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BERICHT/243: Mikroinitiative Gewerkschaftsbasen - Nadelstiche ... (SB)


144. Jour Fixe mit Eisenbahngewerkschaftern aus Japan

Vortrag und Diskussion des Forums der Gewerkschaftslinken Hamburg am 7. September 2016 im Curiohaus

Teil 1: Rote Gewerkschaften gegen Privatisierung, Militarisierung und Atomenergie


In einer Zeit, in der die Lohnempfänger ihre Arbeitskraft im Rahmen globalisierter Produktionsverhältnisse zu Markte tragen und von einem Ende der Welt bis zum anderen gegeneinander in Konkurrenz treten, widersetzen sich einige Betroffene dem Trend durch den Aufbau internationaler Solidarität. Längst haben Staat und Kapital einen Rollback der Arbeitsbedingungen eingeleitet, der in die Frühphase der Industrialisierung zurückzuführen scheint, indem sie die in jahrzehntelangen Arbeitskämpfen erstrittenen Errungenschaften nach und nach schleifen.


Hinter einer Tischreihe sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Jour Fixe mit japanischen Gewerkschaftern: (von links) Dieter Wegner, Nobua Manabe (beim Dolmetschen), Ikuo Kimura, Shinichi Thujikawa, Kenichi Aizawa und Masami Kuraoka.
Foto: © 2016 by Schattenblick

Ein kämpferisches, offenherziges und auch lebensfrohes Beispiel für die Vernetzung der Arbeiterschaft über Staatsgrenzen hinweg lieferte vor kurzem der Besuch einer Delegation der japanischen Eisenbahnergewerkschaften Doro-Chiba, Doro-Mito und Doro-Fukushima in Deutschland. Nachdem die Gäste zunächst in Berlin Station gemacht hatten, besuchten fünf der sechs Gewerkschaftsmitglieder am 7. September Hamburg, wo das Forum der Gewerkschaftslinken zum 144. Jour Fixe ins Curiohaus an der Rothenbaumchaussee geladen hatte. Die Moderation des Abends übernahm Dieter Wegner von der Vorbereitungsgruppe Jour Fixe, Verantwortlicher der Website der im Oktober 2005 gegründeten Gruppe der linken Gewerkschafter. [1]

Das Vortrags- und Diskussionstreffen eröffnete Joachim Holstein, Sprecher des Wirtschaftsausschusses und Betriebsratsmitglied der DB European Railservice GmbH (DB ERS GmbH), einer 100prozentigen Tochter der DB Fernverkehr AG, mit einer rund 30minütigen Schilderung des gegenwärtigen Stands des Widerstands gegen die Abschaffung der Autoreise- und Nachtzüge in Deutschland. Anschließend stellten sich die japanischen Delegationsmitglieder vor und berichteten über ihre Tätigkeit als zwar kleine, aber schlagkräftige Gewerkschaft, die nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen und faire Löhne, sondern auch gegen die zivile Nutzung der Atomenergie und die Militarisierung Japans kämpft und den vorherrschenden Kräften schon manchen Nadelstich zu versetzen wußte.

Die Deutsche Bahn - profit- statt serviceorientiert

"Der Bund gewährleistet, daß dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt."

(Grundgesetz, Art. 87e, Absatz 4)

Von diesem gesellschaftlichen Auftrag hat sich die Deutsche Bahn mehr und mehr entfernt. Sie war 1994 aus den west- und ostdeutschen Staatsbahnen Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn entstanden und ist heute eine Aktiengesellschaft, deren Wertpapiere sich zu 100 Prozent in der Hand des Staates befinden und nicht gehandelt werden. Noch nicht, muß man sagen, denn es hat schon mehrere Anläufe gegeben, dieses privatrechtliche Unternehmen aus dem Besitz der öffentlichen Hand an die Börse zu bringen. Die Deutsche Bahn wird wie ein marktwirtschaftliches Unternehmen geführt, was bedeutet, daß weniger rentable Angebote wie zum Beispiel gering frequentierte Strecken, die zwar für einige Nutzer von immenser Wichtigkeit sein können, nicht aber für die renditeorientierte Konzernzentrale, gestrichen werden. Deshalb sollen in Kürze sowohl die Autoreisezüge als auch die Nachtzüge dem Rotstift zum Opfer fallen.

