Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/244: Mikroinitiative Gewerkschaftsbasen - Doppelte Gesichter ... (SB)


144. Jour Fixe mit Eisenbahngewerkschaftern aus Japan

Vortrag und Diskussion des Forums der Gewerkschaftslinken Hamburg am 7. September 2016 im Curiohaus

Teil 2: Sayonara Genpatsu - Gewerkschaften fordern "Abschied von der Atomenergie"


Bereits im Normalbetrieb dringt aus Atomkraftwerken radioaktive Strahlung aus, die potentiell gesundheitsgefährdend ist. Die Emissionen nehmen nochmals zu, sobald an einem Akw Wartungsarbeiten durchgeführt oder Brennelementewechsel vorgenommen werden, bei der die Reaktorkammer geöffnet wird. Da selbst Niedrigstrahlung das Krankheitsrisiko erhöht, mußten für Personen, die im Atomkraftwerk arbeiten, höhere Grenzwerte als für die übrige Bevölkerung festgelegt werden. Nur aufgrund dieser zweckrationalen Differenzierung kann der Nuklearindustrie genügend "Menschenmaterial" zugeführt werden, andernfalls Atomkraftwerke gar nicht zu betreiben sind - jedenfalls dann nicht, wenn die Menschen adäquat über die Risiken der Verstrahlung aufgeklärt werden und kein ökonomischer oder sonstwie gearteter Druck auf sie ausgeübt wird, sich für Lohn "freiwillig" verstrahlen zu lassen.


Bei der Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

Jour Fixe mit japanischen Gewerkschaftern: (von links) Nobua Manabe (Doro-Chiba), Ikuo Kimura (Doro-Mito), Shinichi Tsujikawa (Doro-Mito), Kenichi Aizawa (Doro-Mito) und Masami Kuraoka (Doro-Fukushima).
Foto: © 2016 by Schattenblick

In Deutschland liegen die Dosisgrenzwerte für die allgemeine Bevölkerung bei 1,0 mSv/Jahr, bei beruflich strahlenexponierten Personen wie den Arbeiterinnen und Arbeitern in Atomkraftwerken bei 20 mSv/Jahr. Natürlich weisen letztere keine zwanzigmal stärkeren Abwehrkräfte gegenüber Radioaktivität auf als Normalbürger. Grenzwerte für die radioaktive Belastung sind ausschließlich politisch begründet. In der Strahlenschutzverordnung heißt es dazu:

"Dosisgrenzwerte dienen nicht als Trennlinie zwischen gefährlicher und ungefährlicher Strahlenexposition. Die Überschreitung eines Grenzwertes bedeutet vielmehr, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten gesundheitlicher Folgen (insbesondere von Krebserkrankungen) über einem als annehmbar festgelegten Wert liegt. Die Grenzwerte legt der Gesetz- beziehungsweise Verordnungsgeber fest." [1]

Das bedeutet, daß bei einer Strahlenbelastung unterhalb des Grenzwerts ein Restrisiko bleibt. Die Politik legt den Grenzwert auf eine Höhe fest, von der sie meint, daß die statistisch nachweisbaren, vermehrten Erkrankungs- und Todesfälle akzeptabel sind. Daß die davon Betroffenen, die an Krebs erkranken, das vollständig anders sehen, ist offensichtlich, wird jedoch nach Abwägen der Vor- und Nachteile des Betriebs von Atomkraftwerken wie ein Kollateralschaden gehandhabt. Nur mit einem völligen Ausstieg wäre der Bevölkerung überhaupt gedient. Ein manchmal von Befürwortern der Atomenergie gezogener Vergleich der radioaktiven Belastung aus Akws beispielsweise mit der auf Linienflügen über den Atlantik oder bei natürlichen Radonaustritten entstehenden greift deshalb ins Leere, weil die Strahlenbelastung nicht gegeneinander gerechnet werden kann. Sie summiert sich auf.

Es gibt noch weitere, gewichtige Argumente, um den Bau und Betrieb der gesundheitsgefährdenden, zentralistischen und das nukleare Proliferationsrisiko erhöhenden Atomkraftwerke abzulehnen. Aus diesem Grund waren die japanischen Eisenbahngewerkschaften Doro-Chiba und Doro-Mito schon vor dem 11. März 2011, als das Akw Fukushima Daiichi noch nicht von einem Erdbeben und Tsunami zerstört worden war und in der Folge Kernschmelzen in drei der sechs Meiler eingetreten waren, gegen die Atomenergie eingestellt. Das berichtete am 7. September eine Delegation dieser unabhängigen, kämpferischen Gewerkschaften beim 144. Jour Fixe, zu dem das Forum der Gewerkschaftslinken Hamburg ins Curiohaus an der Rothenbaumchaussee geladen hatte.

