osten und in Zentralasien, ging in seinem Vortrag auf den geopolitischen Kontext des Kriegs in Afghanistan ein. Dieser sei ohne Berücksichtigung der geostrategischen Lage des Landes nicht zu verstehen. Wenngleich relativ arm an Rohstoffen, sei ihm doch seine Lage zum Verhängnis geworden. Schon in der Antike wollte Alexander der Große Indien erobern, wozu er Afghanistan durchqueren mußte. Die Mongolen hatten dasselbe Ziel - Afghanistan war immer der Türöffner für weitere Eroberungen in seinem Umfeld, und daran hat sich bis heute nichts geändert, so der Referent.

Im 19. Jahrhundert überfielen die Briten zweimal Afghanistan, wurden aber jedesmal mit Hilfe von Feuersteingewehren vertrieben, denn die Afghanen ertragen keine Fremden in ihrem Land. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der verspätete deutsche Imperialismus ebenfalls einen Platz an der Sonne begehrte, spielte er mit dem Gedanken, in Afghanistan Fuß zu fassen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs planten die deutschen Strategen, Großbritannien zu zerschlagen, damit Deutschland zur Großmacht aufsteigen könne. Das Herzstück Großbritanniens sei Britisch-Indien, das man auf dem Landweg nur über Afghanistan erreichen konnte. Die Niederlage 1918 machte auch diese hochfliegenden Pläne zunichte, begrub sie aber keineswegs endgültig. Im Jahr 1941 gab Hitler den Befehl, einen Afghanistanplan auszuarbeiten. Sobald die Sowjetunion besiegt sei und die deutsche Wehrmacht an deren Südgrenze und damit der Nordgrenze Afghanistans stände und die Regierung in Kabul nicht bereit wäre, auf seiten Deutschlands nach Indien zu marschieren, würde Afghanistan erobert. Daraus ist bekanntlich nichts geworden.

Was dem deutschen Kaiser und Hitler nicht gelang, habe die Regierung Schröder-Fischer geschafft. Im Kontext des 11. September bestand der Vertreter der Bundesregierung bei der NATO darauf, daß nun der Bündnisfall erklärt werden müsse. Dieser tritt nach Artikel 5 des NATO-Vertrags ein, wenn ein Mitgliedsland angegriffen wird. Wie es heißt, habe insbesondere der deutsche Vertreter darauf beharrt, daß der Bündnisfall eingetreten sei. Schröder sei in der Folge sogar persönlich nach Washington gereist, um zu erwirken, daß die Bundeswehr mitmachen darf, so der Referent. Die Bush-Administration sprach vom Krieg gegen den Terror, nicht vom Krieg gegen ein Land, was sie jedoch nicht daran hinderte, Afghanistan anzugreifen und zu besetzen.

Nach dem Ende der Sowjetunion forderten die US-Strategen Zugang zu dieser Region, der ihnen bis dahin verwehrt war. Die USA verstanden sich nun als einzig verbliebene Weltmacht, neben der es keine zweite mehr geben durfte. Auf Grundlage dieser Doktrin wurde in der Endphase der Clinton-Administration ein Afghanistan-Plan entwickelt. Neun Monate vor dem 11. September habe die US-Regierung Konsultationen mit der Regierung der Russischen Föderation sowie der Usbekistans darüber aufgenommen, daß die USA einen Krieg gegen Afghanistan planten. Die Russen sollten informiert werden und die Usbeken ihre militärische Infrastruktur zur Verfügung stellen, was jedoch beide Länder abgelehnt hätten. Daher konnte während der zu Ende gehenden Clinton-Regierung kein Krieg mehr begonnen werden.