Durch die unermüdlichen Proteste unter anderem der fünf- bis sechsköpfigen Gruppe, zu der auch Joachim Holstein gehört, wurde die Transformation der Deutschen Bahn zwar nicht verhindert, aber man hat in Kooperation mit anderen Gruppen zumindest so viel Lärm gemacht, daß ein 2008 aus dem Programm genommener Nachtzug von Hamburg nach Paris zwei Jahre darauf wieder auf die Schiene gebracht wurde. "Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse", erklärten damals die Protestierenden, die damit den Unterschied in der grundsätzlichen Ausrichtung zwischen einer Bahn als Dienstleistungsunternehmen und einer Bahn als Aktiengesellschaft in einen griffigen Slogan faßten. Allerdings wurde Ende 2014 der Zug nach Paris erneut gestrichen.


Der Referent hält ein T-Shirt hoch mit der Aufschrift: 'Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Joachim Holstein mit eindeutiger Botschaft
Foto: © 2016 by Schattenblick

Nachdem die Deutsche Bahn die Auto- und Nachtzüge an den Tochterkonzern DB Autozug übergeben hatte, zählte diese Beförderungsmöglichkeit nicht mehr zum Kernbereich des Unternehmens. Im Gegensatz beispielsweise "zum Paketversand in Asien, zu der Belieferung der Olympioniken in Rio und dem Marketing für eine Eisenbahn in Abu Dhabi", sandte Holstein eine ironische Spitze in Richtung Bahnmanagement und konstatierte: "Aber Personen von Hamburg nach München zu bringen oder von Köln nach Berlin, das steht nicht mehr so sehr im Fokus des Bahnvorstandes."

Bei einer Bundestagsanhörung habe er als Sachverständiger die Abgeordneten ersteinmal darüber aufgeklärt, daß sie vom Bahnvorstand falsch informiert worden waren. Dieser habe behauptet, der Nachtverkehr sei ein Nischengeschäft und werde nur von einem Prozent bzw. 1,4 Mio. Fernverkehrsreisenden genutzt. Tatsächlich werde der Nachtzug jedoch von 3,6 Mio. Personen in Anspruch genommen. Die niedrigere Zahl leite sich daraus ab, daß nur Schlaf- und Liegewagengäste mit Reservierung gezählt worden waren, nicht aber die Reisenden im Sitzwagen.

Dennoch: Bis Ende 2016 stellt die Deutsche Bahn alle noch verbliebenen Nachtzugstrecken ein, und nur ein Teil davon wird von der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB), die bereits heute bestimmte Strecken befährt, übernommen. Schon Ende Oktober soll der letzte Autoreisezugverkehr eingestellt werden. Mit dem von ihnen erfundenen Konzept des LunaLiners werben Holstein und seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen aus mehr als zwei Dutzend Organisationen und Verbänden sowie "lunapark", der "Zeitschrift zur Kritik an der globalen Ökonomie", für eine neue Nachtzugkooperation der europäischen Bahnen.

Man könne mit Protesten etwas erreichen, betonte der Referent. Nicht nur der Zug nach Paris wurde wieder auf den Fahrplan genommen. Zum dicht gepackten Vortrag Holsteins sei hier ergänzt: Nach massiven Protesten hat die Bahn 2001 ihren Plan, alle Speisewagen abzuschaffen, fallengelassen. Ein Jahr darauf wurde die BahnCard50 abgeschafft. Es hagelte Proteste, und Mitte 2003 wurde sie wieder eingeführt. 2008 wurde der geplante Börsengang der Bahn aufgegeben, nachdem massive Proteste aufgeflammt waren, und so weiter.

Eigentlich sollte man erwarten, daß die Bahn klimafreundlicher ist als das Flugzeug. Doch als seine Kollegen aus der Schweiz einmal eine Anfrage an ihre Regierung gerichtet hatten, wie es mit der Klimabilanz sei, wenn jemand mit dem Zug von der Schweiz nach Dänemark fahre oder dafür das Flugzeug nähme, hätten sie die überraschende Antwort erhalten, daß es günstiger für die Klimabilanz ist, den Flieger zu nehmen. Die Erklärung lieferte Holstein gleich mit: "Laut Kyoto-Protokoll werden Flugzeugabgase nicht auf den Schadstoffausstoß des Landes angerechnet. Also ist ein Flieger bilanzneutral, während der Zug, der in der Schweiz überwiegend per Elektrizität aus Wasserkraft angetrieben wird, plötzlich die Bilanz verhagelt."

Holstein führte es nicht näher aus, doch wird an diesem Beispiel deutlich, daß die grüne Ökonomie - hier in Form des selbst von Umweltgruppen unterstützten Emissionshandels - nichts anderes als eine weitere Spielart privatwirtschaftlicher Kapitalakkumulation ist und sich ihre naturzerstörenden Folgen prinzipiell nicht von anderen Varianten der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unterscheiden.