Wie im ersten Teil über diese Vortrags- und Diskussionsveranstaltung berichtet, kämpfen Doro-Chiba, Doro-Mito und Doro-Fukushima - letztere wurde unter dem Eindruck der Atomkatastrophe gegründet -, gegen Privatisierung, Militarisierung und Atomenergie. Im Unterschied zu den sogenannten gelben Gewerkschaften verstehen sich diese roten, politisch links stehenden Gewerkschaften nicht als Tarif- oder Sozialpartner der Unternehmen, sondern als Organisationen der Arbeiterklasse, die einen Klassenkampf führen. Um der globalisierten Wirtschaft entgegenzutreten, pflegen sie internationale Solidarität.


Bei der Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Viele Arbeiter der Eisenbahngesellschaft JR werden outgesourct. In diesen Subunternehmen sind zahlreiche Arbeiterinnen und Arbeiter prekär beschäftigt. Deshalb ist es unsere Strategie, auch sie für Doro-Chiba und Doro-Mito zu organisieren."
(Masami Kuraoka, 7. September 2016, Hamburg)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Als ihre Kolleginnen davon erfahren haben, daß sie nach Deutschland fliege, waren sie ganz baff, berichtete Masami Kuraoka gegenüber dem Schattenblick. Vor fünf Jahren war sie noch Mitglied der radikalen Studierendenbewegung Zengakuren, seit eineinhalb Jahren arbeitet sie in einem Kiosk der JR Group Company auf dem Hauptbahnhof der Stadt Koriyama in der Präfektur Fukushima. Frau Kuraoka hat Doro-Fukushima gegründet, um sich gewerkschaftlich gegen die Atomenergie allgemein und die Verstrahlung durch den dreifachen GAU in Folge der Zerstörung des Akw Fukushima Daiichi im besonderen zu engagieren.

Koriyama hat rund 336.000 Einwohner. Aufgrund ihrer zentralen Lage bildet die Stadt einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt im Norden der Hauptinsel Honshu. Obwohl Koriyama eigentlich nicht in dem Gebiet liegt, in dem der meiste radioaktive Fallout heruntergekommen ist, wurde dort eine besonders hohe Rate an Schilddrüsenkrebs unter Heranwachsenden festgestellt. Darüber seien sie und ihre Kolleginnen, die in einer gelben Gewerkschaft sind, sehr besorgt, berichtete Kuraoka: "Man sagt, Koriyama sei nicht so stark radioaktiv kontaminiert, aber es gibt hier mehr Fälle von Schilddrüsenkrebs als in den direkt verseuchten Gebieten. Das ist merkwürdig." Die dauernde Beschäftigung in einer verstrahlten Umgebung halten sie und ihre Kolleginnen für sehr schädlich.


Blick auf Koriyama mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund - Foto: BehBeh, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en] via Wikimedia Commons

Koriyama, 21. März 2009
"Die Stadt wurde zwar dekontaminiert, man hat die Oberflächen abgeschrubbt und die Erde abgetragen. Aber wenn es regnet oder windig ist, kommt die Radioaktivität von den Bergen. Deswegen ist die Dekontaminierung in den meisten Fällen zwecklos. Meiner Meinung nach wäre eine Evakuierung die beste Lösung."
(Nobua Manabe, 7. September 2016, Hamburg)
Foto: BehBeh, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en] via Wikimedia Commons

Am 1. April 1987 wurde die japanische Staatsbahn zerschlagen und privatisiert. Alle Verkäufer und Verkäuferinnen der Kioske wurden fortan nicht mehr regulär, sondern irregulär beschäftigt. Viele Mitglieder der aus Unternehmenssicht unbequemen Gewerkschaften Doro-Chiba und Doro-Mito wurden an die Kioske versetzt. Einige hatten es auf sich genommen, gerichtlich zu klagen, um beispielsweise wieder als Lokführer oder Wartungsarbeiter beschäftigt zu werden.