Unter der Präsidentschaft George W. Bushs hieß die neue Strategie "Greater Middle East": Die Region von Nordafrika bis Bangladesch sollte unter die Kontrolle der USA gebracht werden. Man wartete auf einen Anlaß, bis der 11. September die Begründung lieferte. Hätte es ihn nicht gegeben, hätte man ihn erfinden müssen, so Baraki. Warum ausgerechnet Afghanistan, wo die USA doch die Taliban selber an die Macht gebracht hatten? Weil diese die Funktion nicht erfüllten, das Land im Interesse der USA zu stabilisieren, die insbesondere eine Pipeline von Mittelasien und dem Kaukasus über Afghanistan nach Pakistan und Indien führen wollten. Zudem war das Land zu der Zeit regional und international isoliert, also das schwächste Glied in der Kette möglicher Angriffsziele. Deswegen hat man mit Afghanistan begonnen und binnen vier Wochen das Taliban-Regime gestürzt.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Matin Baraki
Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Taliban, ursprünglich Koranschüler, seien erstmals 1979/80 in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan in Erscheinung getreten. Man habe sie mit dem Versprechen auf eine kostenlose Schulbildung aus diesen Lagern geholt, sie zugleich nach der wahabitischen Islamvorstellung ideologisch geschult wie auch militärisch ausgebildet. Als die Mudschaheddin im Kampf gegen die sowjetischen Truppen zu unterliegen drohten, habe man die gut ausgebildeten, motivierten und ideologisch gefestigten Taliban entsandt. Die Kommandanten der Mudschaheddin seien 1994 vom Auswärtigen Ausschuß des US-Kongresses eingeladen worden, wo man ihnen den Pipeline-Plan vorlegt habe. Sie hätten zwar zugesagt, den Bürgerkrieg zu beenden, ihn aber nach ihrer Rückkehr weiter fortgesetzt. Daher sei ein neuer Plan ausgearbeitet worden, der auf die Taliban zurückkam. Dieser Plan habe funktioniert, denn sie vertrieben die Mudschaheddin und besetzten 90 Prozent des Landes. Den Taliban sei es jedoch ebenfalls nicht gelungen, das Land zu stabilisieren. Sie seien indessen heute nach wie vor präsent, zumal es in Pakistan rund 50.000 Koranschulen gebe. Gehe aus jeder dieser Schulen nur einziger Talib im Jahr hervor, seien das schon 50.000 weitere Kämpfer.

Nach dem Auftakt Afghanistan kamen Saddam Hussein und der Irak an die Reihe. Unterdessen zeigten jedoch die Taliban wieder verstärkt Präsenz, und im Irak verlief es nicht anders, da sich der nationale Widerstand formierte. Wären die USA auch nur halb so erfolgreich wie anfangs in Afghanistan, hätten sie schon längst den Iran und Syrien überfallen. Es existieren Strategiepapiere, daß im Zweifelsfall auch der Verbündete Saudi-Arabien besetzt werden soll, sofern es Probleme mit der Ölversorgung der USA gibt.

In Afghanistan wurden nicht nur die Infrastruktur und das Land, sondern auch die Menschen zerstört, so Baraki. Er habe dort bei seinem jüngsten Besuch beobachtet, daß die Kinder auf der Straße Krieg spielen. Zwei Generationen sind im Krieg geboren, die gesamte Region ist destabilisiert. 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, 99 Prozent aller Waren kommen aus dem Ausland. Auch die einheimische Landwirtschaft kann nicht mit den Erzeugnissen der Europäer oder Amerikaner konkurrieren, so daß ihr nur der Mohnanbau als Einnahmequelle bleibt.

Als ersten Schritt zur Beendigung des Kriegs schlägt Baraki einen sofortigen einseitigen Waffenstillstand der NATO vor, die das aus der Position der Stärke durchaus tun könnte. Nachdem der Krieg beendet ist, müssen innerhalb von sechs Monaten Truppen im Auftrag der UNO aus den blockfreien Staaten und den islamischen Ländern die NATO-Einheiten ablösen. Innerhalb von weiteren sechs Monaten muß eine neue Loya Dschirga einberufen werden, deren Mitglieder in den Dörfern, Bezirken und Provinzen gewählt werden. Auf Beschluß dieser Loya Dschirga sollte dann eine provisorische Regierung gebildet werden, die einen neuen Verfassungsentwurf erarbeitet. Aus der Mitte des Parlaments würde schließlich eine reguläre Regierung gebildet, die dann auch von der Bevölkerung unterstützt wird.


Laßt uns unsere Probleme allein lösen!