Porträt Manabes- Foto: © 2016 by Schattenblick

"Es gibt auch in Japan ein rechtes Umfeld oder chauvinistische Kräfte. Diese Leute sind viele, sie sind zahlenmäßig größer als wir. Aber Doro-Mito und Doro-Chiba kämpfen mit den Studierenden von Zengakuren zusammen. Das hat eine enorme Kampfkraft."
(Nobua Manabe, 7. September 2016, Hamburg)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Doro-Chiba - klein, streitbar, stechsicher

Die japanische Delegation setzte sich aus Mitgliedern kämpferischer Gewerkschaften zusammen, die keinem Dachverband für Betriebsgewerkschaften wie dem 1989 gegründeten Rengo - mit ca. 7 Mio. Mitgliedern der größte von drei gewerkschaftlichen Dachverbänden [2] - angeschlossen sind. Ikuo Kimura ist Generalsekretär von Doro-Mito, der Schwesterorganisation von Doro-Chiba. Als er Mitte der achtziger Jahre gegen die Aufteilung und Privatisierung der japanischen Staatsbahn gekämpft hat, wurde er versetzt und durfte nicht mehr als Lokführer arbeiten, sondern wurde als Kioskverkäufer beschäftigt. Dagegen hat er gerichtlich erfolgreich gestritten und mußte wieder in seinem eigentlichen Beruf beschäftigt werden.

Shinichi Tsujikawa - Spitzname "Shin" - arbeitet seit 40 Jahren bei der Bahn. Er war der erste Vorsitzende von Doro-Mito und mußte 25 Jahre lang in einem Kiosk arbeiten. Auch er ist vor Gericht gezogen. Vor fünf Jahren hat er erstritten, daß er wieder Wartungsarbeiten an den Zügen verrichten darf.

Vor 20 Monaten ist Kenichi Aizawa der Gewerkschaft Doro-Mito beigetreten. Noch vor zwei Jahren war er Mitglied einer sogenannten "gelben", unternehmensfreundlichen Gewerkschaft. Weil diese aber überhaupt nicht gekämpft hat, ist er nun bei Doro-Mito.

Masami Kuraoka arbeitet in einem Kiosk auf dem Bahnhof der Stadt Koriyama in der Präfektur Fukushima. Sie war Mitglied der radikalen Studierendenvereinigung Zengakuren und hat die Gewerkschaft Doro-Fukushima gegründet. Diese setzt sich nicht nur für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen ein, sondern macht sich wie die Schwestergewerkschaften ebenfalls gegen Atomkraftwerke und Verstrahlung stark. So kämpfen die Gewerkschaften auch gegen das Vorhaben der Regierung, nördlich des havarierten Atomkraftwerks Fukushima Daiichi eine Bahnstrecke durch das stark radioaktiv verseuchte Gebiet in Betrieb zu nehmen. Das lehnen die Delegationsmitglieder unter Verweis auf das hohe Verstrahlungsrisiko, dem zunächst die Arbeiter an der Bahntrasse, dann das Eisenbahnpersonal und schließlich auch die Fahrgäste ausgesetzt sein würden, entschieden ab.

Nobua Manabe ist Mitglied von Doro-Chiba und gehört dort der deutschsprachigen Abteilung an. Er war schon mehrmals in Deutschland, um die Kontakte zu pflegen und die internationale Solidarität weiter zu festigen. Er hat an diesem Abend das Dolmetschen übernommen.


Bei der Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Die Betreibergesellschaft JR denkt, wenn Doro-Mito existiert, könnte diese Organisation größer werden. Davor haben sie und die Regierung Angst."
(Shinichi Thujikawa, 7. September 2016, Hamburg)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Rote Gewerkschaften in Japan - Dorn im Auge der Herrschenden

Die ersten Gewerkschaften wurden in Japan ab 1884 gegründet. Begonnen hatte es mit dem Zusammenschluß der Typographen der Firma Shueisya. Während des Zweiten Weltkriegs wurden sämtliche Gewerkschaften aufgelöst, mit Ausnahme der regierungsnahen Organisation Greater Japan Industrial Patriotic Association (Sangyo-Houkokukai), um deren Mitglieder in den Kriegsdienst zu nötigen. Nach 1945 bestimmten die Alliierten die weitere gewerkschaftliche Entwicklung des Landes. Die USA förderten zwar die Bildung von Gewerkschaften, doch war ihnen die linke Ausrichtung des Verbands Sanbetsu ein Dorn im Auge. So wurde ein für den 1. Februar 1947 geplanter Generalstreik verboten. 1951 kam es zur sogenannten "roten Säuberung", die sich gegen unliebsame, linke Kräfte richtete. In den Jahren darauf wurde die Bildung von gemäßigteren Demokratisierungs-Ausschüssen (Minshuka Domei) als Gegengewicht zum sozialistisch ausgerichteten Gewerkschaftsverband Sohyo gefördert.