Die Spaltung der Arbeiterschaft war schon immer ein Mittel der Unternehmen, um ihre Interessen durchzusetzen. Das gilt offenbar auch für JR Group Company. Innerhalb der Gruppe der irregulär Beschäftigten an den Kiosken wird in zwei Gruppen unterschieden, schreibt Masami Kuraoka in einem Informationsblatt, das dem Schattenblick vorliegt. Der Arbeitsvertrag der Gruppe A erstreckt sich immer nur über ein halbes Jahr, der Vertrag der Gruppe T wird jedes Jahr erneuert, und diese Belegschaftsmitglieder erhalten auch Prämien. Nur Mitgliedern der Belegschaft T ist es erlaubt, sich der geschlossenen Retail-Gewerkschaft (Einzelhandelsgewerkschaft) anzuschließen. Diese gelbe Gewerkschaft kämpft jedoch überhaupt nicht gegen die niedrigen Löhne oder für bessere Arbeitsbedingungen.

Nach der Privatisierung wurden Stellen eingespart, so daß es inzwischen auf dem Bahnsteig kein eigentliches Bahnpersonal mehr gibt. Deshalb wenden sich die Fahrgäste, die Informationen zu dem Fahrplan, Umsteigemöglichkeiten, dem Weg zu den Toiletten, etc. benötigen, an die Kioskmitarbeiterinnen, für die das eine Mehrbelastung darstellt, die jedoch nicht entlohnt wird.

Der Arbeitgeber bestimmt die Höhe des Lohns, der von Verkäuferin zu Verkäuferin unterschiedlich ausfällt und im Durchschnitt mit 710 Yen (ca. 6,17 Euro) nur knapp über dem Mindestlohnniveau in der Präfektur Fukushima von 705 Yen (6,13 Euro) liegt. Untereinander werde kaum über die Lohnhöhe gesprochen, obgleich alle unzufrieden damit sind, sagt Kuraoka. Deshalb möchte sie erreichen, daß sich die Kioskbeschäftigten solidarisieren und gemeinsam für ihre Lohnforderungen starkmachen.

Es ist wichtig, daß es den Beschäftigten des havarierten Akw Fukushima Daiichi gelingt, eine eigene Gewerkschaft zu gründen, betonte die japanische Delegation. Das Vorhaben sei allerdings schwierig durchzuführen, weil die Arbeiter von Subunternehmen eingestellt wurden. Sollte sich bei einem Subunternehmen eine Gewerkschaft bilden, erhielte es keine Aufträge mehr. Eine gewerkschaftliche Organisierung in Fukushima-Daiichi könnte jedoch ein Musterbeispiel für andere Atomkraftwerke sein.

Mit welchen Kräften es eine Akw-Gewerkschaft möglicherweise zu tun bekommt, läßt sich ahnen, wenn man weiß, daß einige der Subunternehmen, die Leiharbeiter wiederum an andere Subunternehmen weiterreichen, von der japanischen Mafia, der Yakuza, kontrolliert werden. Darauf machte vor einiger Zeit der in New York lebende antikapitalistische, anarchistische Aktivist Sabu Kohso bei seinem Besuch in Berlin aufmerksam. [2]

Die japanischen Gewerkschafter berichteten, daß die Arbeiter des Akw Fukushima-Daiichi vorwiegend prekär beschäftigt und eine Art "Wegwerfarbeiter" sind. Sie können nur bis zu einem bestimmten Dosisgrenzwert in dem Akw-Komplex arbeiten, danach nicht mehr. Die Sozialversicherung und Renten seien überaus mäßig. Das verdeutlichten die Gewerkschafter am Beispiel der Fukushima Collaborativ Clinic, die von Deutschland aus unter anderem vom IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) unterstützt wird. Die Klinik wurde gegründet, um Schilddrüsenkrebs bei Kindern in Fukushima zu untersuchen. Aber es wendeten sich auch viele Akw-Arbeiter an diese Klinik, um eine kostenlose Diagnose in Anspruch zu nehmen. Ein weiterer Grund dürfte sein, daß die Akw-Beschäftigten der aus Spendengeldern aufgebauten, privaten Fukushima Collaborativ Clinic mehr Vertrauen entgegenbringen als staatlichen Gesundheitseinrichtungen.