Ein kurzer Vortrag ging auf den immer wieder erhobenen Vorwurf ein, wonach die Korruption der afghanischen Führungsschicht das größte Problem sei und alle Lösungen verhindere. Aber wie kommt die Korruption zustande? Die Besatzung sei die Mutter der Korruption. Solange man fremdbestimmt ist, könne man sich nicht zum Guten entwickeln. Die Kolonialherrschaft habe überall auf der Welt solche Verhältnisse hinterlassen, die man den Völkern nicht als Schuld zulasten dürfe. 35 Jahre Krieg in Afghanistan hätten die Menschen an der Entwicklung einer besseren Gesellschaft gehindert. USA und NATO hätten mitunter hundert Milliarden Dollar jährlich für die Zerstörung Afghanistans ausgegeben. Hilfe für einen friedlichen Aufbau sei etwas völlig anderes als militärische Intervention.

Dieser Beitrag ging auch auf die einzige Kontroverse in der Diskussion des Plenums ein. Ausgelöst wurde sie durch den Einwand der Frau eines 2005 in Afghanistan getöteten deutschen Arztes, der sich bis dahin für den Aufbau einer unabhängigen Ausbildung und medizinischen Versorgung insbesondere für Frauen engagiert hatte. Wie viele andere Deutsche und Afghanen, die tatsächlich helfen wollten, sei auch ihr Mann auf unendlich viele bürokratische und andere Hindernisse gestoßen. Bei aller Liebe zu Afghanistan, das sie mehrfach besucht habe, könne sie doch die auf der Tagung vertretene Auffassung nicht ganz teilen, die den Besatzungsmächten die alleinige Verantwortung zuschiebe. Auch die Afghanen selbst müßten sich bemühen, ihr Denken zu ändern.

Karim Popal gab zu bedenken, daß nach seiner Kenntnis 90 Prozent aller afghanischen Asylbewerber in Bremen Analphabeten seien. Es handle sich um Kriegskinder, die überhaupt nicht wüßten, was Politik oder Religion ist. Wir wünschen als Afghanen nur eines: Laßt uns unsere Probleme lösen, mischt euch nicht ein und macht unsere Probleme nicht noch größer! Wir sind ja auch nicht nach Deutschland gekommen, um uns in die inneren Angelegenheiten einzumischen, so Popal.

Matin Baraki räumte unumwunden ein, daß von Afghanen viele Fehler gemacht und Verbrechen begangen worden seien. Die Kriege und Bürgerkriege in der Region hätten jedoch soziale Hintergründe, die man mit militärischen Mitteln nicht bewältigen könne. Externe Einflüsse hätten diese Probleme stets verschlimmert. Deswegen sage auch er: Laßt uns in Ruhe! Wir brauchen eure Hilfe, aber mischt euch nicht in interne Angelegenheiten ein! Er stamme aus einem Dorf, dessen Bewohner im Falle schwerwiegender Probleme nicht zur Polizei gelaufen, sondern zum Dorfvorsteher gegangen seien. Der habe eine Versammlung einberufen, und auf dieser Dschirga sei tagelang oder gar wochenlang diskutiert worden, bis ein Beschluß gefaßt werden konnte, der von allen Seiten akzeptiert wurde. Wir sind auch unter den gegenwärtigen Bedingungen in der Lage, unsere Probleme selber zu lösen, sofern sich keine externen Kräfte einmischen, so Baraki. In einem afghanisches Sprichwort heiße es: Wenn das Wasser an der Quelle schmutzig ist, ist der ganze Fluß schmutzig. Die Probleme weiter unten können also nicht gelöst werden, solange das Problem an der Quelle ungelöst bleibt.

(wird fortgesetzt)


Eingang Bürgerhaus Bilk - Foto: © 2015 by Schattenblick

Veranstaltungsort in der Düsseldorfer Südstadt
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.afghanistanprotest.de

[2] http://www.rls-nrw.de

[3] http://www.ialana.de/


Erster Bericht zur Tagung "Afghanistan 2015" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/203: Minenfeld Afghanistan - Die Haftung des Westens ... (SB)

11. Juli 2015


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