Einige der Delegationsmitglieder aus Japan haben am eigenen Leib erlebt, was es bedeutet, für seine linke, klassenkämpferische Einstellung einzustehen und dafür Repressionen hinnehmen zu müssen. Eine fundamental unterschiedliche Ansicht über Gewerkschaftsarbeit war in den 1970er Jahren Anlaß zur Spaltung des gewerkschaftlichen Dachverbands Doro. Die Gewerkschaft Doro-Chiba, die ihren Sitz in der Präfektur Chiba östlich der Hauptstadt Tokio hat, ist 1979 aus der landesweiten Lokführergewerkschaft Doro hervorgegangen.

Die zumeist jungen Mitglieder von Doro-Chiba haben sich über die bloßen Arbeitsbelange hinaus bei politischen Streitthemen wie dem amerikanisch-japanischen Sicherheitspakt Ampo und dem Flughafenprojekt Narita, das mit Landenteignungen der Bauern einhergegangen war, eindeutig auf der Seite des Protests und Widerstands positioniert. Zum Bruch mit dem Doro-Dachverband war es nicht zuletzt gekommen, weil die Gewerkschafter aus Chiba den Kampf der Sanrizuka-Initiative gegen den Flughafen Narita unterstützten, indem sie beispielsweise Tankzüge auf dem Weg zum neuen Flughafen blockierten. Die Bezeichnung "kämpferisch" für Doro-Chiba ist durchaus so zu verstehen, daß ihre Mitglieder handgreiflich werden mußten, da der Doro-Dachverband Schlägertrupps und Rollkommandos gegen die Abtrünnigen entsandt hatte. Die versuchte Zerschlagung Doro-Chibas war jedoch gescheitert.

1974/75, als sich die Krise der Weltwirtschaft zuspitzte, erlebte Japans Wirtschaft drastische Einbußen. Das Wachstum lag bei nahezu Null Prozent, gleichzeitig verzeichnete das Land eine hohe Inflationsrate. Die dem Kapitalismus immanente Krisenhaftigkeit wurde nun von Politik und Wirtschaft zum Vorwand genommen, um den Arbeitsdruck zu erhöhen und Sachzwänge zu konstruieren. So wurde behauptet, nur in der Privatisierung der Nationalen Japanischen Eisenbahn sei die Antwort auf die defizitäre Lage zu sehen. 1987 wurde die Japanese National Railway in sieben Teile zerschlagen und privatisiert. Noch heute tragen die sieben Gesellschaften JR (Japan Railways) in ihrem Namenszug.


Bei der Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Doro-Mito kämpft, deshalb bin ich ihr beigetreten."
(Kenichi Aizawa, 7. September 2016, Hamburg)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Doro-Chiba kämpft gegen die Privatisierung, organisiert Streiks, tritt gegen den Personalabbau ein und widersetzt sich Rationalisierungsmaßnahmen. Hier hat auch Doro-Mito ihre Wurzeln. Mito ist die Hauptstadt der Präfektur Ibaraki. Die Privatisierung der Bahn Ende der achtziger Jahre konnte nicht verhindert werden, doch schon rollte eine neue Front gegen die Arbeiterinnen und Arbeiter heran, die Prekarisierung. Sie richtet sich gegen das sozialpartnerschaftliche System der für Japan charakteristischen lebenslangen Anstellung in einem Betrieb. Leiharbeit, Zeitarbeit und andere atypische Beschäftigungsformen, die zumeist prekär entlohnt werden, nehmen schon seit Jahrzehnten zu; inzwischen sind 40 Prozent der japanischen Arbeiter in solch einem Arbeitsverhältnis tätig. Doro-Chiba und Doro-Mito haben sich die Aufgabe gestellt, auch die prekär Beschäftigten zu organisieren, gerade weil sich diese in einer schwachen Position gegenüber dem Arbeitgeber befinden und allzu häufig Konkurrenz statt Zusammenhalt ihr Verhältnis zueinander bestimmt.