Karte: Roulex_45. freigegeben als GNU-Lizenz für freie Dokumentation via Wikimedia Commons, bearbeitet von Schattenblick

Abschätzung der Dosen infolge externer Strahlung im ersten Jahr nach dem Unfall des Akw Fukushima Daiichi für die Bevölkerung innerhalb und außerhalb der Evakuierungszonen. Daten des französischen Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit, IRSN. (Quelle: tinyurl.com/3bx6j7x)
Diese Karte aus dem Jahr 2011 zeigt nicht die Strahlenbelastung, wie sie sich heute darstellt, aber gibt die Form der Fallout-Zone und eine gewisse Gewichtung der Strahlenexposition treffend wieder. (Die Stadt Koriyama ist schwarz unterstrichen.)
Karte: Roulex_45. freigegeben als GNU-Lizenz für freie Dokumentation via Wikimedia Commons, bearbeitet von Schattenblick

Die Eisenbahngewerkschaften Doro-Chiba, Doro-Mito und Doro-Fukushima befassen sich auch deshalb mit dem Thema Radioaktivität, weil ihre Mitglieder unmittelbar davon betroffen sind. Vor drei Jahren hat Doro-Mito verhindert, daß der hochverstrahlte Eisenbahnzug K544, der nach dem Erdbeben und Tsunami auf der Strecke stehengeblieben war, wieder eingesetzt wird. Die Strahlenbelastung wäre für die Arbeiter, das Bahnpersonal und am Ende auch der Passagiere viel zu hoch gewesen. Als sie von dem Streik Doro-Mitos erfuhren, weigerten sich auch junge Arbeiter der gelben Gewerkschaft JR Soren, den Zug zu fahren. [3]

Verhindert werden soll als nächstes die geplante Inbetriebnahme einer Eisenbahnstrecke in einem verstrahlten Gebiet nördlich des Akw-Standorts Fukushima-Daiichi. Die Regierung möchte trotz der hohen Strahlengefahr den Eindruck von Normalität erwecken und die direkte Schienenverbindung zwischen Tokio und der Stadt Sendai vollständig freigeben - nicht zuletzt, um die Menschen zu bewegen, sich wieder in der hochgradig verstrahlten Evakuierungszone anzusiedeln.

Bisher sind aber nur zehn Prozent der ursprünglichen Bevölkerung dem Aufruf gefolgt. Wer evakuiert wurde, erhält bislang von der Regierung Unterstützung. Nun werden diese Subventionen schrittweise abgeschafft, Ende nächsten Jahres gibt es gar kein Geld mehr. "Eine Rückkehr kommt überhaupt nicht in Frage. Die Regierung behauptet, daß viele Gebiete nicht mehr so gefährlich sind, aber das ist nicht die Wahrheit", erklärte Kuraoka, die beim Vortrag und anschließenden Gespräch mit dem Schattenblick teils in Englisch, teils in Japanisch sprach, was dann freundlicherweise von Nobua Manabe (Doro-Chiba) übersetzt wurde.

Doro-Mito wendet sich grundsätzlich gegen die Arbeit in verstrahlten Gebieten. Das sei im Interesse der Lokführer, Schaffner und des übrigen Eisenbahnpersonals, aber genauso auch im Interesse von Arbeitern anderer Branchen, beispielsweise Lehrerinnen oder Gemeindearbeitern. Darauf ist Doro-Mito besonders stolz, sagte Shinichi Tsujikawa, der erster Vorsitzender von Doro-Mito war und seit 40 Jahren bei der Bahn arbeitet.

Ein weiteres Beispiel gewerkschaftlicher Arbeit, bei der über den Tellerrand hinausgeschaut wird: Die Menschen in Fukushima dürfen nicht über die Gefährlichkeit der Radioaktivität sprechen, so Nobua Manabe, der damit auf den unmittelbaren Druck sowohl durch die Präfekturverwaltung als auch die japanische Regierung anspielt. Diese betrachteten jeden, der sich nicht an diese Maßgabe hält, als Volksverräter. Doro-Chiba sei klein, aber sie wende sich entschieden gegen solche Versuche und erhalte dafür aus der Bevölkerung Zuspruch. [4]

Wie der Schattenblick aus früheren Gesprächen erfahren hat, wird der Druck von oben oftmals gar nicht auf direktem Weg, sondern auf "sanfte" Art ausgeübt. Tomoyuki Takada, der in Tokio geboren wurde, Mitglied der Partei der Grünen in Japan ist und seit über dreißig Jahren in Deutschland lebt, schilderte den Fall eines befreundeten Redakteurs, der, nachdem zuvor hinter vorgehaltener Hand über ihn geredet wurde, schließlich in die Verwaltung der Bibliothek versetzt worden war. Der Freund hatte den "Fehler" begangen, wegen der Strahlengefahr für seine Familie aus Fukushima in eine andere Stadt zu ziehen, die nur 50 Kilometer entfernt liegt. Obwohl der Freund die Strecke seitdem täglich mit dem Auto zurückgelegt hat, habe sich bei der Zeitung immer mehr Druck gegen ihn aufgebaut, der schließlich zur Versetzung führte.

Bei den Fernsehsendern, die eng mit der Stromindustrie verbunden sind, war es ähnlich. Kritische Berichterstatter mehrerer TV-Sender mußten "von sich aus" aufhören, "weil der Programmdirektor zur Unterabteilung gegangen ist, dessen Leiter das an seine Mitarbeiter weitergeben hat, und so weiter", berichtete Takada. "Wir sagen dazu, daß einem mit einem Baumwolltuch Stückchen für Stückchen die Kehle enger zugeschnürt wird." [5]

Japan war vorübergehend vollkommen atomstromfrei. Inzwischen sind wieder drei Reaktoren in Betrieb, und der japanische Premierminister Shinzo Abe von der LDP (Liberaldemokratische Partei) will nach und nach mehrere Dutzend Akws hochfahren lassen, um ihren Anteil an der elektrischen Stromversorgung auf 20 bis 22 Prozent zu erhöhen. Das wird von Doro-Fukushima und den anderen kämpferischen Gewerkschaften entschieden abgelehnt. Die japanischen Delegierten hegen aber auch Mißtrauen gegenüber dem früheren japanischen Premierminister Naoto Kan, obwohl er sich heute gegen die Atomenergie ausspricht. Kuraoka, die auch für den Newsletter der Fukushima Collaborative Clinic schreibt, berichtete: "Als Kan Premierminister war, hat er den Export von Akws mit aller Kraft forciert. Beispielsweise in die Türkei."

Wie bereits erwähnt, wurde die Fukushima Collaborative Clinic vor einigen Jahren mit Hilfe privater Spendengelder eingerichtet, nachdem sich herausstellte, daß die Regierung keinen Wert darauf gelegt hat, daß die Menschen vor der radioaktiven Strahlung geschützt und so schnell wie möglich und gründlich wie nötig medizinisch untersucht werden. Besonders die Schilddrüsen von Kindern und Jugendlichen sind gefährdet, weil sich dort radioaktives Jod aus dem Fallout anlagern und Krebs auslösen kann. Reihenuntersuchungen bei über 300.000 Heranwachsenden in der Präfektur Fukushima haben einen 20- bis 50fachen Anstieg der Schilddrüsenkrebsrate gegenüber den Daten des Nationalen Krebsregisters gezeigt, fand der Epidemiologe Prof. Toshihide Tsuda von der Okayama University heraus. Diese enorme Steigerung könne nicht mit einem Screening-Effekt erklärt werden, so Prof. Tsuda gegenüber dem Schattenblick. [6]


Beim Interview - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Bei Tschernobyl war es so, daß man um den zerstörten Reaktor einen Sarkophag gebaut und dadurch die radioaktiven Emissionen einigermaßen eingedämmt hat. Aber von Fukushima breiten sich radioaktive Emissionen sowie kontaminiertes Grund- und Kühlwasser immer weiter aus. Auch kann man noch nicht die abgebrannten Brennstäbe aus den Reaktoren 1 bis 3 herausholen. Es gibt so viele Aufgaben, die eigentlich noch ganz schnell erledigt werden müßten, wofür dann noch mehr Arbeiter gebraucht werden. Mir ist nicht bekannt, ob die Gesundheitsdaten von diesen Reaktorarbeitern überhaupt gesammelt werden."
(Prof. Dr. Toshihide Tsuda, 27. Februar 2016, Berlin)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Er wendet sich damit gegen die Kritik an seiner Studie, die in einem peer-reviewten Fachblatt erschienen ist. Ohne an dieser Stelle näher auf die Expertendiskussion über statistische Methoden eingehen zu wollen, sei hierzu angemerkt, daß Mißtrauen gegenüber den offiziellen Verlautbarungen berechtigt ist, denn die japanische Regierung und die Akw-Betreibergesellschaft Tepco haben die Bevölkerung falsch informiert, mit nebensächlichen Informationen von wichtigeren Fragen abgelenkt oder ihr relevante Informationen verschwiegen. Und das alles nicht nur einmal, sondern wiederholt.