"Die Organisationsform der japanischen Arbeitnehmer (Betriebsgewerkschaft) basiert nicht auf einem überbetrieblich definierten 'Klasseninteresse' aller abhängig Beschäftigten, sondern auf dem Konzept des 'Betriebs als Gemeinschaft', das nicht kulturgegeben ist, sondern durchgesetzt wurde", schreibt Michael Ehrke in einem Bericht für die Friedrich-Ebert-Stiftung. [3] Was es bedeuten kann, kein Klasseninteresse zu vertreten, erläuterten die japanischen Gäste in Hamburg: Der große Gewerkschaftsdachverband Rengo mit seinen sieben Millionen Mitgliedern führe überhaupt keine Streiks durch, er sei noch unternehmensfreundlicher als der DGB in Deutschland. Außerdem spreche er sich für Atomenergie aus.

Eben weil Rengo keine Streiks ausrufe, errege es mediale Aufmerksamkeit, wenn die kleineren Gewerkschaften dies an ihrer statt täten, berichteten die Delegationsmitglieder. Mit einer Mitgliederzahl von 400 bei Doro-Chiba und 40 bei Doro-Mito könne man zwar keinen Betrieb stillegen, aber so ein Streik sei eine Botschaft, die gehört werde und auch Sympathien bei Nicht-Mitgliedern wecke. Wenn die Lokführer von Doro-Mito in den Streik treten, muß die Eisenbahngesellschaft Ersatzpersonal finden. Jedoch lehnten es immer mehr junge Leute, die in einer gelben Gewerkschaft organisiert sind, ab, sich als Streikbrecher zu betätigen.


Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Mitte der achtziger Jahre wurde die japanische Staatsbahn abgeschafft und privatisiert. Dagegen haben Doro-Mito und Doro-Chiba gekämpft."
(Ikuo Kimura, 7. September 2016, Hamburg)
Foto: © 2016 by Schattenblick

"1047" oder Kompromiß und kompromittiert haben die gleichen Wurzeln

Die Zahl "1047" steht für einen Arbeitskampf, der in die Zeit der Bahnprivatisierung zurückreicht und bis heute nicht abschließend ausgefochten ist. 1987 wurden mehr als 7000 Arbeiter der Staatsbahn nicht übernommen. Sicherlich auch bedingt durch die japanische Tradition, daß die Beschäftigten ihr Leben lang für eine Firma arbeiten, sobald sie eingestellt werden, wurden die Bahnarbeiter nicht entlassen, sondern einer "Settlement Corporation" (Abwicklungsgesellschaft) zugewiesen. Davon betroffen waren nicht zufällig vor allem Mitglieder der kämpferischen Gewerkschaften. Nach drei Jahren waren noch 1047 von ursprünglich 7628 Bahnarbeitern nicht "freiwillig" abgewickelt worden. Daraufhin wurde ihnen gekündigt. [4]

Im März 1990 trat Doro-Chiba für 84 Stunden in einen Solidaritätsstreik mit dieser Gruppe. Diese hat gegen ihre Entlassung geklagt und im Laufe der Jahre schon mehrmals vor Gericht Erfolge errungen, dennoch wurden die 1047 nicht eingestellt. Am 9. April 2010 stimmten die kompromißbereiten Gewerkschaften des Dachverbands Doro dem Angebot zu, daß den 1047 Bahnarbeitern eine (dürftige) Abfindung gezahlt wird. Im Juni 2011, gut drei Monate nach dem schweren Tohoku-Erdbeben vor der Ostküste Japans, das einen verheerenden Tsunami auslöste, der mehr als 20.000 Menschenleben forderte, und zu einer dreifachen Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi führte, wurde der Kampf der 1047 vom Klägerverband und einem Koordinationskomitee für beendet erklärt.

Doro-Chiba protestierte dagegen. Für die kämpferischen Gewerkschaften sind Erdbeben und Tsunami keine Naturkatastrophen, sondern "ein Verbrechen der japanischen Regierung", so Nobua Manabe. Damit spielte er auf eine generell durch Vernachlässigung gekennzeichnete Sicherheitskultur des profitorientierten Wirtschaftens an. Ohne Atomenergie wären jetzt nicht weite Landstriche Japans verstrahlt, und ohne das Einsparen grundlegender Sicherheitsmaßnahmen beim Akw Fukushima Daiichi hätte die Verstrahlung möglicherweise nicht das heutige Ausmaß erreicht. Ebenso wie vieles dafür spricht, daß das schwere Zugunglück von Amagasaki bei Osaka am 20. April 2005, bei dem 107 Menschen gestorben sind (und nicht, wie mitunter berichtet wurde, 106 Personen, da der Lokführer nicht mitgezählt wurde - ein Umstand, der bei den Mitgliedern der japanischen Delegation heute noch den Zorn weckt), eine Folge des Arbeitsdrucks aufgrund des eng getakteten Zeitplans der Bahngesellschaft JR West war.

In jüngerer Zeit wenden sich die kleinen Gewerkschaften auch gegen das geplante Freihandelsabkommen TPP (Transpazifische Partnerschaft), das zwischen den USA, Japan und einer Reihe weiterer Länder vereinbart werden soll. TPP diene den Großmächten bzw. imperialistischen Ländern wie USA und Japan dazu, den Arbeitsmarkt zu kontrollieren und Zugriff auf natürliche Ressourcen zu erlangen, erklärte Manabe. Diesen Zielen würde alles geopfert, von der Arbeit über die landwirtschaftliche Produktion bis zur medizinischen Betreuung. Deshalb sei man strikt gegen TPP.

Denkatsu - Solidarität über nationale Grenzen hinaus

"Bauen wir Gewerkschaften auf, die gegen das Kapital kämpfen" und "man muß den Kampf im Gesamtinteresse der Arbeiterklasse fortsetzen", erklärten die Besucher, für die Begriffe wie Klassenfrage, Arbeiterklasse und Klassenkampf keine theoretischen Konstrukte darstellen. Daß solche Termini von den herrschenden Kräften diskreditiert werden, hat seinen "guten" Grund, denn damit werden ihre keineswegs unumstößlichen Privilegien sowie die von ihnen bevorzugte gesellschaftliche Eigentumsordnung fundamental in Frage gestellt. Der Klassenkampf ließe sich sehr wohl auch heute noch wie vor über 160 Jahren, als der Begriff durch die Veröffentlichung des "Kommunistischen Manifests" größere Verbreitung fand, in die Konsequenz der mit ihm verbundenen Intention überführen.

Das gewerkschaftliche Rot steht sicherlich nicht für die nahezu bedingungslose Wahrung des sozialpartnerschaftlichen Friedens zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, wie sie von branchenübergreifenden Dachverbänden wie Rengo in Japan und DGB in Deutschland praktiziert wird, sondern für kleine, kämpferische Organisationen wie Doro-Chiba, Doro-Mito und Doro-Fukushima in Japan und beispielsweise GDL (Gewerkschaft der Lokführer) und FAU (Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union) in Deutschland.

Somit böte sich fast natürlicherseits eine Zusammenarbeit zwischen diesen "Mikroinitiativen" an, so daß die "internationale Solidarität" (Denkatsu), die von den japanischen Delegierten sehr betont wurde, niemals zum Lippenbekenntnis vergärt, sondern selbstverständliche Begleiterscheinung gelebter gewerkschaftlicher Praxis bleibt. Seit 2011, dem Beginn der radioaktiven Permanentkontamination von Teilen Japans und des Pazifischen Ozeans, haben die Proteste der drei kleinen japanischen Gewerkschaften gegen die Atomenergie an Entschiedenheit noch zugenommen. Davon handelt der zweite Teil der Berichterstattung zum 144. Jour Fixe der Gewerkschaftslinken in Hamburg.


Bei der Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Eine Rückkehr in die verstrahlten Gebiete kommt überhaupt nicht in Frage. Ich habe durch die Kämpfe von Doro-Mito Mut gefaßt. Deshalb habe ich gemeinsam mit anderen Doro-Fukushima gegründet."
(Masami Kuraoka, 7. September 2016, Hamburg)
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.jourfixe.hamburger-netzwerk.de/index.html

[2] 1989 markiert einen Umbruch in der japanischen Gewerkschaftsentwicklung. In jenem Jahr wurde nicht nur Rengo gegründet, sondern auch der Dachverband Zenroren (2012: 870.000 Mitglieder), der der Kommunistischen Partei Japans (KPJ) nahesteht, und Zenrokyo (2012: 130.000 Mitglieder), der von drei ehemaligen Sohyo-Funktionären gebildet wurde. Sohyo hatte sich 1989 aufgelöst.

[3] http://www.fes.de/pdf-files/stabsabteilung/00041.pdf

[4] http://www.sozonline.de/2012/02/eine-kurze-geschichte-von-doro-chiba/

15. September 2016


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