Prominentestes Beispiel dafür ist die Behauptung von Premierminister Shinzo Abe, die Nuklearhavarie von Fukushima sei unter Kontrolle. Später, als Tokio den Zuschlag zur Austragung der Olympischen Spiele 2020 erhalten hat, mußte Abe einen Rückzieher von seiner Behauptung machen. Nach wie vor fließen Tag für Tag rund 400 Tonnen radioaktives Grundwasser vom Gelände des Akw Fukushima Daiichi ins Meer, die Kernschmelzbereiche von drei Reaktoren sind selbst für robotische Geräte unzugänglich und weite Landstriche bleiben radioaktiv verstrahlt. Das alles hielt Abe nicht davon ab, bei der Abschlußfeier der Olympischen Spiele in Brasilien recht medienwirksam den Super-Mario zu geben, einen Klempner aus einem Nintendo-Computerspiel, der für alle Probleme eine geniale Lösung hat.

Abe hat zwar schon mal das havarierte Akw Fukushima Daiichi besucht, doch die Strahlenbelastung von Arbeiterinnen und Arbeitern, die permanent viel stärkeren radioaktiven Quellen ausgesetzt sind als der Premierminister während einer Stippvisite, ist lebensgefährlich hoch. Deshalb wurden schon viele tausend Liquidatoren nach Erreichen ihrer zulässigen persönlichen Strahlendosis entlassen. Vermutlich wird man in einigen Jahren offiziell feststellen, daß die Strahlenwirkung stärker war als angenommen und die Berufsgruppe der japanischen Liquidatoren eine überdurchschnittlich hohe Krebsrate aufweist. Aber Super-Mario hat ja für alles eine Lösung, also auch für diesen Fall. Bestimmt läßt sich rechtzeitig eine Studie in Auftrag geben, in der herausgefunden wird, daß auch andere Faktoren als die radioaktive Strahlung zu den höheren Krebsraten geführt haben könnten.

Die Doro-Fukushima-Gründerin Masami Kuraoka aus Koriyama und ihre Kollegen aus den Gewerkschaften Doro-Chiba und Doro-Mito stellen sich aus gutem Grund gegen Militarisierung und die Nutzung der Atomenergie. Sie trauen Shinzo Abe nicht, und ohne daß es an diesem informativen 144. Jour Fixe im Curiohaus eigens angesprochen worden wäre, sind sie sich im klaren darüber, daß Abes Neuinterpretation der eigentlich strikt defensiv ausgerichteten Verfassung darauf hinauslaufen könnte, daß sich Japan künftig wieder an Angriffskriegen beteiligt und dabei selbst der Einsatz von Atomwaffen nicht mehr ausgeschlossen wird. Das Land verfügt über die Mittel und das Know-how, um binnen weniger Monate Atombomben zu bauen. Die japanischen Eisenbahngewerkschafter jedenfalls haben vor, sich in Zukunft gegen den Transport von Waffen zu wenden.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt in Deutschland unter anderem die Organisation SAND (Systemoppositionelle Atomkraft Nein Danke) [7], die Atomtransporte durch den Hamburger Hafen registriert und mit Protesten, Demonstrationen und Blockaden darauf aufmerksam macht, daß Deutschland aus der Atomenergie ausgestiegen ist, aber fast täglich Atomtransporte über den Hafen abgewickelt werden.


Abe auf einem Podest, mit der roten Super-Mario-Mütze das Publikum grüßend - Foto: Fernando Frazão/Agência Brasil, freigegeben als CC-BY-3.0-BR [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/br/deed.en] via Wikimedia Commons

21. August 2016: Japans Premierminister Shinzo Abe verkleidet sich als Super-Mario. Welche Masken setzt er wohl auf, wenn aus dem Spiel Ernst wird und er die Militarisierung und Nuklearisierung Japans vorantreiben möchte?
Foto: Fernando Frazão/Agência Brasil, freigegeben als CC-BY-3.0-BR [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/br/deed.en] via Wikimedia Commons


Fußnoten:


[1] https://www.bfs.de/DE/themen/ion/strahlenschutz/grenzwerte/grenzwerte.html

[2] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0065.html

[3] http://www.doro-chiba.org/english/dc_en13/Doro-ChibaQR_052.pdf

[4] Zu den Maßnahmen, die das Schweigen über die Fukushima-Katastrophe unterlaufen, zählt die Veröffentlichung des mehrmals im Jahr erscheinenden "Quake Reports" Doro-Chibas:
http://www.doro-chiba.org/english/english2.htm

[5] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

[6] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

[7] https://sand.blackblogs.org/

Zum 144. Jour Fixe am 7. September 2016 in Hamburg ist bisher unter INFOPPOL → POLITIK → REPORT erschienen:
BERICHT/243: Mikroinitiative Gewerkschaftsbasen - Nadelstiche ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0243.html


19. September 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang